Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wie europafähig ist der deutsche Föderalismus? | Föderalismus | bpb.de

Föderalismus Editorial Föderalismusreform - Laufen oder Stolpern? Essay Reformbedürftigkeit des deutschen Föderalismus Die Föderalismusreform zwischen Anspruch und Wirklichkeit Ein bürgerfernes Machtspiel ohne Gewinner Wie europafähig ist der deutsche Föderalismus? Reform der Finanzverfassung - eine vertane Chance?

Wie europafähig ist der deutsche Föderalismus?

Martin Große Hüttmann

/ 16 Minuten zu lesen

Wie steht es um die Europafähigkeit der bundesstaatlichen Ordnung? Dabei spielt der "Europa-Artikel" 23 Grundgesetz eine zentrale Rolle. Beide Seiten waren auch hier unterschiedlicher Meinung.

Einleitung

Verfassungen sollen nach einem Bonmot Napoleons "kurz und dunkel" sein. Das bedeutet zweierlei: Zum einen soll eine Verfassung nur wenige, knapp gehaltene Artikel umfassen und sich auf das Wesentliche beschränken; zum anderen soll nicht alles bis ins letzte Detail geregelt sein, es soll Spielraum für juristische Interpretation und politisches Handeln bleiben. Artikel 23 des Grundgesetzes (GG), der im Zuge der deutschen Einheit neu geschaffene "Europa-Artikel", stellt diese Prämissen auf den Kopf. Er gehört zu den wortreichsten Artikeln des Grundgesetzes. Darin wird versucht, die Europapolitik in einem Bundesstaat durch eine vermeintlich klare juristische Begrifflichkeit und eine am innerstaatlichen Kompetenzmodell orientierte Liturgie zu klären. Ergänzt wird der Europa-Artikel durch zwei nicht weniger umfangreiche Begleittexte, welche die operationellen Details regeln. Dieser Aufwand ist Beleg dafür, dass die Europapolitik in Deutschland zu den Politikbereichen gehört, in denen Bund und Länder in Konkurrenz zueinander stehen. Permanente Konflikte zwischen beiden über die Grundlagen und Einzelheiten der Europapolitik würden die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union politisch lähmen und handlungsunfähig machen. Eine Verfassung soll ja diejenigen zentralen politischen "Spielregeln" und Prinzipien fixieren, über die Konsens besteht und die deshalb nicht laufend verhandelt werden müssen. So war der 1992 gefundene und in Artikel 23 GG festgeschriebene Kompromiss der Versuch, einen "dauerhaften Modus vivendi" zu finden. Dieser Europa-Artikel ist darüber hinaus der in der Verfassung festgeschriebene Beweis, dass die Bundesrepublik Deutschland ein "europäisierter" Bundesstaat ist. Die Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Europäischen Union führt dazu, dass die Grenzen zwischen Innenpolitik und klassischer Außenpolitik kaum mehr zu erkennen sind, denn "Europapolitik" spielt in sämtliche Politikbereiche hinein und ist somit "europäisierte Innenpolitik". Wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe sind die Ebenen und Kompetenzen ineinander verschachtelt, die Mitgliedstaaten und ihre Gliedstaaten sind Teil eines "europäischen Mehrebenensystems". Da die europäische Integration aber in ihrer bald fünf Jahrzehnte dauernden Geschichte immer mehr Politikfelder (z.B. Justiz- und Innenpolitik), die ursprünglich im Kompetenzbereich der Länder lagen, berührt und überlagert hat, vermischen sich zunehmend die politischen Handlungsebenen und Steuerungsinstrumente.

Die Länder sahen - nicht zu Unrecht - von Beginn an die Gefahr, dass der Bund ohne Rücksicht auf ihre Interessen und Belange Kompetenzbereiche von der nationalen auf die Ebene der EG übertragen würde. Der Art. 24 Abs. 1 GG ("Der Bund kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen") war der "Hebel" für den Bund, Kompetenzbereiche nach und nach auf die europäische Ebene zu übertragen. Schon in der Frühgeschichte der europäischen Integration sah der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold im Zusammenhang mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) die Gefahr, die deutschen Länder könnten im Zuge der europäischen Zusammenarbeit ihre Eigenständigkeit verlieren und zu "reinen Verwaltungseinheiten herabgedrückt" werden. Aufgrund des beiderseitigen Misstrauens, das Bund und Länder in der Europapolitik gegeneinander hegen, und der unterschiedlichen Erfahrungen auf diesem Feld stand der Europa-Artikel 23 und die Europafähigkeit des Föderalismus insgesamt auf der Tagesordnung der Bundesstaatskommission 2003/2004.

Ein kurzer historischer Rückblick über die Mitwirkung der Länder in der Gemeinschaftspolitik wird zeigen, dass die in der Föderalismus-Kommission diskutierten Fragen alles andere als neu sind. Zum anderen zeigt sich, dass sich im Zuge der Revisionen der europäischen Gründungsverträge ein bestimmtes Muster herausgebildet hat: Sobald die Länder Kompetenzen und Hoheitsrechte an die Europäische Gemeinschaft abgaben, wurden diese Verluste an eigenständigem Handlungsspielraum für die Regierungen der Länder durch Beteiligung an der Europapolitik auf Bundesebene kompensiert. Diese Form der Kompensation ist mit dem im Oktober 2004 von den europäischen Staats- und Regierungschefs verabschiedeten Vertrag über eine Europäische Verfassung an ihre Grenzen gestoßen - wohl auch deshalb, weil viele der 16 Länder selbst personell und finanziell zu angespannt sind, um die in Art. 23 GG festgeschriebenen Mitwirkungsrechte auch nur annähernd ausschöpfen zu können, und sie deshalb an einer erneuten Ausweitung ihrer Partizipationsmöglichkeiten in EU-Fragen seit einiger Zeit wenig interessiert sind.

Europapolitische Zusammenarbeit

Die Länder suchten von Anfang an nach Strategien, um diese Politik des Bundes zu bremsen und damit die Interventionen der Europäischen Gemeinschaft in ihre "inneren Angelegenheiten" abwehren zu können. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten zwei eng miteinander verknüpfte Strategien entwickelt und diese nach und nach perfektioniert. Diese werden hier - die Kategorien von Ivo Duchacek bzw. von Charlie Jeffery aufnehmend - als Strategie des "let us in" und des "leave us alone" beschrieben. Die Strategie des "Lasst uns rein" soll den Ländern auf nationaler wie auf europäischer Ebene einen Platz am Verhandlungstisch bzw. in den Gremien sichern, welche die Verhandlungen vorbereiten und koordinieren. Die Strategie des "Lasst uns allein" dagegen verfolgt das Ziel, den Ländern einen Bereich der "inneren Angelegenheiten" zu belassen, der vor Eingriffen des Bundes und der europäischen Ebene geschützt ist.

Im Zusammenhang mit den Verhandlungen zu den ersten größeren Vertragsrevisionen - Einheitliche Europäische Akte (1986) und Vertrag von Maastricht (1992) - setzten die Länder zunächst vor allem auf die Strategie des let us in, um ihre Interessen auf europäischer wie auf nationaler Ebene direkt einbringen zu können. Da neben dem Bundestag auch der Bundesrat den Maastrichter Vertrag mit Zweidrittelmehrheit ratifizieren musste, hatten die Länder - die bayerische Staatsregierung war hier federführend - ein Junktim zwischen einer Stärkung ihrer Mitwirkungsrechte in EU-Fragen und der Zustimmung des Bundesrates zum Unionsvertrag formuliert. Dies brachte sie im Verhältnis zur damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) in eine starke Verhandlungsposition, manche Beobachter sprachen sogar von einer "Erpresserkonstellation". Die Bundesregierung wollte die Ratifikation des Maastrichter Vertrags - wie in der Vergangenheit - auf der Basis von Artikel 24 Abs. 1 GG durchführen. Die Länder waren jedoch der Auffassung, dass mit dem neuen EU-Vertrag eine Grenze überschritten worden sei, die nach einer neuen verfassungsrechtlichen Basis verlange. Wenn die Länder keine weiter gehenden Mitwirkungsmöglichkeiten in europapolitischen Fragen bekämen, sei ihre Staatlichkeit in Frage gestellt.

Da die Länder eine geschlossene Front gegen die Bundesregierung bilden konnten, und Bundeskanzler Kohl an einer raschen und reibungslosen Ratifizierung interessiert war, musste Außenminister Klaus Kinkel (FDP) seine Bedenken zurückstellen und dem Kompromiss zustimmen. Das Ergebnis war der Artikel 23 GG, der für die deutsche Europapolitik und die Rolle der Länder einen Paradigmenwechsel darstellte. Im Kern schuf der Artikel 23 zum einen eine neue Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten durch den Bund und für eine europapolitische Staatszielbestimmung, und zum anderen ein ausgeklügeltes, am innerdeutschen Modell von zustimmungs- und nichtzustimmunsgpflichtigen Gesetzen orientiertes System der Mitwirkung und Einbindung der Länder in den europäischen Entscheidungsprozess. Je nach Politikbereichen, die in Brüssel verhandelt werden, muss die Bundesregierung die Stellungnahmen des Bundesrates "berücksichtigen" oder "maßgeblich berücksichtigen". Auch in den Fällen, in denen einem Landesminister die Verhandlungsführung in Brüssel übertragen werden kann, muss dieser - als Rückversicherung für die Bundesregierung - die "gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes (...) wahren" (Art. 23 GG Abs. 6). Die Länder hatten darüber hinaus auch gefordert, ihre seit Mitte der achtziger Jahre auf- und ausgebauten Informations- und Vertretungsbüros in Brüssel ebenfalls in Art. 23 GG zu verankern - dies akzeptierte der Bund jedoch nicht.

Die Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam (1997) und zum Vertrag von Nizza (2000) sowie die Debatte, die zum Verfassungsvertrag führte, waren Teil des Praxistests des neuen Art. 23 GG. Ähnlich wie bei den Maastricht-Verhandlungen hatten die Länder auch in Nizza ihren Forderungen etwa nach einem Kompetenzkatalog im europäischen Vertrag und nach einer Aufwertung des Ausschusses der Regionen dadurch Nachdruck verliehen, dass sie wieder mit der Veto-Karte spielten. Zur Ausweitung des Aktionsradius der Länder haben auch transnationale Kooperationsbündnisse wie die im Mai 2001 von der Regierung in Flandern ins Leben gerufene Initiative europäischer Regionen mit Legislativkompetenzen ("RegLeg") beigetragen.

Darüber hinaus besitzen die Länder mit dem neuen Verfassungsvertrag - die erfolgreiche Ratifizierung vorausgesetzt - zusätzliche Vetomöglichkeiten. Dazu gehört der so genannte "Frühwarnmechanismus", der dem Bundesrat eine "Subsidiaritätsrüge" bzw. eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof bei Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips ermöglichen würde. Zudem haben einige Länder wie etwa Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren einiges unternommen, um die "Europafähigkeit" ihrer Landesverwaltungen zu stärken. Baden-Württemberg und Bayern haben darüber hinaus durch ihre neuen, im Jahr 2004 bezogenen Vertretungsbüros gezeigt, dass sie sich die Präsenz in Brüssel einiges kosten lassen. Die Feststellung des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber bei der Eröffnung der neuen Vertretung im September 2004 - von den Medien als "Schloss Neuwahnstein" bezeichnet -, Brüssel sei "heute in manchen Bereichen für Bayern wichtiger als Berlin", illustriert diese Verlagerung von Ressourcen und politischer Aufmerksamkeit. Durch die Koordination im Kreis der Länderfachminister wie der Europaministerkonferenz (EMK) oder der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) tragen die Länder zwar hohe Koordinationskosten; da sie jedoch vor allem auf das eingespielte Bundesratsverfahren zurückgreifen können, halten sich die Kosten in Grenzen.

Die Länder haben seit Anfang der neunziger Jahre eine Stärkung der let us in-Strategie wie der leave us alone-Methode erreicht (vgl. die Tabelle). Nachdem im Zuge der let us in-Strategie Länder wie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen zu echten "Mehrebenenspielern" im politischen System der EU aufgestiegen sind, gewann nach und nach die leave us alone-Strategie an Bedeutung. Da die Länder feststellen mussten, dass sie trotz intensiven Lobbyings viele Kernbereiche wie etwa die Daseinsvorsorge nicht dauerhaft vor dem europäischen Wettbewerbsrecht schützen konnten, forcierten sie im Rahmen der europäischen Verfassungsdebatte ihre Bemühungen um eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen EU, Bund und Ländern und erweiterten damit die innerstaatliche Reformdebatte um die europäische Dimension. Die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern um die innerstaatliche Umsetzung des Europäischen Verfassungsvertrags sollen aus Sicht der unionsgeführten Länder eine weitere Stärkung der leave us alone-Strategie bringen. Ziel ist es, dass jedes einzelne Land, nicht nur der Bundesrat als Organ, Klage einreichen kann beim Europäischen Gerichtshof im Rahmen des "Frühwarnsystems".

Unterschiedliche Bewertungen der Praxis

In der Sachverständigenanhörung zum Thema "Europa" im Dezember 2003 übten die Experten fast einhellig Kritik an den Regelungen des Artikels 23 GG. Das Problem sei, dass die Bundesregierung sich in Ratsverhandlungen häufig der Stimme enthalten müsse - bekannt als "German vote" - oder von den anderen Mitgliedstaaten überstimmt werde, da es regelmäßig keine einheitliche, im Bund-Länder-Kreis sowie zwischen den Bundesministerien abgestimmte Position gebe. Den am weitesten reichenden Vorschlag auf Seiten der Sachverständigen machte Fritz W. Scharpf: Da in einer auf 25 Mitgliedstaaten erweiterten EU die Abstimmungen im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit an Bedeutung und damit wechselnde Koalitionen und Tauschgeschäfte zunähmen, würde jede "Intervention von außen" die Verhandlungs- und Einflussmöglichkeiten des deutschen Vertreters im Rat schwächen. Scharpf nannte deshalb die "ersatzlose Streichung von Art. 23 Abs. 2 bis 7" als "optimale Lösung" - Voraussetzung dafür sei jedoch eine "effektive Koordination auf der Bundesebene." Dass dieser Vorschlag das Kernproblem deutscher Europapolitik betrifft, bestätigte der deutsche Botschafter Wilhelm Schönfelder in Brüssel in einem Interview: "Neulich habe ich bei einem Thema (...) vom zuständigen Ministerium zu Hause für eine maximal dreiminütige Einlassung in Brüssel genau 22 Seiten Weisung erhalten, mit 27 Vorbehalten gegen einen Kompromissvorschlag." Das sei, so der deutsche Botschafter, "absoluter Quatsch".

Die breite "Front" gegen den Art. 23, die sich Anfang 2004 abzeichnete, überraschte viele Beobachter, da die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage der Unions-Fraktion im Bundestag im November 2003 die bisherigen Erfahrungen mit dem Europa-Artikel insgesamt positiv bewertet hatte. In den wenigen Fällen, in denen es zu Konflikten zwischen Bund und Ländern gekommen war, hatte sich in der Regel die Bundesregierung durchsetzen können, sie wurde also in ihrer Verhandlungsführung in Brüssel nicht behindert. In insgesamt nur 28 Fällen in den Jahren zwischen 1998 und 2002 habe der Bundesrat, so die Auflistung des Auswärtigen Amtes, die "maßgebliche Berücksichtigung" seiner Stellungnahme gefordert; in 17 Fällen habe der Bund dies abgelehnt, weil er der Auffassung gewesen sei, dass die Bedingungen für die maßgebliche Berücksichtigung der Bundesratspositionen nicht gegeben waren. Der Bundesrat habe dies akzeptiert - wohl auch vor allem deshalb, weil inhaltlich zwischen Bundesregierung und Bundesrat die Positionen "identisch oder weitestgehend identisch" waren, wie die Regierung in ihrer Antwort schreibt. Die Anfrage spiegelt freilich die Sicht des Auswärtigen Amtes wider. Das Bundeskanzleramt verfolgte offensichtlich eine ganz andere Interpretation der Praxis und versuchte in der Folgezeit die Mitglieder der Kommission und vor allem auch die Öffentlichkeit für die eigene Position zu gewinnen; in den Medien wurde gar von einer "Weisung" des Bundeskanzlers an die SPD-Mitglieder in der Kommission gesprochen. In den Folgemonaten bezog Bundeskanzler Schröder sogar persönlich Stellung zu Art. 23: Wenn die Länder in Brüssel "die Bundes-Vertretung übernehmen" würden, führe das, so der Kanzler, "ins Chaos."

Die Sicht der Länder

Die Länder, angeführt von Baden-Württemberg, legten einen ähnlich weit reichenden Vorschlag wie die Befürworter einer "Verschlankung" oder Streichung von Art. 23 GG vor. Der vor allem taktisch zu verstehende Ländervorschlag zielte jedoch in die entgegengesetzte Richtung und verlangte eine Ausweitung der Mitwirkung; er orientierte sich an der Diskussion um die innerstaatliche Entflechtung von Politikbereichen und übertrug dieses Modell einer "vollständigen Entflechtung" auf die Europapolitik. Dieses Modell ist dabei am belgischen Verfahren orientiert, in dem tatsächlich eine klare Aufteilung der Kompetenzen zwischen Föderalstaat und den Regionen bzw. Gemeinschaften festgeschrieben ist. Analog zu diesem Kompetenzkatalog sitzen bei Verhandlungen im Europäischen Ministerrat auf belgischer Seite ganz selbstverständlich die Vertreter der Regionen bzw. der Gemeinschaften am Verhandlungstisch - in einem kleinen Land wie Belgien ein eingespieltes und auf der Basis einer spezifischen politischen Kultur akzeptiertes Verfahren. Eine Übertragung auf die deutschen Verhältnisse ist jedoch aufgrund der ganz unterschiedlichen Ausgangsbedingungen schwer vorstellbar. In dem gemeinsamen Papier der deutschen Ministerpräsidenten wurden neben dem Modell einer "vollständigen Entflechtung" als alternative Option "Präzisierungen der derzeitigen Rechtslage" vorgeschlagen; hier wurde als Ziel die "uneingeschränkte Bindung des Bundes an das Votum des Bundesrates" formuliert.

Die Sicht des Bundes

Neben den Sachverständigen waren es die Vertreter der SPD-Fraktion und einzelne Mitglieder der Bundesregierung, die in verschiedenen internen Papieren und auch öffentlich die Länder für das schwache Auftreten der deutschen Europapolitik in Brüssel verantwortlich machten. Das von Innenstaatssekretär Geiger vorgelegte Papier listete die Probleme der Ländermitwirkung auf. Aus Sicht der Bundesregierung könne eine "optimale Wahrnehmung nationaler Interessen in Brüssel" nur dann erreicht werden, wenn dieBundesrepublik Deutschland "zu jeder Zeit (vor allem auch schon im Vorfeld der eigentlichen Rechtsetzung) in der Lage" sei, "sachkundig und effizient (...) auf die Entscheidungen im Sinne bestmöglicher Interessenwahrnehmung Einfluss" zu nehmen. Angesichts der auf 25 Mitgliedstaaten angewachsenen EU würden verstärkt Entscheidungen mit Mehrheit gefällt, so dass die Bundesregierung noch häufiger überstimmt werden könnte; zudem seien "Paketbildungen", also das Zusammenschnüren von inhaltlich ganz unterschiedlichen Dossiers zu einem "package deal", in der EU von heute noch wichtiger. Deshalb sei eine Struktur vonnöten, die in allen Phasen des europäischen Entscheidungsprozesses "Verhandlungsfähigkeit, Reaktionsfähigkeit und Koalitionsfähigkeit" garantiere. Die Hinweise der Länder, die Erfahrungen mit den bestehenden Kooperationsmechanismen und dem Art. 23 seien insgesamt gut, ließ der Bund nicht gelten: Nicht der Art. 23 und die im Zusammenarbeitsgesetz festgeschriebenen Regelungen hätten sich bewährt, vielmehr habe sich die Mitwirkungspraxis "den europapolitischen Notwendigkeiten angenähert". Deshalb solle, so die Regierung, die geschriebene der gelebten Verfassung angepasst und die Absätze 2 bis 7 des Art. 23 "verschlankt" bzw. komplett gestrichen werden.

Bewertung und Ausblick

Bund und Länder hatten in den Verhandlungen auf ihre jeweilige Nutzenmaximierung gezielt und wollten oder konnten keine für die jeweils andere Seite tragfähigen Kompromisslinien vorlegen. Der Bund argumentierte mit dem worst case-Szenario, wonach die Länder die Möglichkeiten des Art. 23 GG voll ausschöpfen und damit der Bundesregierung in einer EU-25 jeglichen Spielraum bei Verhandlungen in Brüssel nehmen könnten. Die Länder dagegen argumentierten retrospektiv auf der Basis der Erfahrungen einer überschaubareren EU mit 15 Mitgliedstaaten, in der die Veto-Möglichkeiten der Länder kaum ausgereizt worden sind. Da beide Interpretationen der bisherigen Praxis auf ganz unterschiedlichen Prämissen beruhten und zudem Bund wie Länder mit der bisherigen Regelung im Moment (noch) ganz gut leben können, bleibt es zunächst beim Status quo.

Aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit Art. 23 GG und aufgrund der Schwierigkeiten, die Ressorts innerhalb der Bundesregierung auf eine gemeinsame Position zu bringen, mochte es aus Sicht der Bundesregierung einleuchten, zusätzliche Vetospieler wie die Länder aus dem europapolitischen Koordinationsverfahren nach Möglichkeit zu verdrängen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorschlag, die komplette Streichung der Absätze 2 bis 7, also des Kernstücks der Ländermitwirkung in EU-Fragen, auf den ersten Blick plausibel; zumal die Entschließungen des Bundesrates aufgrund ihrer häufig zu beobachtenden Detailliertheit, die vor allem an den Folgen für die Verwaltungspraxis orientiert ist, im Verhandlungsprozess in Brüssel schwer zu kommunizieren sind. Die Perspektive des Bundes verdeckt, dass die Verhandlungsführung in Brüssel aufgrund der Koordinationsprobleme zwischen den Bundesministerien häufig stärker behindert wird als durch Schwierigkeiten bei der Bund-Länder-Koordinierung. Der Position, die Länder wie Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen im politischen Streit um die Praxistauglichkeit des Europa-Artikels 23 eingenommen haben, ist - umgekehrt - nicht zu entnehmen, dass die Länder in der Strukturpolitik und auch in grundsätzlichen Fragen wie etwa der Mitgliedschaft der Türkei in der EU sich auf keine gemeinsame Position einigen können, die sie geschlossen gegenüber dem Bund vertreten könnten.

Den eigentlichen europapolitischen Lackmustest des "Europa-Artikels" wird erst die Praxis einer EU mit 25 Staaten in den kommenden Jahren mit sich bringen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (EUZBLG) und die Vereinbarung vom 29. Oktober 1993 zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Länder über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union in Ausführung von § 9 des Gesetzes vom 12. März 1993 über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union; beide Dokumente sind abgedruckt in: Europarecht, Textausgabe mit einer Einführung von Prof. Dr. Hans-Joachim Glaesner und Prof. Dr. Roland Bieber, Baden-Baden 200214, Dok. 22 und 23.

  2. Vgl. u.a. Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal, 9 (1990), S. 176 - 220.

  3. Rudolf Hrbek, Deutscher Föderalismus als Hemmschuh für die europäische Integration? Die Länder und die deutsche Europapolitik, in: Heinrich Schneider/Mathias Jopp/Uwe Schmalz (Hrsg.), Eine neue deutsche Europapolitik, Bonn 2001, S. 247.

  4. Vgl. dazu Martin Große Hüttmann/Michèle Knodt, Die Europäisierung des deutschen Föderalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 50 (2000) 52 - 53, S. 31 - 38.

  5. Zum "Europäisierungs"-Ansatz vgl. u.a. Roland Sturm/Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 2001.

  6. Zum Konzept des "Mehrebenensystem" vgl. Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Regieren und Institutionenbildung, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 20032, S. 11 - 46.

  7. Vgl. Wolfgang Wessels, Die Öffnung des Staates. Modelle und Wirklichkeit grenzüberschreitender Verwaltungspraxis 1960 - 1995, Opladen 2000.

  8. Zitiert nach Henning Klaus, Die deutschen Bundesländer und die Europäische Union. Die Mitwirkung der Länder am EU-Integrationsprozeß seit dem Vertrag von Maastricht, Köln 1996, S. 9.

  9. Vgl. Christian Engel, Kooperation und Konflikt zwischen den Ländern: Zur Praxis innerstaatlicher Mitwirkung an der deutschen Europapolitik aus der Sicht Nordrhein-Westfalens, in: Rudolf Hrbek (Hrsg.), Europapolitik und Bundesstaatsprinzip, Baden-Baden 2000, S. 53.

  10. Vgl. Charlie Jeffery, The German Länder and Europe: From Milieu-Shaping to Territorial Politics, in: Kenneth Dyson/Klaus H. Goetz (Hrsg.), Germany and Europe: A Europeanized Germany?, Oxford 2003, S. 97 - 108, und Ivo D. Duchacek, Comparative Federalism. The Territorial Dimension of Politics, New York u.a. 1970, S. 356.

  11. Vgl. ausführlich Helge-Lothar Batt, Die Grundgesetzreform nach der deutschen Einheit, Opladen 1996, S. 97 - 109, und Kirsten Schmalenbach, Der neue Europaartikel 23 des Grundgesetzes im Lichte der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, Berlin 1996.

  12. So Wilhelm Hennis, Auf dem Weg in eine ganz andere Republik. Die geplante Verfassungsreform verschiebt die Statik des Grundgesetzes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Februar 1993, S. 35.

  13. Vgl. K. Schmalenbach (Anm. 11), S. 40.

  14. Vgl. H.-L. Batt (Anm. 11), S. 109.

  15. Zu den Details des Art. 23 GG vgl. stellvertretend Christian Calliess, Innerstaatliche Mitwirkungsrechte der deutschen Bundesländer nach Art. 23 GG und ihre Sicherung auf europäischer Ebene, in: R. Hrbek (Anm. 9), S. 13 - 26.

  16. Vgl. Rudolf Hrbek/Martin Große Hüttmann, Von Nizza über Laeken zum Reformkonvent: Die Rolle der Länder und Regionen in der Debatte um die Zukunft der Europäischen Union, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2002, Baden-Baden 2002, S. 577 - 594, und Michael W. Bauer, Der europäische Verfassungsprozess und der Konventsentwurf aus Sicht der deutschen Länder, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2004, Baden-Baden 2004, S. 453 - 475.

  17. Der Spiegel Nr. 46 vom 8. November 2004, S. 80, und Süddeutsche Zeitung vom 13./14. November 2004, S. 10.

  18. Grußwort des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber anlässlich der Eröffnung der Bayerischen Vertretung in Brüssel am 29. September 2004, Manuskript, S. 1.

  19. Vgl. dazu Martin Große Hüttmann, "Wir müssen aus dem Mischmasch raus": Die Europafähigkeit des deutschen Föderalismus, in: Frank Decker (Hrsg.), Föderalismus an der Wegscheide?, Wiesbaden 2004, S. 203 - 222.

  20. Wolfgang Wessels, Lobbying in einem erweiterten Europa - Bedingungen für die Europafähigkeit deutscher Länder: Sieben Thesen, Ms., Köln 2003.

  21. Vgl. Ch. Jeffery (Anm. 10).

  22. Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Stenografischer Bericht, 3. Sitzung, Berlin, den 12. Dezember 2003, S. 66.

  23. Interview mit Wilhelm Schönfelder in Süddeutsche Zeitung vom 14./15. Februar 2004, S. VIII (Wochenendbeilage).

  24. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Thomas Silberhorn u.a. zu Beteiligung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union, Drs. 15/1961, 10.11. 2003, S. 3.

  25. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2004, S. 12.

  26. Interview mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, in: Die Zeit, Nr. 48 vom 18. November 2004, S. 3.

  27. Föderalismusreform - Positionspapier der Ministerpräsidenten (Kommissionsdrucksache 0045), S. 11.

  28. Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Arbeitsgruppe Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (MBO): Vier Beiträge zum Thema Europa von A. Schwall-Düren, P. Nemitz, H.-P. Schneider und I. Pernice, 17. Januar 2004.

  29. Position der Bundesregierung zu Art. 23 GG, Stand: 29.4. 2004 (Kommissionsdrucksache 0041), S. 1 und 3.

  30. Vgl. u.a. Andreas Maurer, Germany: fragmented structures in a complex system, in: Wolfgang Wessels/Andreas Maurer/Jürgen Mittag (Hrsg.), Fifteen into one? The European Unions and its member states, Manchester 2003, S. 115 - 149.

  31. Vgl. Andreas Maurer/Peter Becker, Die Europafähigkeit der nationalen Parlamente: Herausforderungen des EU-Verfassungsvertrags für den deutschen Parlamentarismus, SWP-Studie, Juni 2004, Berlin, S. 27.

geb. 1966; Akademischer Rat an der Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft, Melanchthonstr. 36, 72074 Tübingen.
E-Mail: E-Mail Link: grosse-huettmann@uni-tuebingen.de