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Soziologie Editorial Europäisierung - Soziologie für das 21. Jahrhundert Bildung, Kultur und elementare soziale Prozesse Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften Soziologie - Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft Das Unbehagen an derGesellschaft

Soziologie - Gegenwart und Zukunft einer Wissenschaft

Sascha Liebermann Sascha Liebermann · Thomas Loer

/ 17 Minuten zu lesen

Soziologie ist eine Wissenschaft, ihr Zweck Erkenntnis, ihr Medium Argumentation, ihr Ferment Kritik. Neugierige Studenten werden nur gewonnen, wenn diese Prinzipien in Forschung und Lehre lebendig sind. Wo sie aufgegeben werden, droht ihr Untergang als Wissenschaft und damit der Universität.

Einleitung

Seit einigen Jahren werden wieder einmal Anstrengungen unternommen, die deutsche Universität zu reformieren. Den Bemühungen sind Diskussionen über Sinn und Zweck von Wissenschaft und entsprechende Beschlüsse auf nationaler und transnationaler Ebene vorausgegangen. Dem muss sich auch die Soziologie stellen, ebenso der Frage nach dem Zweck der Universität. Das Nachdenken über die Lage der Soziologie lässt auch Schlüsse über die gegenwärtige Situation und Zukunft der Universität und damit auch über die der Wissenschaft zu. Denn bei allen Unterschieden hinsichtlich des Gegenstands der Forschung und der Methoden eint alle Disziplinen - sozialwissensschaftliche wie naturwissenschaftliche - eines: Wissenschaft zu sein. Sie dienen dem Erkenntnisgewinn und sind der Logik des besseren Argumentes verpflichtet.

Angesichts der Reformvorhaben und der bereits durchgeführten Reformen hat es zwar Kritik an politischen Entscheidungen - wie sie etwa in den Stellungnahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zum Ausdruck kommt -, aber kaum Protest gegeben. Dieser ist selbst in den Universitäten gering geblieben. Von einer Formierung zum Widerstand kann schon gar nicht die Rede sein, auch wenn in jüngerer Zeit die Stimmen derer lauter geworden sind, welche die Möglichkeit von Wissenschaft durch die Reformen in Frage gestellt sehen. Die Umgestaltung der Universität stößt zwar nicht auf große Gegenliebe, aber Alternativen wurden in der Fachöffentlichkeit kaum erörtert. Ein starker Gegenvorschlag von Seiten der Universitäten liegt nicht vor. Statt die Folgen von Juniorprofessuren, von denen Großes erwartet wird, und von Bachelor (BA)/Magister(MA)-Studiengängen überhaupt erst einmal zu diskutieren, sind diese schon eingeführt worden. "Modernisierung" lautet das Schlagwort, mit dem alter, nicht mehr zeitgemäßer Geist vertrieben werden soll. Doch schüttet man das Kind nicht mit dem Bade aus? Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was eine Wissenschaft zur Wissenschaft macht, wovon sie lebt und woran sie zugrunde gehen kann.

Wissenschaft durch Kritik

Zum Kern von Wissenschaft gehört Kritik, die keine Tabus kennt. Sie ist der Lebensquell einer jeden Wissenschaft. Es gilt, Schlussfolgerungen transparent zu machen sowie plausible Argumente auf ihre Geltungsbasis hin zu überprüfen. Kritik erfordert und ermöglicht, Distanz zu praktischen Urteilen und Vorlieben zu nehmen, zu lieb gewonnenen Thesen.

Kritik ist kein Privileg der Soziologie oder der Geisteswissenschaften, sondern macht jede Wissenschaft im Innersten aus. Wissenschaft tritt immer mit Verallgemeinerungsanspruch auf, interessiert sich in erster Linie für das Allgemeine, das sie auch im Besonderen sucht. Aber jedes Besondere, das die Geltung des Allgemeinen in Frage stellt, reicht aus, um eine Theorie zum Einsturz zu bringen. Wir können im strengen Sinne sagen: Wo keine Kritik erfolgt, da ist auch keine Wissenschaft, dort erfolgt keine Überprüfung von Schlussfolgerungen und Theorien. Kritik steht also im Zentrum der Soziologie als Wissenschaft; dazu gehört sowohl die methodische Kritik von Alltagswissen, als auch die von wissenschaftlichen Annahmen, Überzeugungen und Erklärungsmodellen.

Wie ist es um diese unerlässliche Kritik bestellt? Sie sollte nicht nur in wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch auf Tagungen möglich sein. Das Zeitregime solcher Veranstaltungen ist jedoch sehr rigide. Lassen schon Vorträge von zwanzig Minuten kaum Spielraum, ein Problem angemessen darzulegen, so verhindern Diskussionszeiten von zehn, gar nur fünf Minuten eine Auseinandersetzung mit einer Forschungsfrage vollends. Dabei könnte kollegiale Kritik sich zum Wohle des Fortschritts der Wissenschaft entfalten. Sie macht es zudem auch dem interessierten Laien möglich, sich am wissenschaftlichen Streit zu beteiligen, wodurch er wie selbstverständlich auf die Logik des Arguments verpflichtet wird. Wenn die Kollegialität lebendig ist, bedarf es zur Einhaltung wissenschaftlicher Regeln auch keiner aufwendigen Kontrollen und Evaluationen.

Wird auf Tagungen diese Kultur der Kritik nicht mehr gepflegt, geraten sie in Gefahr, sich in Instrumente einer "Karrierepolitik" zu verwandeln: zur Plattform für Auftritte, um bekannt zu werden. Dies hat eine gewisse Beliebigkeit befördert: Der Verpflichtung zur Kritik wird etwa mit dem Hinweis ausgewichen, man gehöre einer anderen Schule an. Die Logik des Arguments, die für die Wissenschaft der bed-rock ist - der harte Grund auf dem sie ruht und in dem sie sich entfaltet -, wird geschwächt. Doch allein diese Logik schützt vor der Abwehr von Argumenten, die mit Berufung auf Hierarchien oder Statuspositionen Fragen bereits im Keim erstickt. Nur ein ausgeführtes Argument macht seine eigene Geltungsbasis transparent, fordert dazu auf, diese zu prüfen. Wer argumentiert, macht sich angreifbar, denn er unterwirft sich einem Maßstab: der Stimmigkeit eines Arguments und seiner Angemessenheit an die Sache. Unvoreingenommene Kritik ist also das Gegenstück zur Logik des Arguments; sie fordert Argumentation ein.

Unabdingbar gehört zur Kritik auch die Aufgeschlossenheit für Vermutungen, die Bereitschaft dazu, müßig dem Erkunden des Unbekannten nachzugehen. Dort, wo ein Argument erst im Entstehen begriffen ist, muss es mäeutisch, "geburtshelferisch" also, gefördert werden. Erst so erhält es die Chance, sich zu einem tragfähigen Argument zu entwickeln, das dann wieder in der Kritik bestehen muss.

Forschung und Lehre

Wenn Argumentation und Kritik die Kernbestandteile der Logik von Wissenschaft im Allgemeinen sind, wie ist es dann vor diesem Hintergrund um die organisatorischen Ausformungen von Wissenschaft in den deutschen Universitäten bestellt?

Die Verfasstheit der Soziologie an der Universität bemisst sich wesentlich daran, ob Forschung und Lehre miteinander in ständigem Austausch stehen. Streit in der Logik des Arguments ist ja nur dort möglich, wo es einen Gegenstand gibt, an dem dieser sich entspinnt, der auch Gradmesser für die Angemessenheit der Argumente ist. Methodische Kritik muss explizit, geregelt und nachvollziehbar erfolgen. Methoden, für eine Wissenschaft unerlässlich, sind ja nichts anderes als der Weg zum Gegenstand.

Soll mittels einer Methode ein Gegenstand analysiert werden, muss sie sich nach diesem richten, dessen Struktur folgen. Diese Rückbindung an den Gegenstand erlaubt ein Urteil darüber, ob eine Methode angemessen ist. Methoden können schon aus diesem Grunde nicht unabhängig von dem gelehrt werden, was sie analysieren sollen. Ihre Verbindung zur Forschung muss in der Lehre deutlich werden, da sonst auf die Vermittlung von Ergebnissen reduziert wird.

Es hat sich ein Verständnis von Methoden ausgebreitet, das diese als Werkzeuge begreift; das Streben nach einer Anwendungsorientierung der Soziologie mag hierzu seinen Beitrag ebenso geleistet haben wie der Hang zum Pluralismus in der Wissenschaft. Die Soziologie begreift sich immer weniger als Wissenschaft. Stattdessen versucht sie durch Verweis auf ihren Nutzen zu zeigen, dass sie zu Recht alimentiert wird. Wissenschaft als Wissenschaft wird aber unabhängig davon betrieben, ob sie einen unmittelbar verwertbaren Zweck hat. Alimentiert wird sie, damit sie von den Anforderungen der Praxis unabhängig ist und diese Freiheit zur Gewinnung von Erkenntnis nutzen kann. Je radikaler sie das tut, desto mehr wird die Gemeinschaft von ihr haben, und zwar in Gestalt von Erkenntnissen, die rezipiert werden können. Dies kann und muss Studenten dadurch erfahrbar gemacht werden, dass sie schon in der Lehre an der Forschung teilhaben, dass sie lebendig und nachhaltig zum Mit- und Nach-Denken bewegt werden.

Die Soziologie ist zuallererst ein wissenschaftliches Studium, das diejenigen Studenten anziehen und fördern muss, die diesem Zweck zu folgen bereit sind. Es bedarf jener Studenten, die sich gern auf etwas Unbekanntes einlassen, dessen Ausgang sie naturgemäß nicht überschauen können. Dementsprechend gilt es, auch in den Lehrveranstaltungen Neugierde und Offenheit für Unbekanntes zu fördern. Sie müssen die Erfahrung ermöglichen, ein Handlungsproblem zu rekonstruieren und an ihm die Erklärungskraft einer Theorie zu ermessen. Aneignung von Theorien muss mehr sein als ein Auswendiglernen von Konzepten und Sprachspielen. Dies ist nur möglich, wenn das Handlungsproblem, das sie aufschließen wollen, unvoreingenommen expliziert wird.

Studium als Krise, Lehre als ihre Ermöglichung

Das Studium einer Wissenschaft ist grundlegend krisenhaft, da die Bereitschaft zur Infragestellung bewährter Überzeugungen erworben werden muss. Die Routinen der Praxis, selbstverständliche Deutungen der Welt auf Distanz zu bringen und ihre Strukturlogik zu rekonstruieren, ist mühselig. Am Ende des Studiums müssen die Studenten als Soziologen in der Lage sein, diese Haltung wie selbstverständlich einzunehmen, wenn es um die aufschließende Erkenntnis von Sozialgebilden geht. Das Studium der Soziologie besteht nicht in der "Wissensvermittlung" oder dem Aneignen eines "Stoffs", der schon fertig vorliegt. Weil die Überzeugungen, die einen Wissenschaftler in der Praxis leiten, auf Distanz gebracht werden müssen, stellt es sich eher als eine dauerhafte Krise dar. Was als bekannt gilt, ist damit noch nicht erkannt, wie Hegel es formulierte, im Erkennen aber besteht der Zweck der Wissenschaft. Dafür - um das Erkennen einzuüben - ist die Haltung, in der das geschieht, entscheidend, nicht der Gegenstand, an dem dies geschieht.

Diese Erfahrung zu vermitteln, Erklärungsprobleme lebendig zur Anschauung zu bringen, vermag nur jemand, der selbst forscht. Forschungserfahrung erlaubt es, Erklärungsprobleme als solche zu erkennen und zu entfalten, nur sie erlaubt es, den Stellenwert von innerdisziplinären Diskussionen einzuschätzen, aufschlussreiche von abwegigen zu unterscheiden. Gerade die das Studium konstituierende Offenheit ist also eingebunden in eine Asymmetrie, auf welcher der Lehrende beharren muss. Angesichts der Bestrebungen, Evaluationen von Lehrveranstaltungen durch Studenten durchzuführen und das Gelingen einer Veranstaltung an ihr Urteil zu binden, muss auf diese Voraussetzungen von Forschung und Lehre hingewiesen werden. Denn da sich demgemäß eine Evaluation der Lehre durch die Studenten nun nicht auf die Inhalte beziehen kann, bleibt nur die Präsentation als solche zur Bewertung übrig.

Dem fügt sich die Tendenz, die Präsentation, die vermittelnde Technik von der Sache abzulösen, was einer Verselbständigung der Routine gegenüber der notwendigen Krise im Studium gleichkommt: Die Präsentation tritt an die Stelle der Sache. Ein kollegialer kritischer Erfahrungsaustausch der Lehrenden in den Abteilungen und Instituten der Universitäten könnte demgegenüber eine sinnvolle "Evaluation" darstellen, welche die Lehre im ausgeführten Sinne fördert.

Da die Lebendigkeit der Lehre von der Forschungserfahrung des Dozenten abhängt, wird eine Teilhabe an Forschung seit einiger Zeit in so genannten Lehrforschungsprojekten angestrebt. Die Bezeichnung verweist schon auf Schwierigkeiten, wird doch ein Lehrforschungsprojekt im Rahmen einer Lehrveranstaltung durchgeführt. Dies erfordert, die Forschungsfrage so zuzuschneiden, dass sie im Laufe von ein bis zwei Semestern auch bearbeitet werden kann. Es ist jedoch in keiner Weise abzusehen, wann eine Forschungsfrage soweit bearbeitet ist, dass tragfähige Erkenntnisse vorliegen werden. Vor diesem Problem stehen auch alle Forschungsprojekte, die zeitlich befristet gefördert werden: die Drittmittelprojekte. Lehrforschungsprojekte sind also ein von vornherein eingeschränktes Modell von Forschung, wird dabei doch nicht die Erfahrung gemacht, dass genuine Forschung davon lebt, Problemen und Fragen unbefristet, müßig nachzuspüren. Diese Offenheit und Unabgeschlossenheit des Forschens wird für die Studenten also nur noch dort authentisch erfahrbar, wo die eigene Forschung des Lehrenden in der Lehre durchscheint.

Studienabbruch - Versagen oder Erfolg?

Ein gewichtiges Ziel der Universitätsreform wird u.a. darin gesehen, die Zahl der Studienabbrecher zu verringern. Dass eine große Zahl von Studenten sich nicht aus Neugierde und Erkundungsgeist für einen Studienplatz bewirbt, ist kein Geheimnis. Wer sich für das Studienfach Soziologie entscheidet, muss jedoch eine besonders große Bereitschaft besitzen, sich auf das Unerwartete einzulassen. In einer lebendigen Universität erfährt man dies schon im ersten Semester: als Verantwortungszumutung, als Appell, Argumente nicht auswendig zu lernen - wenn dies überhaupt möglich ist -, sondern sie zu begreifen. Selbständigkeit ist eine der wesentlichen Zumutungen des Studiums, sie wird von ausländischen Studenten am deutschen Studiensystem besonders geschätzt. Geht man realistisch davon aus, dass nur wenige Studenten aus Neugierde und echtem Interesse ein Studium aufnehmen, ein größerer Teil sich über die eigenen Interessen nicht im Klaren ist und ein ebenso großer Teil mit der Entscheidung für das Studium zum einen lebenspraktischen Entscheidungen ausweicht, zum anderen vor einem unsicheren Arbeitsmarkt flüchtet, haben wir schon ein transparentes Zusammenspiel verschiedener Momente, die für den Studienabbruch relevant sind.

Die Bachelor-Abschlüsse sollen dieser Entwicklung entgegenwirken. Denjenigen, die ihr Studium abbrechen, weil sie erkannt haben, dass es für sie nicht das Richtige ist, wird damit allerdings nahe gelegt, doch weiterzumachen: bis zum Bachelor. Wenn Studienabbrüche primär als Problem und Ergebnis schlechter universitärer Studienorganisation gesehen werden, hat das vor allem damit zu tun, dass Erfolge einer Universität heute in Absolventenzahlen gemessen werden.

Scheitern - und das bedeutet ein Studienabbruch - ist immer auch desillusionierend und damit befreiend. In den Reformbemühungen hingegen schlägt sich Angst vor allem Scheitern nieder: Was nicht zertifiziert ist, gilt nichts. Als verbürge ein Zertifikat irgendeinen beruflichen Erfolg insbesondere in Zeiten, in denen der Arbeitsmarkt unsicherer ist als jemals zuvor. Diese engstirnige, ängstliche Vorstellung von Sicherheit, deren Kehrseite immer auch Kontrolle ist, hat beträchtliche Folgen für die Universität. Der Bachelor soll, grotesk genug, sowohl berufsvorbereitend als auch generalistisch sein. Dass das ein Widerspruch in sich ist, ist schon manchen aufgefallen, hat aber keine Konsequenzen gezeitigt. Die Orientierung an einer Berufsvorbereitung, welche die Universität mit einem Soziologiestudium ohne klinischen Anteil ohnehin nicht leisten kann, wird eine Verschulung nach sich ziehen, wie sich bereits im Bestreben zur Modularisierung zeigt. Wenn sie überhaupt mehr bedeuten soll, als jenes, was in gegenwärtigen Studienordnungen schon zu finden ist, läuft sie auf Folgendes hinaus: Die Qualität einer Lehrveranstaltung wird dadurch von der Person des Dozenten abgelöst, obwohl sie doch wesentlich von dessen Fähigkeit und nicht von den "Inhalten" abhängig ist, die in den Modulen verhandelt werden. Eine Loslösung der Inhalte von der Durchführung - die Kehrseite der Loslösung der Methode von der Sache - ist ein weiterer Schritt zur Verschulung, und das heißt in letzter Konsequenz: zur bloßen Wissensvermittlung. Die eigenständige Rekonstruktion und Entfaltung von Erklärungsproblemen wird dadurch nicht gefördert. Ein Studium, in dem es bloß um den Erwerb von Wissen geht, wird weder zum Hervorbringen von Erkenntnis noch zur Erzeugung praktisch bedeutsamer Problemlösungen beitragen - es läuft auf Erkenntnisverwaltung hinaus.

Darüber hinaus schwächen die Bachelor-Studiengänge die Disziplinen, da diese zu Einzellieferanten für Studiengänge herabgestuft und disziplininterne Auseinandersetzungen um Sinn und Unsinn des Bachelors unterlaufen werden. Soziologieabteilungen, die Nebenfachangebote für andere Studiengänge unterhalten, sind heute schon in ihrer Eigenständigkeit geschwächt. Das Existenzrecht der Nebenfachsoziologie ist nicht selten umstritten, und wie verteidigt sie sich? Mit dem verzweifelten und ohnmächtigen Hinweis auf die Unerlässlichkeit soziologischen Wissens in anderen Wissenschaften - um sich ihnen zugleich anzupassen.

Soziologie und Öffentlichkeit

Wir haben bislang dargelegt, was eine Wissenschaft und damit auch die Soziologie zu einer starken wissenschaftlichen Disziplin an der Universität macht, dass Lehre von unvoreingenommener Forschung lebt und welche Missstände teils schon anzutreffen sind, teils durch Reformen verschärft werden. Damit sollte nicht suggeriert werden, die Soziologie trage für diese Lage keine Verantwortung, und auch nicht, dass sie sich vor allem durch Hilfe von außen erneuern könne. Die Selbstverwaltung der Wissenschaft muss sich auf die Wissenschaft von innen heraus gründen, denn nur Forscher können beurteilen, welches die unerlässlichen Bedingungen für eine florierende Forschungslandschaft sind. Das macht es erforderlich, auf einen anderen Aspekt des Forschens einzugehen: die mit ihm notwendig verbundene Abstinenz von Praxis und in der Folge das Verhältnis von Soziologie und Öffentlichkeit.

Unter Soziologen wird immer wieder aufs Neue diskutiert, wie die Soziologie mehr Resonanz in und mehr Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit erhalten könne. Zufrieden wird darüber berichtet, welche Resonanz sie entgegen manchen Vorurteilen erhält, woraus geschlossen wird, sie sei für das Laienpublikum attraktiver geworden. Doch ist es die Aufgabe der Wissenschaft, sich attraktiv zu machen? Fragen, die öffentlich diskutiert werden, sind deswegen nicht per se auch forschungsrelevant.

Wissenschaft wird von der Gesellschaft alimentiert, damit sie sich dem Erkenntnisfortschritt widmet. Dies geschieht, damit sie sich von der Praxis zurückziehen kann und auf eine Verwertung nicht angewiesen ist: Sie erhält dadurch einen Schutzraum, der sie von Fragen der Anwendung und Nutzung befreit. So betrachtet, ist der so genannte Elfenbeinturm - die ausschließlich "um ihrer selbst willen betriebene Wissenschaft" - eine Notwendigkeit. Das bedeutet keineswegs, dass Wissenschaftler sich Expertisen verweigern sollten. Doch wo sie als Experten Stellung nehmen, haben sie sich einer Antwort auf die Frage, wie die Welt sein soll, zu verweigern, denn diese ist politischer Natur. Dazu können sie als Bürger oder Bürgerinnen Stellung nehmen und als Intellektuelle in der Öffentlichkeit kämpfen. Als Wissenschaftler müssen sie sich einer solchen Stellungnahme enthalten, denn aus der Erkenntnis des Allgemeinen lässt sich kein Besonderes, keine Notwendigkeit ableiten.

Die Kehrseite der Zurückhaltung der Wissenschaftler, praktische Urteile zu fällen, ist ein radikales Engagement als Bürger oder Bürgerin, für das der soziologische Fachverstand hilfreich sein kann, aber nicht notwendig ist. Allzu häufig lässt sich etwa in Fernsehsendungen erfahren, wie Experten diese Grenze überschreiten und auf Basis ihrer Expertise z.B. politischen Parteien raten, welche Themen sie aufgreifen sollten, wie sie agieren müssten, um die Bürger für sich zu gewinnen.

An solchen Grenzüberschreitungen hat es auch in der Soziologie nicht gemangelt. Den an die Soziologie gerichteten Forderungen und den an sie angelegten Maßstäben ist man nicht souverän entgegengetreten. Mittlerweile wird es als Erfolg gefeiert, durch das Aufgreifen öffentlicher Themen für Kongresse und Tagungen Medienresonanz zu erreichen. Als seien diese Debatten per se ein Ausweis der Sachhaltigkeit und vor allem: des state of the art. Die Soziologie wird langfristig nur dann stark sein, wenn sie sich einerseits radikal dem Forschen widmet und sich nicht anmaßt, über die Richtigkeit praktischer Entscheidungen zu befinden. Andererseits kann sie an Stärke gewinnen, wo Expertisen angefragt werden, wenn sie sich in den Dienst der Praxis stellt, ohne sie zu bevormunden. Dann wäre sie auch in der Lage, die Freiheit der Forschung und deren Eigenlogik zu verteidigen, was in der Vergangenheit - vor allem im Hinblick auf die Universitätsreform - nicht genügend geschehen ist. Wären Reformvorschläge in eigener Sache aus der Soziologie heraus entwickelt worden, würde die gegenwärtige Reformdiskussion möglicherweise anders aussehen.

Die Zahl derer, die an der Seriosität der Soziologie zweifeln, ist groß. Beschwörungsformeln, Appelle und Aufrufe, mit denen die gesellschaftliche Bedeutung der Soziologie gepriesen wird, werden jedoch solange verhallen, wie sich diese nicht auf Forschung, Lehre und Expertise konzentriert und beschränkt. Von der Hoffnung, irgendwie aufklärerisch zu wirken, muss sie sich verabschieden, wenn sie als Wissenschaft ernst genommen werden will. Dann werden sich auch mehr Wissenschaftsjournalisten für die Forschung interessieren, darüber gut informiert berichten und einem interessierten Laienpublikum die Erkenntnisse soziologischer Forschung nahe bringen - so dass sich die Bürgerinnen und Bürger dieser Erkenntnisse in eigener Entscheidung bedienen können und die Gemeinschaft ein Interesse daran entwickelt, eine unabhängige Soziologie als Wissenschaft zu fordern und zu fördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für Kritik und Anmerkungen danken wir Ute Fischer (Dortmund), Christel Gärtner und Lorenz Rumpf (Frankfurt) sowie Stefan Heckel (Rösrath).

    Auf dem 32. deutschen Soziologentag im Oktober 2004 in München fand eine Podiumsdiskussion mit Hartmut Esser und Ulrich Oevermann zu den in diesem Beitrag behandelten Fragen statt. Eine frühere Fassung diente zur Vorbereitung der Diskussion, vgl. Sascha Liebermann/Thomas Loer, Zum Selbstverständnis der Soziologie als Wissenschaft. Anmerkungen zu ihrer Schwäche und Überlegungen zu ihrer Stärkung, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Gleichheit - kulturelle Unterschiede, Frankfurt/M. 2005 (i.E.).

  2. Vgl. z.B. Jürgen Mittelstraß, Universität und Universalität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.1. 2004, S. 8; Ulrich Oevermann, Wissenschaft als Beruf, in: die hochschule. journal für wissenschaft und bildung, Heft 1, Halle-Wittenberg 2005, S.15-51; Deutscher Hochschulverband, Organisation und Leitung der Universität - Positionspapier des Deutschen Hochschulverbandes, November 2003; Wissenschaftsrat, Empfehlungen zu einem Wissenschaftstarifvertrag und zur Beschäftigung wissenschaftlicher Mitarbeiter, 30.1. 2004; Peter J. Brenner, Die Idee der Universität. Eine Streitschrift, in: Universitas, 59 (2004) 4, S. 377 - 391; Arnd Morkel, Die Universität muß sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Darmstadt 2000.

  3. Die Notwendigkeit hierzu hat schon A. Morkel (Anm. 2) sinnfällig im Titel seines Buches zum Ausdruck gebracht. Darin erkennt er zweierlei an: Selbstverständlich ist es die Politik, die Reformen eröffnen muss. Doch gute Reformen leben davon, dass Problemlagen klar artikuliert werden, dass aber zugleich der Sache abträgliche Reformen benannt und verhindert werden. Dies muss aus den Universitäten selbst heraus geschehen, denn nur wer forscht und lehrt, kann deren Probleme bestimmen und Lösungen entwerfen.

  4. Dirk Kaesler erhebt nicht nur diesen Anspruch, er leitet daraus auch einen Auftrag ab, wenn er schreibt: "Diese Wissenschaft, dem Projekt Aufklärung verpflichtet, will dazu beitragen, den Menschen informierte Einsicht in ihre gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu vermitteln und ihnen dadurch die Möglichkeit zu eröffnen, sich gegen ihre Entmündigung durch über-individuelle Zusammenhänge zu wehren." Vgl. Dirk Kaesler, Perspektiven einer zukünftigen Soziologie, in: Soziologie, 32 (2003) 3, S. 6 - 14, hier: S. 8. Den Zweck der Wissenschaft darin zu erkennen erhebt sie zu einem Helfer der Praxis, der sie so nicht sein kann. Kaesler vermengt damit die Aufgabe von Wissenschaft mit der des in die politische Öffentlichkeit hineinwirkenden Bürgers, der als Intellektueller über Gegenwart und Zukunft seines Gemeinwesens räsonniert.

  5. Folgt man den Ausführungen von Jo Reichertz, wonach eine "Karrierepolitik" in Zukunft von immer größerer Bedeutung für das Fortkommen des Wissenschaftlers sein werde, so bleibt nur die Schlussfolgerung, das Ideal der Wahrheitssuche in der Logik des besseren Arguments aufzugeben. Mit dieser Behauptung wird aus der Not einer Selbstinszenierung zu Karrierezwecken eine Tugend gemacht - eine solche Position zieht sich selbst den Boden unter den Füßen weg; vgl. J. Reichertz, An die Spitze. Neue Mikropolitiken der universitären Karriereplanung von Sozialwissenschaftlern/innen, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 5 (2004) 2, (http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2 - 04/2 - 04reichertz-d.htm).

  6. Hier ist Hans Ulrich Gumbrecht zuzustimmen, der ausführt: "Die Lehre soll an der Front der Forschung stehen. Es ist ein ganz profunder pädagogischer Grundsatz, dass sich die Lehre vor allem mit nicht gelösten und unklaren Fragen beschäftigen soll. Es dürfen eben nicht nur fertige Erkenntnisse präsentiert werden. Das gilt sowohl für das Seminar, aber auch für die Vorlesung." Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht/Michael Kaiser, Stanford is a monastic place, in: zeitenblicke, 4(2005) 1; Interview mit Hans Ulrich Gumbrecht, in: http://www.zeitenblicke.historicum.net/2005/1/interview/.

  7. Dass diese Befristung nun über Juniorprofessuren und Professuren auf Zeit auch die mit einer normalen Professur verbundene Entlastung zu zersetzen droht, wird - angesichts des öffentlichen Drucks womöglich aus Angst, als Besitzstandswahrer verschrien zu werden - von den Betroffenen ebenfalls nahezu widerstandslos hingenommen.

  8. Auch neugierige Studenten geben ihr Studium auf, weil sie im gegenwärtigen Universitätsbetrieb zu wenig an Forschung teilhaben können. Studenten, die neugierig und interessiert sind, werden sich vor einem Abbruch jedoch meist bemüht haben, begeisternde Professoren zu finden, die Forschung und Lehre selbstverständlich miteinander verbinden.

  9. Diese aufzudecken und weiter aufzuklären wäre eine wichtige Aufgabe der Soziologie.

  10. Vgl. Siegfried Lamnek, Globalisierung - Internationalisierung - Amerikanisierung - Bachelorisierung - McDonaldisierung, in: Soziologie, 31 (2002) 1, S. 5 - 25.

  11. Die Einrichtung eines Studienschwerpunkts Klinische Soziologie, wie er sich etwa an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main im Aufbau befindet, ist ein viel versprechender Schritt in diese Richtung.

  12. "Die Qualität der Lehre ist von immenser Bedeutung. Ein charismatischer Lehrer muss es sein!", sagt Hans Ulrich Gumbrecht lapidar treffend. Vgl. H. U. Gumbrecht (Anm. 6).

  13. Vgl. hierzu Thomas Loer, Warum die DGS keine soziologische Publikumszeitschrift gründen und statt dessen das Bohren dicker Bretter befördern sollte - und warum es eine Publikumszeitschrift für Soziologie dennoch geben und wer sie machen sollte, in: Soziologie, 33 (2003) 1, S.106-109.

  14. Vgl. Hans-Georg Soeffner, Editorial, in: Soziologische Revue, (2004) 1, S. 1f. Soeffner schreibt: "Wir verfügen nicht nur über das bessere analytische und theoretische Potential, sondern auch über die fundierteren Einsichten in gesellschaftliche Lagen und Probleme als die Politik (Kursivierung hinzugefügt), sind aber weder im Stande, uns genügend 'öffentliches Gehör' zu verschaffen - und damit zumindest offensichtlich unsinnige, als 'Fakten' gehandelte Behauptungen zu widerlegen - noch gar die soziologische Diagnose zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen", ebd. S. 2. Vgl. auch Karl-Heinz Hillmann/Georg W. Oesterdiekhoff, Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens als Forschungsgegenstand der Soziologie, in: Soziologie, 31 (2002) 2, S. 34 - 40. Die Autoren scheinen von einem solchen Auftrag überzeugt, wenn sie schreiben: "Die Soziologie sollte auch diesseits utopischer Idealkonzeptionen, also ganz realistisch in hiesigen Machbarkeitsdimensionen, die Menschen lehren, erziehen, in das Vermögen setzen, Konflikte zu lösen und kooperative Beziehungen aufzubauen", ebd. S. 34.

  15. Vg. S. Lamnek (Anm.10), S.6. Lamnek schreibt: "Reformen - so sie dieses Wort überhaupt verdienen - kommen nicht aus der Universität, sondern sie werden ihr vielmehr durch Bildungspolitik und Ministerialbürokratie aufoktroyiert. Politische Vorgaben besitzen ein apriorisches Prä, dem sich substanzielle Überlegungen zu fügen haben." Lamnek ist zwar darin zuzustimmen, dass entsprechende Vorhaben aus den Ministerien stammen. Allerdings hätten starker Protest und Gegenentwürfe manche Entwicklung womöglich verhindern können; nur hätte dazu eben die Universität selbst, und hier v. a. in Gestalt ihrer Professoren, einen solchen Entwurf vorlegen müssen.

  16. Vgl. T. Loer (Anm.13).

Dr. phil., geb. 1967; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Otto-Hahn-Str.4, 44221 Dortmund; Vorstand des Instituts für hermeneutische Sozial- und Kulturforschung e.V. in Frankfurt/Main.
E-Mail: E-Mail Link: sascha.liebermann@udo.edu

Thomas Loer


PD, Dr. phil., geb. 1961; Vertretungsprofessor für Soziologie und Sozialpädagogik an der Universität Duisburg-Essen, Universitätsstr. 12, 45117 Essen; Privatdozent an der Universität Dortmund; Herausgeber von "sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung".
E-Mail: E-Mail Link: thomas.loer@udo.edu