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Entwicklungslinien des Atlantischen Bündnisses | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Entwicklungslinien des Atlantischen Bündnisses Die Sicherheitspolitik der Europäischen Union Die nukleare Nichtverbreitungspolitik in der Krise "Counterinsurgency" - Neue Einsatzformen für die NATO? Deutsche Außenpolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel

Entwicklungslinien des Atlantischen Bündnisses

Michael Rühle

/ 19 Minuten zu lesen

Angesichts globaler Bedrohungen hat die Atlantische Allianz ihren "eurozentrischen" Charakter hinter sich gelassen und ist zu einem weltweit operierenden Instrument geworden.

Einleitung

Am 28. und 29. November 2006 treffen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO zu einem Gipfel in der lettischen Hauptstadt Riga. Nach den Gipfeln von Prag (2002) und Istanbul (2004) ist dies das dritte Treffen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Es ist damit der dritte Gipfel auf dem Weg der Allianz von einem "eurozentrischen" Bündnis zu einem Handlungsinstrument im Rahmen einer zunehmend globalen transatlantischen Sicherheitsagenda.

Die Themenpalette des Gipfels ist breit gefächert. Sie reicht von der weiteren Ausdehnung der militärischen Präsenz in Afghanistan bis zur Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen zu Staaten aus der asiatisch-pazifischen Region. Die NATO Response Force soll ihre volle Einsatzbereitschaft erreichen. Die Mitgliedschaftsanwärter auf dem westlichen Balkan, aber auch die Ukraine und Georgien erwarten zumindest ein politisches Signal über den Fortgang des NATO-Erweiterungsprozesses. Die Reform der Planung und Finanzierung von NATO-geführten Einsätzen soll neue Impulse erhalten. Und schließlich dürfte auch die Frage diskutiert werden, wie die Allianz vor dem Hintergrund neuer Unruhen im Nahen Osten ihr Projekt einer Trainingsinitiative für diese Region in die Tat umsetzen kann.

Angesichts dieser breiten Agenda ohne eindeutige Höhepunkte wird es nicht leicht fallen, das öffentliche Interesse an diesem Treffen sicherzustellen. Doch die "introvertierte" Agenda von Riga - mit dem Schwerpunkt auf militärisch-operativen Fragen und ohne die sonst übliche Teilnahme der Partnerstaaten - hat durchaus ihre Berechtigung. Denn die jüngere Entwicklung der NATO ist gekennzeichnet von einer rapiden Zunahme operativer Aufgaben. So reicht das Spektrum heute von Kampfeinsätzen in Afghanistan und "peacekeeping" im Kosovo über maritime Antiterror-Operationen im Mittelmeer bis zu humanitären Hilfsflügen für Erdbebenopfer in Pakistan. Natürlich bleiben auch genuin europäische Ordnungsaufgaben - wie der Fortgang des NATO-Erweiterungsprozesses - auf der Agenda. Doch angesichts der schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan, der noch immer ungewissen Zukunft des Kosovo sowie neuer Anforderungen an die NATO als humanitärer Dienstleister stehen operative Themen im Vordergrund.

Ohnedies ist Riga nicht als isoliertes Ereignis konzipiert. Der nächste Gipfel ist bereits für das Frühjahr 2008, gegen Ende der Amtszeit von US-Präsident George W. Bush, vereinbart und wird sich vermutlich mit öffentlichkeitswirksameren Fragen wie etwa neuen Einladungen zum NATO-Beitritt befassen. Und schon ein weiteres Jahr später bietet der sechzigste Geburtstag des Bündnisses eine erneute Gelegenheit für ein Treffen auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Auch diesem Jubiläumsgipfel im Jahre 2009 dürfte die öffentliche Aufmerksamkeit sicher sein. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel für diesen Zeitpunkt bereits ein neues Strategisches Konzept angemahnt, um das noch immer gültige Dokument von 1999 zu ersetzen.

Diese Serie von NATO-Gipfeln macht deutlich, wie weit der Weg ist, den die Allianz bereits zurückgelegt hat - und noch zurücklegen will. Denn was sich vordergründig als bloße Abfolge von Treffen hochrangiger Politiker und Militärs darstellt, bedeutet nichts weniger als die größte Umgestaltung des Atlantischen Bündnisses seit seiner Gründung im April 1949. Aus einem Bündnis, das ursprünglich zur territorialen Verteidigung Westeuropas entstanden war, ist ein Handlungsinstrument zur Verfolgung gemeinsamer transatlantischer Sicherheitsinteressen ohne geografische Beschränkungen geworden.

Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

Drei Phasen der NATO

Historischen Kategorisierungen mag der Makel des Willkürlichen anhaften; es ist gleichwohl hilfreich, sich die Entwicklung der NATO als einen Prozess zu vergegenwärtigen, der sich in drei Phasen vollzog. Die erste Phase, der Ost-West Konflikt, war mit rund 40 Jahren Dauer die bei weitem längste und dominiert noch heute in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Bild der Allianz. In dieser Phase war die NATO in erster Linie ein Instrument westlicher Selbstbehauptung gegen eine politisch-militärische Herausforderung durch die Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Militärische Aufgabe der NATO war die Verteidigung des Bündnisterritoriums gegen eine Invasion - eine Aufgabe, die unter den spezifischen Bedingungen des Ost-West Konfliktes ausschließlich durch Abschreckung, d.h. durch die bloße Androhung von Gewalt, wahrgenommen werden konnte. Im Rückblick erwies sich Abschreckung als eine Strategie des Zeitgewinns, welche die militärische Option zur Veränderung des politischen Status quo ausschloss, bis der politische Wandel in Osteuropa und der UdSSR schließlich den Ost-West-Gegensatz auflöste.

Die zweite Phase der NATO, vom Fall der Berliner Mauer 1989 bis zu den Terrorangriffen auf die USA im September 2001, war geprägt von einer zunehmenden gesamteuropäischen Verantwortung des Bündnisses. Politisch äußerte sich diese Verantwortung im Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen mit den ehemaligen Gegnern in Mittel- und Osteuropa. Militärisch manifestierte sich die gesamteuropäische Rolle der NATO in ihren "peacekeeping"-Operationen auf dem westlichen Balkan. Diese Einsätze waren bereits Ausdruck der Tatsache, dass ein passiver, allein auf Abschreckung gegründeter Ansatz in den neuen Konflikten keine Wirkung mehr haben würde. Ebenso machten sie deutlich, dass Bündnisinteressen und Bündnisraum nicht mehr deckungsgleich waren und die NATO in die Lage versetzt werden musste, auch jenseits des eigenen Bündnisterritoriums handeln zu können. Diese zweite Phase der NATO endete, ebenso wie die erste, mit einer positiven Bilanz. Das Bündnis hatte sich nicht nur als Rahmen für politische und militärische Transformationsprozesse in Europa bewährt, es konnte auch einen erheblichen Anteil an der Befriedung des westlichen Balkans für sich reklamieren.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 markierten den Beginn der dritten Phase der NATO. Nun war endgültig deutlich geworden, dass die größten Bedrohungen transatlantischer Sicherheit nicht mehr - wie im Kalten Krieg und in seiner unmittelbaren Folgezeit - aus Europa kommen würden, sondern von jenseits des Kontinents. Das traditionelle Selbstverständnis der NATO als eines rein "eurozentrischen" Bündnisses war damit obsolet. Zwar würde die weitere Konsolidierung Europas als eines gemeinsamen Sicherheitsraumes ein wichtiger Teil der NATO-Agenda bleiben, doch angesichts des globalen Charakters der neuen Bedrohungen konnte ein ausschließlich regionaler Ansatz nicht mehr genügen. Die Feststellung des Bündnisfalles nur einen Tag nach den Terroranschlägen war vor diesem Hintergrund mehr als eine bloße Solidaritätsbekundung mit den Vereinigten Staaten. Durch die Anwendung der kollektiven Beistandsverpflichtung auf den Terrorangriff eines "non-state actor" wurde die NATO selbst zum Teil einer globalen Auseinandersetzung.

Neue Dimensionen der Bedrohung

Dass sich diese dritte Phase der NATO als die schwierigste herausstellen würde, war schon früh abzusehen. Für die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen Westeuropa und Nordamerika entstanden war, hatte Stalin Pate gestanden. Die Bedrohung durch eine hochgerüstete Sowjetunion mit expansiver totalitärer Ideologie war für jeden sichtbar - und einsichtig. Entsprechend hoch war der transatlantische Konsens über die Strategien, die es zu verfolgen galt. Eindämmung, gestützt auf militärische Abschreckung, wurde die Politik, über die im Grundsatz weitgehend Einigkeit bestand.

Mit den neuen Bedrohungen verhält es sich hingegen gänzlich anders. Bereits das zentrale Merkmal des Ost-West Konflikts - eine stets sichtbare, territorial fixierte und daher quantitativ wie qualitativ einschätzbare Bedrohung - ist verschwunden. Damit gilt auch die Logik, den militärischen Fähigkeiten des Gegners nahezu spiegelbildliche eigene Fähigkeiten entgegenzuhalten, nicht mehr. Und auch die im Ost-West Konflikt kultivierte Annahme, eine lange Vorwarnzeit würde der NATO den rechtzeitigen Aufwuchs der eigenen Kräfte ermöglichen, ist gegenüber terroristischen Bedrohungen ohne Bedeutung. Mehr noch: Ein Angriff des Warschauer Paktes hätte für die NATO-Verbündeten politische und militärische Zwänge geschaffen, die nationale Alleingänge ausgeschlossen hätten. Die Entscheidung über Art und Umfang einer Antwort auf einen Terrorangriff bleibt dagegen zunächst dem unmittelbar betroffenen Staat vorbehalten. Und die kollektive Betroffenheit ist letztlich ebenso abgestuft wie die anschließend praktizierte kollektive Solidarität. Gleiches gilt für den Versuch, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen durch einen kollektiven Ansatz einzudämmen. Auch hier ist die Bedrohung nicht mehr für alle Bündnispartner dieselbe; die nationalen Spielräume sind größer geworden.

Dass die NATO angesichts dieses weitreichenden sicherheitspolitischen Epochenwandels zunächst in eine Krise geriet, kann daher kaum überraschen. So führte bereits die Feststellung des Bündnisfalles nicht zu der von manchen Beobachtern erhofften NATO-geführten Operation in Afghanistan. Stattdessen gab Washington zunächst einer weitaus größeren "coalition of the willing" den Vorzug. Und nur ein Jahr später führte die Irak-Kontroverse die Allianz an den Rand des offenen Bruchs. Die in Washington vor dem Hintergrund der spezifischen "9/11"-Erfahrung getroffene Entscheidung, durch den Einsatz überlegener militärischer Macht politische Veränderungen im Nahen Osten zu erzwingen, um so gleichermaßen gegen den Terrorismus wie auch die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen vorzugehen, ging für viele Europäer zu weit. Die Folge war eine der schwersten Krisen im Bündnis, deren Nachwirkungen noch lange spürbar sein werden.

Kernelemente der NATO-Reform

Inzwischen hat sich die Lage zum Besseren gewendet. Die Extrempositionen in der Irak-Debatte sind längst diskreditiert. Die in manchen Washingtoner Kreisen kultivierte Auffassung, Amerika sei auf Verbündete letztlich nicht angewiesen, ist ebenso an der rauen Wirklichkeit gescheitert wie die Hoffnung mancher Europäer, die EU als "Gegenmacht" zu den USA positionieren zu können. Weder verlieren die USA das Interesse an Europa oder der NATO, noch gibt es in Europa ernstzunehmende Stimmen, die einer Abkehr vom Bündnis mit Amerika das Wort reden. Inzwischen setzt sich auch die Auffassung durch, dass die Dissonanzen in den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen der vergangenen Jahre nicht allein Resultat der kontroversen Politik der Bush-Administration sind, sondern in erster Linie das Ergebnis struktureller Veränderungen der internationalen Sicherheitslandschaft. Und ebenso reift die Erkenntnis, dass dieser sicherheitspolitische Paradigmenwandel neue Formen der transatlantischen Zusammenarbeit erfordert. Der transatlantische Schulterschluss bei dem Versuch, die nuklearen Ambitionen des Iran einzuhegen, ist nur ein Indiz für dieses Umdenken.

Für die NATO markierten "9/11" und der Irak folglich nicht den Anfang vom Ende der Allianz, sondern sind vielmehr Ausgangspunkte für ihre umfassende Reform. Denn ungeachtet der Weiterentwicklung der EU wird sich ein Großteil des transatlantischen Anpassungsprozesses der kommenden Jahre im Rahmen der NATO vollziehen. Gelingt der Allianz diese Modernisierung, so kann sie sich künftig amerikanischen und europäischen Interesses gleichermaßen sicher sein. Denn am Ende dieses Prozesses stünde eine neue Qualität transatlantischer Sicherheitskooperation, die weit über die traditionelle Aufgabe der Friedenssicherung in Europa hinausreicht. Ein Blick auf die wesentlichen Aspekte der NATO-Reform zeigt, wie weit diese Umgestaltung bereits vorangeschritten ist. Zugleich wird jedoch deutlich, wie hoch die Anforderungen geworden sind, die das erweiterte Aufgabenspektrum an die Allianz stellt.

Funktionale Sicherheit

Alle Verbündeten sind sich im Grundsatz einig, dass das sicherheitspolitische Szenario des Kalten Krieges für die transatlantische Sicherheitskooperation heute nicht mehr alleine maßgebend sein kann. Wie Henry Kissinger treffend formuliert hat, kann das Überleben eines Staates heute von Entwicklungen abhängen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates vollziehen. Dies gilt für den Terrorismus aus einem "failed state" wie Afghanistan ebenso wie für die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, aber auch für humanitäre Katastrophen. Hier reicht ein passiver Sicherheitsansatz nicht mehr aus. Diese Bedrohungen müssen dort angegangen werden, wo sie entstehen - auch und gerade außerhalb Europas.

Durch die Übernahme des Oberbefehls über die Internationale Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) im August 2003 hat die NATO diesen Paradigmenwandel vollzogen und den geografischen Sicherheitsbegriff zugunsten eines funktionalen Ansatzes aufgegeben. Anders als in den Jahrzehnten zuvor, in denen die USA erfolglos eine geografische Entgrenzung der NATO propagiert hatten, wurde der Afghanistan-Einsatz von allen Verbündeten mitgetragen. Im Kontext von "9/11" gelang den transatlantischen Partnern somit in der Praxis, was ihnen in der Theorie nie gelungen war: die NATO als Organisationsrahmen für militärisches Handeln auch außerhalb Europas zu etablieren. Die Gefahr einer Abkoppelung der NATO von der neuen Sicherheitsagenda - und damit der Reduzierung der transatlantischen Zusammenarbeit auf "coalitions of the willing" - wurde damit gebannt.

Militärische Transformation

Ein funktionaler, nicht mehr auf Europa beschränkter Sicherheitsansatz erzwingt vor allem von den Europäern neue militärische Fähigkeiten. Unter den NATO-Verbündeten herrscht inzwischen Konsens darüber, dass es sich kein Staat mehr leisten kann, Streitkräfte allein zur Territorialverteidigung zu unterhalten. Die Notwendigkeit, Soldaten und Ausrüstung rasch in weit entfernte Krisenregionen verlegen zu können, ist heute ebenso unbestritten wie die Notwendigkeit, das gesamte Spektrum vom Kampfeinsatz bis zur Friedenserhaltung abdecken zu können. Die Einrichtung eines ausschließlich für die militärische Transformation verantwortlichen strategischen NATO-Oberkommandos, zahlreiche NATO-Initiativen zur Verbesserung militärischer Schlüsselfähigkeiten und nicht zuletzt die Aufstellung der NATO Response Force sind deutliche Schritte in diese Richtung.

Ein weiterer wichtiger Schritt, um den wachsenden operativen Beanspruchungen besser gerecht zu werden, ist eine Reform des NATO-Streitkräfteplanungsprozesses. Hierfür wurde in einem Grundlagendokument, der so genannten "Comprehensive Political Guidance" (CPG), die auf dem Gipfel in Riga veröffentlicht werden soll, ein Steuerungsmechanismus geschaffen, der die Prioritäten und Direktiven der einzelnen Planungsausschüsse regelmäßig auf ihre Übereinstimmung mit den übergeordneten politischen Leitlinien überprüft. Auch die Finanzierungsmechanismen bei gemeinsamen Einsätzen werden von manchen Nationen als reformbedürftig erachtet, da sie sich bereits als Hindernis bei gemeinsamen Operationen erwiesen haben.

Die Frage nach NATO-eigenen militärischen Fähigkeiten stellt sich ebenfalls neu. Ein bündniseigener "pool" von Schlüsselkapazitäten, wie etwa strategischen Transportflugzeugen, verspräche rasche Verfügbarkeit, finanzielle Einsparungen und vor allem ein geringeres Risiko nationaler Vorbehalte. Ähnlich verhält es sich mit Forderungen nach integrierter multinationaler Logistik. Sie verspräche nicht nur geringere Kosten, sondern auch eine bessere Koordination der nationalen militärischen Beiträge bei gemeinsamen Operationen. Schließlich wird auch ein intensivierter Austausch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse angestrebt - eine Grundvoraussetzung für die Terrorismusbekämpfung.

Institutionelle Vernetzung

Die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen ist ein weiteres Merkmal der NATO-Reform. Durch ihr militärisches Eingreifen kann die NATO zwar Konflikte beenden und ein sicheres Umfeld für den politischen und wirtschaftlichen Neuanfang im Krisengebiet herstellen. Die Organisation dieses Neuanfangs - "nation-building" im besten Sinne des Wortes - kann jedoch nur mit anderen Akteuren geleistet werden. Ein sich selbst tragender Frieden, der es der NATO gestattet, sich wieder zurückzuziehen, erfordert das Engagement der Vereinten Nationen, der Europäischen Union sowie zahlreicher nichtstaatlicher Organisationen. Ziel der NATO muss es daher sein, sich mit diesen Akteuren frühzeitig und umfassend abzustimmen.

Die Zusammenarbeit der NATO mit den Vereinten Nationen hat sich in jüngster Zeit intensiviert. In der UN ist die Erkenntnis gereift, dass die NATO über zahlreiche Fähigkeiten verfügt, die es nutzbar zu machen gilt. So kam die Unterstützung der Darfur-Mission der Afrikanischen Union durch die NATO auf ausdrücklichen Wunsch der Vereinten Nationen zustande. Allerdings kontrastiert die gute Zusammenarbeit in Krisengebieten noch immer mit einem Mangel an Konsultation auf der institutionellen strategischen Ebene. Eine gemeinsame Erklärung von NATO und UN soll schon bald die Grundlage für neue Formen des institutionellen Dialoges bilden.

Der Aufbau einer echten "strategischen Partnerschaft" zwischen der NATO und der Europäischen Union gehört zu den vorrangigen institutionellen Gestaltungsaufgaben der kommenden Jahre. Eine zum eigenständigen politischen und militärischen Handeln fähige EU bedeutet die wohl größte institutionelle Veränderung innerhalb der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft seit ihrer Gründung vor fast sechs Jahrzehnten. Damit ist zugleich die traditionelle Arbeitsteilung, in der der europäische Integrationsprozess die militärische Sicherheit ausklammerte und faktisch der NATO überließ, hinfällig geworden. Gefragt sind neue Formen der Zusammenarbeit, die nicht nur der EU den Zugriff auf die militärischen Fähigkeiten der NATO gestatten, sondern die spezifischen zivilen Fähigkeiten der Union mit den militärischen Fähigkeiten der NATO zu einem schlüssigen Krisenmanagement zusammenführen.

Trotz der Bekenntnisse beider Institutionen zu einer strategischen Partnerschaft ist ein echter Durchbruch in diesen Beziehungen bislang ausgeblieben. Ein Grund hierfür sind prozedurale Probleme, die sich aus der Tatsache ergeben, dass die Mitgliedschaften beider Organisationen nicht deckungsgleich sind. Weitaus schwerer wiegt jedoch die Furcht mancher EU-Staaten, die Union könnte durch allzu enge Beziehungen zur militärisch dominanten NATO von letzterer faktisch vereinnahmt werden. Diese Sorge der EU um ihre Autonomie hat bisher eine umfassende Zusammenarbeit der beiden Organisationen über den Balkan hinaus verhindert. Angesichts der operativen Realität moderner Kriseneinsätze, die einen holistischen Ansatz geradezu erzwingt, dürfte diese künstliche Begrenzung der NATO-EU-Agenda jedoch nicht von Dauer sein.

Globale Partnerschaften

Vor dem Hintergrund einer inzwischen de facto global operierenden NATO stellt sich auch die Frage nach neuen Ansätzen in der Partnerschaftspolitik. Über die Erfolge dieser Politik beim Aufbau einer euroatlantischen Sicherheitskultur nach dem Ende des Kalten Krieges besteht bei Verbündeten wie Partnern gleichermaßen Einigkeit. Auch ihr militärisch-strategischer Wert ist unbestritten. Die Tatsache, dass alle gegenwärtigen NATO-Operationen mit der Beteiligung von Partnerstaaten stattfinden, belegt dies eindrucksvoll. Inzwischen zeichnet sch jedoch ab, dass selbst weit entfernte Länder aus dem asiatisch-pazifischen Raum durch ihre bereits demonstrierten oder potenziellen militärischen Beiträge zu NATO-geführten Operationen einen neuen Stellenwert erlangen, der früher oder später durch engere formale Beziehungen mit der Allianz honoriert werden muss. So haben Australien und Neuseeland bereits in diesem Sommer eigene Streitkräfte der NATO-geführten ISAF unterstellt, und auch die Außenminister Japans und Südkoreas besuchten das NATO-Hauptquartier in Brüssel, um Möglichkeiten vertiefter Kooperation mit dem Bündnis auszuloten. In diesen Ländern geht man zu Recht davon aus, dass die NATO in einem Zeitalter globaler Herausforderungen künftig mehr und mehr als Kern größerer Koalitionen handeln wird. Für diese Staaten ebenso wie für die Allianz ist es daher nur folgerichtig, sich politisch und militärisch aufeinander zu zu bewegen.

Geopolitische Neuausrichtung

Ein weiteres Merkmal der Umgestaltung der NATO ist die verstärkte Konzentration auf den so genannten "Broader Middle East" - eine Entwicklung, die nach "9/11" und dem Irakkrieg unumgänglich geworden war. Erste Schritte in diese Richtung waren die 2004 beschlossene Aufwertung des NATO-Mittelmeerdialogs mit den Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, die Zusammenarbeit der NATO mit Staaten der Golfregion sowie dieAusbildung irakischer Sicherheitskräfte inner- und außerhalb des Landes. Als nächster Schritt ist die Einrichtung eines Ausbildungszentrums in einem Land des Nahen Ostens vorgesehen. Die vor allem in den USA immer wieder diskutierte Option einer NATO-Rolle bei der Implementierung eines nahöstlichen Friedensabkommens ist gegenwärtig zwar keine vorrangige Frage, sie ist jedoch ein weiteres Indiz dafür, dass das Potenzial an transatlantischer Zusammenarbeit noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Die zunehmende militärische Präsenz der NATO in Afghanistan hat das Bündnis auch veranlasst, neue politische Kontakte in der Region zu knüpfen. Mit Afghanistan wurde ein spezifisches Kooperationsprogramm vereinbart, um die Reform der afghanischen Sicherheitsinstitutionen zu fördern. Die Aufnahme formalisierter Beziehungen zu Pakistan dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Schließlich werden sich auch die Beziehungen zum afrikanischen Kontinent, die sich bislang ausschließlich auf die Mittelmeeranrainer beschränken, in den kommenden Jahren vertiefen. So könnte die NATO die Entwicklung der Afrikanischen Union zu einem wirksamen Krisenmanager durch Hilfe bei Ausbildung und Logistik befördern helfen.

Politischer Dialog

Die Veränderungen der internationalen Sicherheitslandschaft seit "9/11" und die transatlantischen Dissonanzen über den Irak-Krieg haben den Verbündeten eindringlich vor Augen geführt, dass die Diskussion über die Zukunft der NATO nicht mehr ausschließlich unter dem Blickwinkel der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten geführt werden kann. Die Irak-Krise hatte wenig mit den einschlägig bekannten transatlantischen militärischen Asymmetrien zu tun, umso mehr dagegen mit asymmetrischen Bedrohungswahrnehmungen. Anders formuliert: Die schwerste Krise in der jüngeren Geschichte der NATO war nicht das Ergebnis eines Mangels an kollektiver militärischer Macht, sondern entsprang dem fehlenden politischen Konsens über deren kollektive Anwendung. Auch wenn sich eine solche Kontroverse nicht wiederholen sollte, so bleiben gleichwohl zahlreiche andere sicherheitspolitische Grundsatzfragen - von der Zukunft des nuklearen Nichtverbreitungsregimes bis zur Sicherung der Energieversorgung -, die keine quasi-automatischen Antworten mehr zulassen. Kontroverse Diskussionen über neue Herausforderungen und den richtigen Umgang mit ihnen werden daher nicht mehr die Ausnahme sein, sondern die Regel.

Vor diesem Hintergrund ist es ein unabdingbarer Bestandteil der NATO-Reform, den Verbündeten wieder ein Forum für eine echte Strategiedebatte zu bieten. Viele der regelmäßigen Außen- und Verteidigungsministertreffen sind inzwischen informeller Natur und ermöglichen so den Gedankenaustausch ohne diplomatisches Ritual. Auch die "brainstormings", in denen sich die NATO-Botschafter mit zukunftsorientierten Themen auseinander setzen, haben sich bewährt. Dem Nordatlantikrat soll durch die Delegierung bestimmter Aufgaben an untergeordnete Ausschüsse mehr Zeit zur Diskussion verschafft werden. Und schließlich ist auch eine stärkere Einbeziehung der politischen Direktoren vorgesehen.

Eine solche "Streitkultur" (NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer) setzt aber noch weit mehr voraus. Wer wirklich vorausschauend diskutieren will, muss auch solche Fragen erörtern, die vielleicht keine unmittelbare militärische, wohl aber sicherheitspolitische Relevanz haben. Nur wenn sich dieses weiter gefasste Verständnis von Dialog durchsetzt, wird es möglich sein, aktuelle sicherheitspolitische Themen in einer angemessenen Weise zu diskutieren. Solange jede Diskussion in der NATO unter dem Generalverdacht steht, letztlich nur der Vorbereitung militärischer Operationen zu dienen, wird eine aufschlussreiche Debatte beispielsweise über den Iran oder die Zukunft der Energiesicherheit kaum führbar sein. Vor allem aber müssen die Regierungen die Bereitschaft aufbringen, die NATO als Forum aktiv zu nutzen - auch wenn man in manchen Fragen auch künftig vertrauliche Absprachen im kleineren Kreis vorziehen wird.

Die Zukunft der Allianz

Es liegt auf der Hand, dass die Feststellung, die NATO definiere sich heute in erster Linie durch ihre konkreten Operationen, nicht völlig befriedigen kann. Die Sorge, eine solche Allianz werde zur bloßen Krisenfeuerwehr degenerieren, hat folglich immer wieder Forderungen nach der Formulierung einer politischen Zweckbestimmung des Bündnisses laut werden lassen. Häufig wird die Auffassung vertreten, ein neues politisches Grundsatzdokument könne, analog zum Harmel-Bericht von 1967, der NATO wieder die Orientierung geben, die ihr in einer unübersichtlichen Sicherheitslandschaft verloren gegangen sei.

Doch ein neues Grundsatzdokument dürfte nicht annähernd die Wirkung haben, die der Harmel-Bericht einst erzielen konnte. Vieles spricht vielmehr dafür, dass ein solches Dokument unter den gegenwärtigen Umständen kaum mehr sein könnte als eine Ansammlung von Beschwörungsformeln zurtransatlantischen Freundschaft. Es überrascht daher nicht, dass sich die meisten Befürworter zum Inhalt eines solchen Dokuments ausschweigen oder sich mit der vagen Hoffnung begnügen, bereits der Erarbeitungsprozess selbst entfalte eine therapeutische Wirkung auf die Verbündeten. Diejenigen hingegen, die den Versuch einer Reduzierung der NATO auf eine griffig formulierte Kernfunktion nicht scheuen, enden mit der politisch wie militärisch unrealistischen Forderung, die NATO möge sich künftig als "Allianz für die Freiheit" ganz dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus verschreiben. Derartige Vorschläge sind Versuche am untauglichen Objekt. Die NATO ist längst zur multifunktionalen Sicherheitsorganisation geworden, die sich nicht mehr über "mission statements" definiert, sondern über ihre Fähigkeit, auf eine Vielzahl unterschiedlicher Probleme Antworten geben zu können. Wie NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer formulierte, werden Institutionen heute nicht mehr danach beurteilt, was sie zu sein vorgeben, sondern danach, was sie tatsächlich zu leisten imstande sind.

Die Weiterentwicklung der NATO wird also auch künftig nicht von Grundsatzdokumenten abhängen, sondern in erster Linie davon, wie sie die Herausforderungen einer Epoche der "globalisierten Unsicherheit" (Christoph Bertram) bewältigt. Die jüngsten Einsätze der NATO haben bereits zahlreiche politische, militärische und finanzielle Probleme aufgeworfen, die eine Klärung erforderlich machen. So hat der Afghanistan-Einsatz ein Auseinanderklaffen von politischem und militärischem " commitment" erkennen lassen, das sich als Unschlüssigkeit vieler Nationen über den sicherheitspolitischen Stellenwert dieser Operationen deuten lässt. In der NATO-Ausbildungsmission im Irak wiederum sind nach wie vor nicht alle Verbündeten durch eine militärische Präsenz vertreten. Und der Lufttransport für Truppen der Afrikanischen Union nach Darfur hat ebenso wie der Einsatz bei der Erdbebenhilfe in Pakistan die Frage aufgeworfen, welchen Stellenwert humanitäre Hilfsoperationen künftig im Aufgabenspektrum der Allianz einnehmen sollen.

Neben diesen wachsenden operativen Herausforderungen bleiben zahlreiche strukturelle Asymmetrien, die das transatlantische Verhältnis belasten. So ist das militärische Machtgefälle zwischen Europa und den Vereinigten Staaten inzwischen so ausgeprägt, dass es die Fähigkeit zu gemeinsamen militärischen Operationen der Verbündeten einschränkt. Die Folgen sind offenkundig. Die USA werden sich immer wieder vor die Frage gestellt sehen, ob die militärischen Beiträge der Verbündeten die Unterordnung Washingtons unter das Konsensprinzip der NATO rechtfertigen, oder ob man besser die unilaterale Option verfolgt und lediglich die politische Solidarität der Verbündeten einklagt. Weitaus bedeutsamer als der militärische Beitrag der Verbündeten wäre dann deren politische Bereitschaft, eine potenziell kontroverse und risikoreiche Politik mitzutragen.

Aber auch weltanschauliche Unterschiede, die die transatlantische Zusammenarbeit erschweren könnten, bestehen fort. Eilte die amerikanische Strategiediskussion der europäischen schon immer voraus, so hat sie sich nach "9/11" noch deutlicher auf Themen konzentriert, die in Europa nach wie vor nur unvollkommen rezipiert werden. Hierzu zählen Raketenabwehr, Proliferation oder " catastrophic terrorism" ebenso wie die sicherheitspolitischen Konsequenzen eines erstarkenden China oder die Demokratisierung des Nahen Ostens. Der europäische Reflex, diesen Fragen durch die Warnung vor einem zu militärischen Blickwinkel oder die Beschwörung von "soft power" auszuweichen, hat sich zwar abgeschwächt; es bleibt aber eine Tatsache, dass ein global orientiertes, aktivistisches Amerika die Anpassung an die neue sicherheitspolitische Lage schneller, radikaler und auch risikofreudiger vorantreibt als ein nach wie vor regional orientiertes, auf den eigenen Einigungsprozess konzentriertes Europa. Diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Anpassung werden künftig hohe Anforderungen an die Gestaltung der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen stellen.

Bleibt schließlich noch die gesellschaftspolitische Dimension. Der NATO-Einsatz in Afghanistan hat die engen Grenzen aufgezeigt, innerhalb derer ein demokratisch verfasstes Staatenbündnis operieren muss. So offenbaren sich in den Vorbehalten mancher Nationen über die Verwendung der eigenen Streitkräfte in Kampfeinsätzen deutliche Unterschiede in der Risikobereitschaft - ein Faktor, der sich für eine operativ mehr und mehr beanspruchte NATO als schwere Hypothek erweisen könnte. Vor allem aber hat dieser Einsatz die Schwierigkeiten bloßgelegt, den Rückhalt in Politik und Bevölkerung der Mitgliedstaaten zu garantieren. Die Tatsache, dass die westliche Öffentlichkeit noch immer Mühe hat, weit entfernte Einsätze als unmittelbar relevant für die eigene Sicherheit zu begreifen und bei Verlusten an Menschenleben den Sinn der Mission insgesamt infrage stellt, zeigt, dass die Zukunft der NATO nicht zuletzt von einem gesellschaftlichen Lernprozess abhängt. An dessen Ende muss die Erkenntnis stehen, dass Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr durch Abschreckung, sondern nur noch durch aktives Handeln gewährleistet werden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Rede auf der 42. Münchener Sicherheitskonferenz, 4.2. 2006, in: www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?id=170&sprache=de&print=&">www.securityconference.de/konferenzen/rede.php?id=170&sprache=de&print=& (24. 8. 2006).

  2. Vgl. Michael Rühle, Sicherheit in Zeiten des Terrors, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 2. 2006, S. 6.

  3. Vgl. Henry A. Kissinger, America's Assignment, 8.11.2004, www.msnbc.msn.com/id/6370244/site/newsweek/print/1/displaymode/1098 (24. 8. 2006).

  4. Die zentrale Forderung des Harmel-Berichts, durch eine Kombination von Verteidigungsbereitschaft und Dialog eine gerechte Friedensordnung für Europa, einschließlich einer Überwindung der deutschen Teilung, herbeizuführen, war 1967 ein bedeutender Schritt, um einer krisengeschüttelten NATO eine Langzeit-Perspektive zu verschaffen. Heute jedoch mit ähnlichen Forderungen für andere Regionen, wie etwa für den Nahen Osten aufzuwarten, wäre sinnlos, weil die Erreichung eines solchen Zieles weit jenseits der Fähigkeiten der Allianz läge.

  5. So der ehemalige spanische Ministerpräsident José Maria Aznar in der von ihm in Auftrag gegebenen Studie NATO: An Alliance For Freedom, FAES, Madrid 2005. Aznar fordert darin auch die Aufnahme Israels, Australiens und Japans in die NATO, eine Assoziierung Indiens und Kolumbiens sowie eine Rolle der NATO bei der Terrorbekämpfung im Inneren.

  6. Vgl. Jaap de Hoop Scheffer, Speech at the OSCE Council, 3. 11. 2005, in: www.nato.int/docu/speech/2005/s051103a.htm (24. 8. 2006).

Geb. 1959; Leiter des Referats für Politische Planung und Reden in der Abteilung für Politische Fragen und Sicherheitspolitik der NATO, Brüssel.
E-Mail: E-Mail Link: ruehle.michael@hq.nato.int