Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik | Zerfallende Staaten | bpb.de

Zerfallende Staaten Editorial Failed States und Globalisierung - Essay Vom Entwicklungsstaat zum Staatsverfall Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik Good Governance gegen Armut und Staatsversagen Fragile Staatlichkeit als globales Sicherheitsrisiko Der Aufstieg des Lokalen

Fragile Staaten als Problem der Entwicklungspolitik

Tobias Debiel

/ 16 Minuten zu lesen

Wie geht die Entwicklungspolitik mit fragiler Staatlichkeit um? In einigen Situationen mag es notwendig sein, korrupte Regierungen zugunsten besser legitimierter gesellschaftlicher Partner zu umgehen.

Einleitung

Die Entwicklungspolitik steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor neuen Herausforderungen. Einerseits hat sie sich mit den Millennium Development Goals (MDGs) anspruchsvolle Vorgaben bei der Verbesserung der Lebensbedingungen für breite Teile der Weltbevölkerung gesetzt, so etwa die Halbierung der weltweit in absoluter Armut Lebenden bis zum Jahr 2015. Andererseits bleibt eine nennenswerte Zahl von Ländern durch Staatsversagen blockiert oder ist bereits von Staatsverfall geprägt. Derart fragile Länder weisen erhebliche Leistungsdefizite in zentralen staatlichen Funktionsbereichen auf: Sie sind nicht oder nur bedingt in der Lage, ein legitimes Gewaltmonopol zu etablieren und ihre Bürger vor Gewalt zu schützen. Die politische Machtkontrolle ist defizitär, das Rechtswesen kaum existent. Staatliche Dienstleistungen und Steuererhebung funktionieren allenfalls in den Städten und auch hier nur mangelhaft. Die soziale Grundversorgung ist nur rudimentär gewährleistet, der Wirtschaft fehlen verlässliche Rahmenbedingungen.

Eine erste empirische Annäherung an diese Gruppe fragiler Staaten ist über Daten der Weltbank möglich, die in ihrem Country Policy and Institutional Assessment (CPIA) die Politikgestaltung und institutionelle Leistungsfähigkeit von Kreditnehmern auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (sehr schlecht) bewertet. So hat das britische Department for International Development (DFID) eine Liste von 46 Ländern zusammengestellt, die zwischen 1999 und 2003 mindestens einmal schlechte oder sehr schlechte CPIA-Werte aufwiesen. Die Ermittlung "fragiler Staaten" allein auf Grundlage der CPIA-Werte wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf. So bezieht das DFID u.a. Staaten ein, die nicht mehr als fragil gelten können, sondern bereits regelrecht kollabiert sind (z.B. Somalia, zeitweise auch Liberia). Andererseits fehlen Länder wie Pakistan, Ruanda oder Uganda, deren Staatlichkeit durchaus noch nicht hinreichend konsolidiert ist, um sie aus der Kategorie "fragile Staaten" herauszunehmen. Dennoch ist die DFID-Liste als erste Annäherung hilfreich.

Im Vergleich zu anderen armen Ländern, die im CPIA-Ranking besser abschneiden, ist die soziale Lage in den fragilen Staaten dramatisch: Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nur etwa die Hälfte der Vergleichsgruppe. Die Kindersterblichkeit ist doppelt, die Müttersterblichkeit sogar dreimal so hoch. Etwa ein Drittel der Bevölkerung ist unterernährt; große Teile der Bevölkerung sind an Malaria erkrankt.

Umgang mit fragilen Staaten

Zahlreiche Geberländer waren in den neunziger Jahren zurückhaltend, sich unter den schwierigen Bedingungen von Staatsversagen und Staatsverfall finanziell wie politisch zu engagieren. Hierfür gab es gute Gründe: Die Erfolgschancen externen Engagements waren, wie zahlreiche empirische Studien nachwiesen, gering, solange in den Nehmerländern gegen die Prinzipien verantwortlicher Regierungsführung verstoßen wurde oder die Kapazitäten für einen funktionsfähigen Staat fehlten. Von daher konzentriert sich die Entwicklungszusammenarbeit seit dem Ende des Ost-West-Konflikts vorrangig auf so genannte "good performers", die sich in Richtung marktwirtschaftliche Demokratien bewegen. Besonders zum Ausdruck kommt dieser Ansatz aktuell im Millennium Challenge Account (MCA) - ein Programm, das die Bush-Administration im März 2002 aufgelegt hat und in dessen Rahmen bis zum Jahr 2006 zusätzlich fünf Milliarden US-Dollar zur Verfügung gestellt werden sollen.

Zunehmend setzt sich in der entwicklungspolitischen Diskussion die Erkenntnis durch, dass man sich nicht gänzlich von problematischen Ländern abwenden kann. Die zentrale Botschaft, die gleichermaßen von der Weltbank wie vom Entwicklungshilfeausschuss (DAC) der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verkündet wird, lautet: "Stay engaged, but differently." Denn das "Ignorieren" von Krisenländern ist ein gefährliches Unterfangen, welches das Risiko eines Abgleitens in den Staatsverfall erhöhen kann.

Umgehung von Partnerregierungen?

Entwicklungszusammenarbeit kann bei fragilen Staaten nicht länger an Standardmodellen der zwischenstaatlichen Kooperation festhalten. Insbesondere erscheint es problematisch, Reformen forcieren oder gar erzwingen zu wollen. Strukturanpassungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramme schlagen fehl, wenn das politisch-administrative System nicht zuvor eine entsprechende Leistungsfähigkeit erlangt hat. Grundsätzlich sinnvolle Maßnahmen wie der Abbau eines Staatssektors und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen lassen sich nur verwirklichen, wenn es eine "Binnennachfrage" für Reformen gibt und Institutionen existieren, die Regelwerke aufstellen und implementieren können.

So weit als möglich sollten Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit den Partnerregierungen abgestimmt werden, damit keine Parallelstrukturen entstehen, welche die staatliche Handlungsfähigkeit unterhöhlen. Der Entwicklungshilfeausschuss der OECD verwendet für die Orientierung an der Politik der Partnerländer den Begriff des alignment (Abgleich): Er zielt darauf, die Strategien, Politiken und Budgetplanungen von Gebern mit denen von Nehmerregierungen in Übereinstimmung zu bringen. Dadurch soll zum einen Eigenverantwortung, zum anderen die effektive Implementierung von Maßnahmen gefördert werden. Zugleich kann aber bei mangelnder Entwicklungsorientierung, verbreiteter Korruption oder stark repressiver Herrschaft die Zusammenarbeit mit der Regierung hoch problematisch sein, da sie die Legitimität des bestehenden Regimes stärkt. In derartigen Situationen wird es notwendig, auch "jenseits des Staates" mit nichtstaatlichen Gruppen, der Privatwirtschaft und lokalen staatlichen Einheiten zu kooperieren.

Wie weit externe Akteure mit oder jenseits der bestehenden Regierung zusammenarbeiten, hängt maßgeblich von zwei Faktoren ab: der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und der politischen Legitimität, die sich einerseits aus den Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung (Input-Legitimität) und andererseits aus der Entwicklungsorientierung des Regimes (Output-Legitimität) ergibt. Dabei lassen sich idealtypisch vier Konstellationen unterscheiden.

Erstens: Relativ günstig ist die Lage, wenn die institutionelle Leistungsfähigkeit eines Staates zwar Mängel, nicht aber Verfall aufweist ("bloßes" Staatsversagen). Verfügt die Regierung zudem über eine eher hohe Legitimität, so sollten Geber sich weitgehend an bestehende Strukturen des politisch-administrativen Systems anlehnen (systems alignment) und auch die politischen Prioritäten eng mit der Regierung abstimmen (policy alignment). Budgethilfen, bei denen die Partnerregierung weitgehend selbständig über die Verwendung der Gelder entscheiden kann, sind in diesem Rahmen sinnvoll. Projektarbeit sollte weitgehend in breiter angelegte Sektorprogramme integriert sein, damit die Ergebnisse nicht "verpuffen", sondern Breitenwirkung erzielen.

Zweitens: Bei Staaten mit defizitär funktionierenden Institutionen, in denen die Regierung eine eher geringe politische Legitimität hat, weichen die Prioritäten von Gebern und Nehmer-Regierung hingegen voneinander ab. Hier ist ein bloßes systems alignment empfehlenswert. Von Budgethilfen sollte Abstand genommen werden, da die Missbrauchsgefahr hoch ist; Sektorprogramme sind bei strengen Auflagen und Überprüfungsmechanismen möglich. Zusätzlich erscheint eine Förderung von Reformkräften ("change agents") sinnvoll.

Drittens: Eine dritte Konstellation bilden Länder, in denen Institutionen - etwa in Folge kriegerischer Konflikte - weitgehend zerrüttet sind, deren Regierungen aber einen von der Bevölkerung unterstützten Reformkurs eingeschlagen haben. Hier sollten Geber den Aufbau staatlicher Institutionen mit Nachdruck fördern und die politischen Prioritäten eng mit der Partnerregierung abstimmen. Das policy alignment kann in derartigen Situationen mitunter besser gelingen als das systems alignment, insofern die institutionellen Strukturen erst noch rekonstruiert bzw. neu formiert werden müssen. Die Agenda der Geberseite sollte soweit wie möglich auf einige Kernmaßnahmen reduziert werden, die auch tatsächlich durchführbar und kontrollierbar sind, eine schnelle Wirkung erzielen und der Bevölkerung sichtbare Erfolge präsentieren können.

Viertens: Die größten Problemfälle unter den fragilen Staaten sind jene Länder, in denen der Institutionenverfall weit fortgeschritten ist und deren Regierungen zugleich wenig politische Legitimität besitzen. In manchen Fällen - etwa Myanmar oder Zimbabwe - kann die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) grundsätzlich in Frage stehen. Eine abgestuftere Option ist, die finanzielle Zusammenarbeit (FZ) einzustellen, die Sachgüter in Form günstiger oder nicht rückzahlbarer Kredite finanziert. Stattdessen kann sich Entwicklungspolitik auf ausgewählte Maßnahmen der technischen Zusammenarbeit (TZ) konzentrieren, welche die Leistungsfähigkeit von Menschen und Organisationen in Entwicklungsländern fördern will und weniger leicht missbraucht werden kann. Bleiben Geber nach einer eingehenden Kosten- und Nutzenkalkulation in einem Land involviert, so ist häufig die Kooperation mit Strukturen jenseits des Staates nötig. Projektorientierte Maßnahmen stellen eine Alternative dar; oftmals ist humanitäre Hilfe nötig. Um die damit verbundene Etablierung von Parallelsystemen in ihren Negativfolgen zu begrenzen, kann ein so genannter shadow systems alignment sinnvoll sein. Dabei handelt es sich um den Versuch, EZ-Maßnahmen zumindest mittel- bis langfristig an das institutionelle System eines Landes anschlussfähig zu machen - etwa indem Fördermaßnahmen sich an bestehenden Budgetklassifikationen, Planungszyklen, Berichts- und Rechnungslegungspflichten oder auch an den etablierten administrativen Einheiten orientieren.

Stärkung von "change agents"

Gerade wenn es einer Regierung an Reformbereitschaft und politischer Legitimität mangelt, gewinnt die Frage an Bedeutung, ob und in welcher Form die bereits angesprochenen Reformkräfte ("change agents") unterstützt werden sollen. Weltbank bzw. OECD/DAC plädieren mit guten Gründen immer offener dafür, sich gezielt an Vertreter der Zivilgesellschaft und Reformkräfte in der Regierung (z.B. Technokraten, die für Veränderungen aufgeschlossen sind) zu wenden. Eine wichtige Rolle können auch Wissenschaftler spielen, die über ein Mindestmaß an Unabhängigkeit verfügen. Konsequenterweise müssen externe Akteure klar für Informationsfreiheit und weitere Freiheitsrechte eintreten, sodass Parlamentarier, unabhängige Richter, Journalisten, Gewerkschafter und berufsständische Vereinigungen sich gegen Machtmissbrauch einsetzen können. Gerade die Arbeit politischer Stiftungen sowie akademische Austauschprogramme können zur Qualifizierung derartiger Reformkräfte beitragen. Hat sich ein Krisenland politisch abgeschottet, kann es sogar sinnvoll sein, mit einflussreichen Mitgliedern der Diaspora Kontakt aufzunehmen.

Bei der Förderung von "change agents" sollte darauf geachtet werden, dass gesellschaftliche Brüche nicht vergrößert, sondern eher überwunden werden. So stehen sich beispielsweise in muslimisch geprägten Gesellschaften oftmals religiös-fundamentalistische und säkulare Kräfte gegenüber. Drängen externe Geber auf eine rasche Modernisierung, so könnte das ohnehin schon vorhandene Misstrauen zwischen gesellschaftlichen Gruppen verstärkt werden. Die Unterstützung von "change agents" sollte außerdem nicht nur die Hauptstadt, sondern auch Provinzstädte und die lokale Ebene einbeziehen, um eine strukturelle Teilung der Gesellschaft zu verhindern.

Schwerpunktsetzungen für die Entwicklungszusammenarbeit lassen sich nicht anhand von Blaupausen festlegen, sondern müssen letztlich für jedes einzelne Land auf der Basis einer genauen Bestandsaufnahme der Bedingungen vor Ort konzipiert werden - am besten unter Beteiligung lokaler Experten. Trotz dieser Einschränkung lassen sich einige übergreifende Prioritäten in den staatlichen Funktionsbereichen Sicherheit, Politik, Justiz, Verwaltung und Wohlfahrt identifizieren, die für die meisten fragilen Staaten relevant sind.

Gewaltmonopol und Rechtsbindung

Um das Gewaltmonopol in angemessener und effektiver Weise wiederherzustellen, kommt in Ländern, die über Jahrzehnte von kriegerischen Konflikten geprägt waren, der Kleinwaffenkontrolle und der Demobilisierung von Ex-Kombattanten eine hohe Bedeutung zu. In mittelfristiger Perspektive ist insbesondere eine sachgerechte Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Teilen des Sicherheitsapparats nötig. Die politische Priorität muss auf einer besseren Ausrüstung und einem besseren Training der Polizei liegen, damit diese volle Zuständigkeit in Fragen der "inneren Sicherheit" erhält, für die sich oft auch das Militär zuständig fühlt. Angesichts häufiger Übergriffe von Sicherheitskräften sowie ihrer Verstrickung in kriminelle Machenschaften sind zudem Maßnahmen zur Absicherung einer unabhängigen Justiz und freier Medien notwendig, damit Menschenrechtsverletzungen von Polizei, Militär und Geheimdienst angeprangert, geahndet und präventiv verhindert werden können.

Um eine Störung des politischen Transformationsprozesses durch die Sicherheitskräfte zu unterbinden, ist eine klare Unterordnung und Rechenschaftspflicht gegenüber zivilen Autoritäten vonnöten. Aus entwicklungspolitischer Sicht entscheidend sind Maßnahmen, welche die Expertise ziviler Akteure (Regierungsmitglieder, Parlamentarier, Forscher, Medien) erhöhen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt dabei ein transparentes Budget, da sich über verdeckte Zuwendungen und die illegale Umwidmung von Geldern häufig "Schattenmächte" herausbilden.

Partizipation und Konfliktregelung

In jüngster Zeit ist kontrovers diskutiert worden, wie die Partizipation der Bevölkerung unter den Bedingungen fragiler Staatlichkeit am besten gewährleistet werden kann. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre hatte die Idee einer raschen Demokratisierung von Transformations- und Entwicklungsländern eine beachtliche Konjunktur erlebt. Mittlerweile gibt es aber auch zunehmend kritische Stimmen, die auf das hohe Gewaltpotenzial von Demokratisierungsprozessen hinweisen - eine Befürchtung, die durch umfangreiche empirische Untersuchungen untermauert wird. Instabilen Staaten mangelt es häufig an Institutionen der verregelten Konfliktaustragung, was sie im Kontext von Wahlen verwundbar macht: So ist die Zivilgesellschaft nicht zwangsläufig liberal orientiert, sondern kann durch Intoleranz geprägt sein und in Demokratisierungsprozessen polarisierend wirken. "Ethnische Unternehmer" vermögen bestehende gesellschaftliche Spaltungen für die Propagierung nationalistischer Ideologien zu instrumentalisieren und zu vertiefen. Daraus lässt sich ableiten, dass Demokratisierungsprozesse von außen nicht mit allzu großem Druck forciert werden sollten. Wichtiger kann es sein, zunächst eine gewisse Leistungsfähigkeit und Überparteilichkeit staatlicher Institutionen anzustreben, die wechselseitige Kontrolle verschiedener staatlicher Organe zu verbessern sowie gesellschaftliche Potenziale zu fördern, die den politischen Transformationsprozess tatsächlich von innen tragen können.

Die Mängel im Justizapparat fragiler Staaten sind häufig derart schwerwiegend, dass die Bevölkerung die öffentliche Rechtspflege als nicht existent betrachtet. Unzureichende Ausbildung, undurchsichtige Strukturen, eine mangelhafte Koordination zwischen Ermittlungsbehörden und Polizei sowie die Verfilzung politischer, militärischer und juristischer Eliten verhindern, dass Kriminelle abgeurteilt werden. Nicht zuletzt ist das Rechtswesen für die Bürgerinnen und Bürger in äußerst ungleicher Weise erreich- und verfügbar. Das Stadt-Land-Gefälle, der soziale Status, aber auch ethnische oder religiöse Diskriminierung spielen eine Rolle. Um die Durchsetzung rechtsstaatlicher Grundsätze zu fördern, sollte die Entwicklungszusammenarbeit deshalb in einem kritischen Politikdialog die Partnerregierung drängen, der Justiz Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme und die Möglichkeit zur Kontrolle exekutiver Entscheidungen und administrativen Handelns einzuräumen. Eine zentrale Rolle kommt der Unterstützung von transparenten Auswahlverfahren zu, damit Spitzenpositionen in der Justiz nach der Qualität der Bewerber und nicht nach deren politischen Loyalitäten besetzt werden. Wichtig ist aber auch die Aufklärung ärmerer Bevölkerungsschichten, damit diese in die Lage versetzt werden, ihre Rechte auch wahrzunehmen. Bei einem weitreichenden Verfall staatlicher Institutionen kann die verregelte Konfliktschlichtung zudem über die Einbeziehung informeller Institutionen und die Berücksichtigung lokaler Traditionen verbessert werden.

Dienstleistungen und Korruptionsbekämpfung

Unter den Bedingungen fragiler Staatlichkeit ist der Staat mit seinen administrativen Dienstleistungsfunktionen gerade in ländlichen Gebieten häufig kaum präsent. Elementare Schritte wie der Aufbau einer verlässlichen Datenbasis zu den öffentlichen Bediensteten, die Einführung eines einfachen Gehaltssystems und die Einrichtung von Kontrollverfahren können hier schon einen nennenswerten Mehrwert bedeuten. Sobald eine derartige infrastrukturelle Basis geschaffen ist, müssen weitere Maßnahmen hinzutreten, die über die Ausbildung materieller und personeller Kapazitäten hinausgehen. Entwicklungszusammenarbeit sollte in einer solchen Phase darauf achten, dass die Rekrutierung und Beförderung von Staatsangestellten auf der Grundlage von Qualifikationen und Verdiensten und nicht durch Patronage erfolgt. Außerdem sollte frühzeitig "Kundenorientierung" zum Leitbild der Verwaltung erhoben werden: Zugangsbarrieren für Bürger müssen fallen, Verfahren abgekürzt sowie Bürger in ihren Rechten gestärkt werden.

Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sind in fragilen Staaten häufig durch Korruption geradezu gelähmt. Mitunter partizipieren auch Nichtregierungsorganisationen kräftig an Korruption; Unternehmer konzentrieren sich nicht auf Wettbewerbsvorteile, sondern auf den geschickten Einsatz von "Schmiermitteln". Versuche externer Geber, den nur wenig entwicklungsorientierten Staat zugunsten anderer Akteure zu umgehen, sind zum Scheitern verurteilt. Korruptionsbekämpfung kann unter derartigen Bedingungen nur gelingen, wenn Pakete von Maßnahmen geschnürt werden. Wichtige Ansatzpunkte sind: eine wechselseitig abgestimmte Selbstkontrolle der Geber; der Aufbau von Institutionen zur Korruptionsbekämpfung (Ombudsleute, Inspektoren, Behörden); die Einforderung öffentlicher Ausschreibungen und die Verkürzung von Amtswegen; gesetzgeberische Maßnahmen, die durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit und transparente Strafverfolgung auch implementiert werden; die Unterstützung von Parlament, Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen in ihren Bemühungen, mehr Transparenz bei der Aufstellung und Verwendung öffentlicher Haushalte zu erreichen; die Aufstellung von Regeln, nach denen transnational agierende Unternehmen ihre Zahlungen an Regierungsinstitutionen offen legen müssen; die Förderung einer raschen Ratifizierung und Implementierung der UN-Konvention gegen Korruption vom 9. Dezember 2003.

Soziale Grundversorgung und Wohlfahrt

In zahlreichen Ländern mit autoritären oder korrupten Regierungen vernachlässigen die lokalen oder nationalen Eliten die soziale Grundversorgung. Sie sind mit dafür verantwortlich, dass arme Bevölkerungsschichten in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Wasser, sanitäre Einrichtungen und Elektrizität unzureichend versorgt sind. Geberländer haben insofern mit herkömmlichen Regierungskanälen oftmals hochgradig unbefriedigende Erfahrungen gemacht. Unter diesen Bedingungen ist es erforderlich, komplementäre und alternative Möglichkeiten zu erkunden und sich dabei vor allem auf nicht- und substaatliche Akteure zu stützen.

Fragile Staaten brauchen im Bereich der Wohlfahrt vor allem verlässliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) betriebene Strukturanpassungspolitik der achtziger und neunziger Jahren hat in dieser Hinsicht zwar durchaus einige Erfolge erzielt, so bei der Förderung einer inflationsdämpfenden Fiskal- und einer marktgerechten Währungspolitik. Zugleich gab es jedoch eklatante Fehlschläge: So hat die verfrühte Privatisierung öffentlicher Unternehmen zur Herausbildung von machtvollen Oligopolen und nicht selten auch zur Stärkung des kriminellen Sektors geführt, weil es schlicht an staatlichen Management- und gesellschaftlichen Kontrollkapazitäten fehlte, um faire öffentliche Ausschreibungsverfahren durchzuführen. Wichtiger als das simple Rezept "Mehr Markt, weniger Staat" ist in fragilen Staaten insofern ein funktionsfähiger Gesetzesrahmen, der Erwartungsverlässlichkeit schafft, den wirtschaftlichen Akteuren auch tatsächlich bekannt ist und nicht zuletzt dazu beiträgt, die informelle Ökonomie schrittweise in einen legalen Kontext einzubetten. Eckpfeiler sind die Garantie von Eigentumsrechten, einfache Genehmigungsverfahren sowie eine faire und wirksame Besteuerung.

In einer nennenswerten Anzahl fragiler Staaten bildet die Bekämpfung krimineller Ökonomien eine zentrale Herausforderung. Seit Beginn der neunziger Jahre hat die weltwirtschaftliche Globalisierung nicht nur Wohlfahrtsgewinne, Marktchancen, Mobilität und neue Wahlmöglichkeiten geschaffen. Die Liberalisierung der Waren- und Finanzmärkte, neue Kommunikationstechnologien und die deutlich verbilligten intra- und transkontinentalen Transportmöglichkeiten haben vielmehr auch die Verwundbarkeit schwacher Ökonomien erhöht und die Herausbildung von Grauzonen jenseits der Legalität erleichtert. Unter den Bedingungen einer derartigen "Schattenglobalisierung" florieren Geldwäsche sowie der illegale Drogen-, Diamanten-, Edelholz- oder auch Menschenhandel. Besonders betroffen sind Länder, die über einen Reichtum an Bodenschätzen verfügen, durch Krieg und Staatszerfall zerrüttet wurden oder aber aufgrund ihrer geographischen Lage als Umschlagplätze illegaler Gütertransfers besonders geeignet sind.

Um den kriminellen Sektor nach und nach zu verkleinern, sind eine Stärkung der Strafverfolgung sowie sozioökonomische Programme gefordert, die der Bevölkerung alternative Erwerbsquellen jenseits der Illegalität eröffnen. Im Zeitalter der Globalisierung kommt aber letztlich internationalen Maßnahmen eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Mit der Extractive Industry Transparency Initiative (EITI), die der britische Premierminister Tony Blair im September 2002 auf dem Weltgipfel von Johannesburg verkündet hat, gibt es einen wichtigen Ansatzpunkt, der politischen Ökonomie von Gewaltkonflikten beizukommen. Sie zielt auf die Offenlegung von Zahlungen, die transnationale Unternehmen im Bereich der Rohstoffextraktion an Regierungen der Entwicklungsländer leisten und die allzu oft zur Selbstbereicherung verwendet werden. Die zentrale Herausforderung für die nahe Zukunft dürfte es sein, Steueroasen einzudämmen, Geldwäscheaktivitäten zu bekämpfen sowie den Rohstoff- und Waffenhandel aus Krisengebieten durch Kontrolle der entsprechenden Finanztransaktionen zu unterbinden.

Anforderungen an internationale Akteure

Oftmals scheitert ein angemessener Umgang mit fragilen Staaten bereits daran, dass einzelne Geberländer dem Problem geringe Priorität einräumen oder die politische Praxis durch Interessengegensätze und Konkurrenz zwischen den Ministerien, durch Ad-hoc-Entscheidungen und mangelnde Koordination geprägt ist. Gerade in kritischen Phasen von Verfalls- oder Reformprozessen sind aber Antworten wichtiger Regierungen gefordert.

Neben erhöhter Kohärenz auf nationaler Ebene ist die gemeinsame Strategieentwicklung unter den Gebern von zentraler Bedeutung. Stärker als bislang sollte eine kohärente Geberpolitik auf ein kontinuierliches Engagement achten, das keinen starken Schwankungen unterliegt. Allzu häufig wurden Entwicklungsländer in der Vergangenheit entweder von Hilfe überschwemmt oder aber ignoriert und quasi als "Waisenkinder" behandelt. Um insbesondere Letzterem entgegenzuwirken, sollten Krisenländer nie ohne Ansprechpartner auf internationaler Ebene bleiben. Einzelne Geberländer könnten hier eine besondere Zuständigkeit übernehmen.

Schließlich muss die internationale Staatengemeinschaft effektiver reagieren, wenn sich fragile Staaten in kritischen Situationen befinden. In solchen Phasen können nennenswerte Fortschritte gemacht, aber auch gefährliche Abwärtsspiralen in Gang gesetzt werden. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn politische Eliten sich Umsturzversuchen aus Nachbarstaaten ausgesetzt sehen oder breite Bevölkerungsschichten durch wirtschaftliche Einbrüche in Existenzängste gestürzt und für Feindbildideologien anfällig werden. Internationale Akteure können in derartigen Situationen bei einer sorgfältigen Abstimmung ihrer Politiken konstruktiv Einfluss nehmen. So sollten sie subregionale Organisationen in Krisengebieten dazu drängen, Vereinbarungen zur Verhinderung wechselseitiger Destabilisierung abzuschließen und im Zweifelsfall auch umzusetzen. Darüber hinaus müssen wichtige Geberstaaten auf eine Reform der internationalen Finanzinstitutionen hinwirken, damit diese ihre Reformpolitik in fragilen Staaten an Konfliktanalysen binden und auf negative Rückwirkungen hin analysieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag stützt sich auf ein Hintergrundpapier, das der Autor im Rahmen eines Studien- und Beratungsvorhabens für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) verfasst hat. Die Einschätzungen in diesem Artikel geben ausschließlich die Meinung des Autors wieder.

    Die Weltbank legt dem internen Instrument der CPIA vier Dimensionen zugrunde: ökonomisches Management, Strukturpolitik, Politik der sozialen Inklusion/Exklusion, Management des öffentlichen Sektors. World Bank, 2003 Country Policy And Institutional Assessment (CPIA): worldbank.org/IDA/Resources/Quintiles 2003CPIA.pdf (15. 9. 2004).

  2. Vgl. Department for International Development (DFID), Why We Need to Work More Effectively in Fragile States, London 2005, S. 7, 28f.

  3. Die Liste umfasst folgende Staaten: Afghanistan, Angola, Aserbaidschan, Äthiopien, Myanmar, Burundi, Elfenbeinküste, Djibouti, Dominica, Eritrea, Gambia, Georgien, Guinea, Guinea-Bissau, Guyana, Haiti, Indonesien, Jemen, Kambodscha, Kamerun, Kenia, Komoren, DR Kongo, Kongo-Brazzaville, Kiribati, Laos, Liberia, Mali, Nepal, Niger, Nigeria, Papua-Neuguinea, Sa o Tomé & Principe, Sierra Leone, Solomon Islands, Somalia, Sudan, Tadschikistan, Timor Leste, Togo, Tonga, Tschad, Usbekistan, Vanuatu, Zentralafrikanische Republik und Zimbabwe.

  4. Vgl. DFID (Anm. 2), S. 9, Table 1.

  5. Vgl. World Bank, World Bank Group Work in Low-income Countries under Stress: A Task Force Report. Washington 2002: http://www1.worldbank.org/operations/licus/documents/licus.pdf.

  6. Vgl. OECD/DAC, Senior Level Forum on Development Effectiveness in Fragile States. Harmonisation and Alignment in Fragile States. Draft Report by Overseas Development Institute (ODI), United Kingdom, for a Meeting in London, 13 - 14 January 2005, Ziff. 6.

  7. Vgl. dies., Poor Performers: Basic Approaches for Supporting Development in Difficult Partnerships, Paris 2001, Ziff. 21, 22: http://www.oecd.org/dataoecd/26/56/21684456.pdf.

  8. Vgl. Tobias Debiel/Ulf Terlinden, Promoting Good Governance in Post-Conflict Societies, Discussion Paper, Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), Eschborn 2005.

  9. Vgl. Larry Diamond, Promoting Democracy in the 1990s: Actors, Instruments, Issues and Imperatives. Report to the Carnegie Commission on Preventing Deadly Violence, New York 1995.

  10. Vgl. State Failure Task Force, State Failure Task Force Report. Phase III Findings. Prepared by Ted Robert Gurr u.a., Center for International Development and Conflict Management at the University of Maryland, College Park, Md.: http://www. cidcm.umd.edu/inscr/stfail/SFTF%20Phase%20III %20Report%20Final.pdf.

  11. Vgl. Petra Bendel/Michael Krennerich, Staat und Rechtsstaat in jungen Demokratien - eine Problemskizze, in: Petra Bendel/Aurel Croissant/Friedbert W. Rüb (Hrsg.), Demokratie und Staatlichkeit. Systemwechsel zwischen Staatsreform und Staatskollaps, Opladen 2003, S. 17.

  12. Vgl. Sabine Kurtenbach/Peter Lock (Hrsg.), Kriege als (Über-)Lebenswelten. Schattenglobalisierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität, Bonn 2004.

Dr. sc. pol., geb. 1963; wissenschaftlicher Geschäftsführer, Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen, Geibelstr. 41, 47057 Duisburg.
E-Mail: E-Mail Link: tobias.debiel@inef.uni-duisburg.de