Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das Ende der DDR 1989/90 | Das letzte Jahr der DDR | bpb.de

Das letzte Jahr der DDR Editorial Das Ende der DDR 1989/90. Von der Revolution über den Mauerfall zur Einheit Verpasste Chancen im 41. Jahr Umkämpftes Erbe. Zur Aktualität von "1989" als Widerstandserzählung "1989" als Erzählung Die Treuhand und die Privatisierung der DDR-Presse West-Berlin. Stimmungsbilder aus dem letzten Jahr

Das Ende der DDR 1989/90 Von der Revolution über den Mauerfall zur Einheit

Ilko-Sascha Kowalczuk

/ 22 Minuten zu lesen

In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeutschen hoffnungslos. Nur eine kleine Minderheit engagierte sich für Veränderungen. Am Ende des Jahres war die Freude grenzenlos – die Hoffnungslosigkeit hatte sich in Glück verwandelt, für die absolut meisten Menschen ohne eigenes Zutun.

Die Mauer fiel nicht einfach 1989. Die kommunistische Diktatur war an ihr Ende gekommen. Angefangen hatte es mit der mächtigen freien Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen am Anfang des Jahrzehnts. Die Welt schaute dann im Herbst 1989 atemlos nach Ostdeutschland, nach Ost-Berlin. "Wahnsinn" war der meist gebrauchte Ausruf. Es begann eine Zeit, als die Realität fast täglich die Fantasie überholte. Bis dahin war kaum einem Zeitzeugen bewusst geworden, dass er sich inmitten eines rasanten historischen Prozesses befand. Noch eben gerade, so schien es vielen, auf der Standspur verharrend, befanden sich auf einmal gleich mehrere Gesellschaften im Ostblock auf der Überholspur, und das mit überhöhtem Tempo.

Von der Krise zum Aufbruch

Die Inthronisierung Michail Gorbatschows im März 1985 zum Führer des Weltkommunismus war der Versuch, das Projekt des Kommunismus zu retten. Gorbatschow war nicht Reformator wider Willen, aber er wurde wider Willen zum Sargnagel des kommunistischen Systems. Das bislang geschlossene System hatte seine Logik. Der verschweißte Deckel hatte die Explosion verhindert. Die leichte Öffnung des Deckels durch Gorbatschow aber ließ den Dampf in alle Richtungen heraus, unkontrolliert, unbeabsichtigt und nicht mehr steuer- und kontrollierbar. Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber Glasnost und Perestroika von SED-Chef Erich Honecker nicht widersinnig, sondern systemlogisch. Offenbar war ihm die Kesseltheorie eingeschrieben, nämlich dass eine leichte Öffnung unweigerlich zur Explosion führe.

Gorbatschows Reformpolitik entfachte Hoffnungen in der DDR-Gesellschaft. Wenn in Moskau Reformen möglich waren, so die Meinung vieler, so müsse sich doch auch in der DDR etwas verändern lassen. Jahrelang hatte die SED versprochen, Morgen, in der Zukunft, würde alles "noch" besser werden. "Morgen" blieb in den Vorhersagen der Ideologiewächter nicht nur stets weit weg von der Gegenwart, Mitte der 1980er Jahre entrückte die verheißungsvolle Zukunft immer stärker ins Nimmerland. Der gefühlte Abstand zum Westen und seine offenkundigen Verheißungen, wie sie via TV allabendlich in Millionen ostdeutsche Wohnzimmer flimmerten, wurden immer größer. Gleichzeitig schwanden die Hoffnungen auf die Zukunft, je mehr sich die Crew um Honecker gegenüber der sowjetischen Reformpolitik abschirmte. Sie regierte nicht nur gegen die Mehrheit der Bevölkerung, sie verlor auch immer mehr Terrain unter jenen, auf die sie sich bislang verlassen konnte: die 2,3 Millionen Mitglieder der SED und die nochmals knapp 500.000 Mitglieder der eng mit der SED verknüpften vier Blockparteien (CDU, LDPD, DBD, NDPD). Zur Diktaturwirklichkeit gehörte, dass Millionen Menschen das System aktiv unterstützten und mittrugen.

Die Revolution von 1989 lässt sich nicht monokausal erzählen oder erklären. Die DDR trug in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre viele Züge einer Zusammenbruchsgesellschaft. Zugleich war die Gesellschaft stark fragmentiert und zerrissen, was durch die unterschiedlichen Positionen zur und Erfahrungen mit der SED-Herrschaft gekommen war. Zudem hatte sich der Lebensstandard seit Ende der 1950er Jahre zwar erheblich verbessert. Aber die Menschen wurden nicht zufriedener, weil der Abstand zum Westen zusehends wuchs. Honecker erfand 1971 eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im Kern von dem Gedanken getragen wurde: "So wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten müssen." Die Menschen sollten sozial befriedet werden. Offiziell verband sich damit ein sozialpolitisches Programm, das die Lebensbedingungen der Menschen verbessern und die entbehrungsreiche Nachkriegszeit beenden und auf einer modernen und effizienten Wirtschaft basieren sollte, die die großzügige Sozialpolitik wie im Selbstlauf finanzieren würde.

Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die DDR als Schwellenland einzustufen. Die Arbeitsproduktivität der DDR erreichte gegen Ende der 1980er Jahre nur noch rund ein Drittel der bundesdeutschen. Die internationale Verschuldung wuchs und führte die DDR an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Die Investitionsquote schrumpfte in den 1980er Jahren. Die Menschen wurden satt, aber die Kosten dafür waren extrem. Die Subventionen für die Agrarproduktion stiegen, die Nahrungsmittelpreise aber blieben konstant. Die SED-Sozialpolitik wurde teuer erkauft. Für den Staat war sie teuer, weil viele Ressourcen, die dringend in Investitionen hätten umgeleitet werden müssen, für zukunftslose Subventionen und Sozialprogramme verschleudert wurden und so genau das Gegenteil des politisch-ideologischen Ziels – die Legitimierung des Systems – bewirkten. Die Menschen nahmen am Ende der 1980er Jahre die Sozialleistungen des SED-Staates als Selbstverständlichkeit hin, ihre Legitimationskraft war verbraucht. Die Kehrseite der Sozialpolitik stand vor aller Augen: Man wusste, dass billige Mieten zugleich eine heftig umstrittene Wohnungsbaupolitik als Schattenseite zur Folge hatten. Die Menschen spöttelten: "Ruinen schaffen ohne Waffen". Günstige Fahrpreise konnten die zerrüttete Infrastruktur, billige Bücher Zensur oder Mediengleichschaltung nicht kompensieren. Hunderttausende Menschen hatten zwar einen festen Arbeitsplatz, ohne aber einer sinnvollen Arbeit nachgehen zu können. Die Lebenserwartung nahm seit Beginn der 1980er Jahre entgegen einem internationalen Trend leicht ab. Die Umwelt war ein besonderes Krisensymptom geworden. Die DDR zählte in den 1980er Jahren zu den größten Umweltsündern Europas.

Die Bundesrepublik als Schaufenster in den Westen wirkte wie ein Pfahl im Fleische. Auch die Kirchen erfüllten diese Funktion bereits durch ihr bloßes Vorhandensein. Sie waren die einzigen Großinstitutionen, die im Weltanschauungsstaat programmatisch gegen die kommunistische Ideologie standen. Mit ihren Synoden und ökumenischen Versammlungen wurden sie zu Orten, wo demokratische Regeln und Verhaltensweisen eingeübt wurden. Es war kein Zufall, dass im Herbst 1989 so viele Pfarrer und Theologen zu den Wortführern der Bürgerrechtsbewegungen avancierten.

Anfänge der Revolution

Der Fall der Berliner Mauer begann am 2. Mai 1989 in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische Regierung an, die Grenzbefestigungen zu Österreich abzubauen. Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock zerschnitten am 27. Juni in einer öffentlichen Inszenierung symbolisch den ungarischen Stacheldrahtzaun. In den Jahren und Monaten zuvor war die Zahl derjenigen, die aus der DDR flüchteten, einen Ausreiseantrag gestellt hatten oder "offiziell" ausreisen durften, ständig gestiegen. Im ersten Halbjahr hatten bereits rund 100.000 Menschen der DDR für immer den Rücken gekehrt. Darunter waren vor allem junge, gut ausgebildete und gut verdienende Männer und Frauen.

Im Mai 1989 feierte auch die Opposition ihren ersten großen Erfolg. Die SED veranstaltete am 7. Mai eine Wahlfarce wie in all den Jahrzehnten zuvor. Aber erstmals konnten Oppositionsgruppen nachweisen, was ohnehin viele wussten: Die Ergebnisse der landesweiten Kommunalwahlen waren systematisch gefälscht worden. Die Empörung über die plumpe Fälschung reichte bis weit in die SED-Reihen hinein und trug wesentlich dazu bei, dass auch innerhalb systemnaher Kreise die Zweifel an der SED-Politik zunahmen. Die verbreitete Empörung wuchs noch an, als die DDR-Regierung die brutale militärische Niederschlagung der chinesischen Oppositionsbewegung Anfang Juni 1989 lautstark begrüßte. Die Menschen in der DDR verstanden die Botschaft: Auch ihnen würde bei Massenprotesten und einem Aufstand die Niederschlagung mit Panzern drohen. Fortan war die Angst vor der "Chinesischen Lösung" präsent.

Im Sommer verschärfte sich die Krise durch mehrere Faktoren. Die SED-Führung schien sich in den Urlaub verabschiedet zu haben. Bis Oktober waren keine neuen Töne vernehmbar. Zudem verabschiedeten sich Zehntausende Menschen für immer: Sie flüchteten über Ungarn und bundesdeutsche Botschaften in die Freiheit. Und die kleine Opposition suchte nach alternativen Handlungsformen. In rascher Folge kamen Gründungsaufrufe für neue Bewegungen heraus. Bislang hatten sich viele Menschen gefragt, ob sie sich dem Flüchtlingsstrom anschließen sollten. Nun gab es eine Alternative, die nicht mehr nur Hierbleiben oder Weggehen, sondern nun auch Einmischen oder weiter Schweigen hieß. Und natürlich auch: weiterhin das Regime zu unterstützen. Die meisten verhielten sich, wie bei jeder Revolution, passiv, warteten ab, hofften im Stillen. Revolutionen sind immer Kämpfe von Minderheiten um die Mehrheit.

Die Opposition erschien mit ihren verschiedenen Aufrufen eigentümlich zersplittert. Aber im September erwies sich dies als ein kaum zu überschätzender Vorteil. Gerade weil die meisten Oppositionellen bis auf wenige Ausnahmen weithin unbekannt waren, trug dieses Gründungsfieber erheblich zur Mobilisierung der Gesellschaft bei. Denn die rasch aufeinanderfolgenden Nachrichten von immer neuen Aufrufen – der für das Neue Forum war der berühmteste und wirkmächtigste – erweckten in der Öffentlichkeit den Anschein, dass an vielen Orten ganz unterschiedliche Personen völlig unabhängig voneinander nicht mehr schweigend der Krise zuschauen wollten und andere Handlungsoptionen als die Flucht wählten. Das mobilisierte ungemein. Die Westmedien trugen entscheidend dazu bei, dass die Aufrufe bekannt wurden und sich bald jeder fragen musste, wo er eigentlich selbst steht. Das hatte zur Folge, dass ab Mitte September 1989 die DDR von einer wochen-, ja monatelangen Flut von Aufrufen, Resolutionen, offenen Briefen und bald auch immer wieder neuen Vereinsgründungen überzogen wurde.

Mitte September begann Zeit in der DDR einen neuen Wert anzunehmen, was sich ab Mitte Oktober geradezu dramatisch verstärken sollte. Zeit war fast die einzige Sache, die es in der DDR zuhauf gab; sie schien bis zum Sommer 1989 stillgestanden zu haben. Nun auf einmal raste alles. Die Zeit überholte sich dauernd selbst, so schien es jedenfalls. Ab Anfang September trafen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Leipzig und bald auch in anderen Städten zu regelmäßigen Demonstrationen. Die Gesellschaft war in Bewegung geraten, aber noch Mitte Oktober wagte sich nur eine kleine Minderheit auf die Straßen und in die Kirchen.

Der Revolutionstag: 9. Oktober 1989

Am Montag, 9. Oktober, herrschte eine unglaubliche Anspannung im gesamten Land. Es gab nur ein Thema: Kommt heute Abend in Leipzig die "Chinesische Lösung" oder kommt sie nicht? In vier Leipziger Kirchen hatten sich am Nachmittag Tausende Bürgerinnen und Bürger zum Montagsgebet eingefunden. Als sie etwa eine Stunde später die Kirchen verließen, warteten draußen bis zu 70.000 Demonstranten. Zehntausende skandierten: "Wir sind das Volk!" Um 18.35 Uhr entschieden Leipziger SED-Funktionäre, nicht einzugreifen. Um 19.15 Uhr rief der ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Egon Krenz in Leipzig an und segnete diese Entscheidung nachträglich ab.

Von diesem Tag an war klar, dass die Revolution friedlich verlaufen würde, das Regime hatte de facto kapituliert. Der 9. Oktober 1989 in Leipzig war zum symbolischen "14. Juli" der ostdeutschen Revolution geworden. Initiiert worden war er von einer kleinen Gruppe Oppositioneller, die seit Jahren aktiv war. Sie hatten seit dem 4. September den Rufen "Wir wollen raus" von Ausreisewilligen ihr trotziges "Wir bleiben hier" entgegengesetzt. Ihnen schlossen sich erst Dutzende, dann Hunderte, schließlich Tausende und Zehntausende an. Am 18. Oktober gab die SED den Rücktritt Honeckers bekannt. Die Maueröffnung am 9. November war von der SED-Führung bereits in einem Planspiel im August 1989 ersonnen worden: den Kessel kurzzeitig öffnen, um ihn dann wieder hermetisch abzuschließen. Nach dem 9. November gelang dies nicht mehr, obgleich auch noch solche Ideen erwogen wurden. Die Inszenierung der Maueröffnung durch Egon Krenz und dem ZK-Sekretär für Informationswesen Günter Schabowski war ein großes Schauspiel zweier politischer Dilettanten, die nicht einmal ansatzweise mit diesen Folgen gerechnet hatten.

Vom Runden Tisch zu freien Wahlen

Nach dem Mauerfall war das Schicksal von SED und DDR besiegelt. Die DDR war nur als politische, ökonomische, gesellschaftliche Alternative zur Bundesrepublik denkbar. Mitte November schien aber noch vieles ungewiss. Die Blockparteien profilierten sich von Tag zu Tag stärker als eigenständige politische Kräfte. Mit der Wahl des Rechtsanwalts Lothar de Maizière zum Parteichef am 10. November begann die Ost-CDU auf Reformkurs einzuschwenken, die LDPD hatte damit schon Mitte Oktober vorsichtig begonnen. Die Oppositionsgruppen blieben für die Massenmobilisierung zuständig. Nun, da die Zukunft wieder offen schien, zeigten sich alle – ganz natürlich – überfordert. Die SED versuchte die unübersichtliche Situation zu nutzen, um selbst in die Offensive zu kommen. Nachdem bis Ende Dezember rund 900.000 Mitglieder die Partei verlassen hatten, betrug ihre Mitgliederzahl offiziell immer noch 1,463 Millionen. Daneben kontrollierte sie bis auf die Tageszeitungen der Blockparteien alle DDR-Medien. Die gesamte Parteistruktur mit Zehntausenden hauptamtlichen Funktionären sowie die flächendeckende Infrastruktur waren komplett intakt. Den Oppositionsgruppen stand davon nichts zur Verfügung.

Zwei Wochen vor seinem Rücktritt kündigte Honeckers Nachfolger Krenz am 22. November an, sich an einem "Runden Tisch" zu beteiligen – eine Forderung, die von der Opposition seit Wochen erhoben worden war. Die erste Sitzung des Zentralen Runden Tisches, an dem Regierung und Opposition über die Machtübergabe zu verhandeln begannen, fand am 7. Dezember statt. Die Einberufung bedeutete einen politischen Sieg der Opposition. Der Zentrale Runde Tisch wollte die "Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation in unserem Land" bewirken und Vorschläge zur Krisenüberwindung vorlegen. Als Kontrollorgan forderte er "von der Volkskammer und der Regierung, rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen informiert und einbezogen zu werden". In diesem Selbstverständnis wird deutlich, wie sehr sich die oppositionellen Teilnehmer bewusst waren, dass ihnen eine demokratische Legitimation fehlte, sie nur demokratische Wahlen vorbereiten könnten und daher Kontrollaufgaben wahrnehmen und die Öffentlichkeit informieren müssten.

Der Wahlkampf begann am 19. Dezember. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte erfahren, dass der französische Staatspräsident François Mitterrand am 20. Dezember zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Ost-Berlin kommen werde. Sein Besuch galt weniger Hans Modrow – das SED-Politbüromitglied war seit 13. November Ministerpräsident – und der DDR, sondern verdeutlichte seine kritische Haltung zur Wiedervereinigung. Es war eine Machtdemonstration, die sich an die Adresse von Kohl richtete. Der hatte das durchaus verstanden: Die deutsche Einheit war zu haben, aber zugleich müsse Europa gestärkt daraus hervorgehen. Kohl eilte am 19. Dezember nach Dresden, um vor Mitterrand in der DDR politische Zeichen zu setzen. Zehntausende Dresdner empfingen ihn mit einem Fahnenmeer. Immer wieder skandierte die Menge "Deutschland, Deutschland" und feierte den Kanzler. Der zeigte sich tief bewegt und forcierte anschließend das Tempo zur Einheit. Auch Kohl erlag dem Druck der Straße. In Ost-Berlin demonstrierten am nächsten Tag ebenfalls Zehntausende, nun aber, um gegen die "drohende" Wiedervereinigung und Kanzler Kohl, der immer stärker zur Zielscheibe der Einheitsgegner und -kritiker wurde, zu protestieren.

Bis zum Wahltag am 18. März 1990 sah es so aus, als würden die Sozialdemokraten überlegen gewinnen. Alle Prognosen deuteten darauf hin. Der Wahlkampf war allein geprägt von der Frage, wie die deutsche Einheit gestaltet werden könnte. Die Allianz für Deutschland aus CDU, Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokratischem Aufbruch (DA) stand für den schnellsten Weg zur Einheit. Ihre Formel lautete: "Sofortige Einführung der DM." Mehr konnte niemand bieten. Damit waren Wahlversprechen verbunden wie die Umstellung der Löhne, Renten und vor allem Sparkonten im Verhältnis von 1:1 (DDR-Mark zu D-Mark). Die Versprechen waren unhaltbar. Heute nennt man so etwas Populismus.

Als am Wahlabend im Fernsehen die ersten Hochrechnungen bekannt gegeben wurden, überraschte lediglich die hohe Wahlbeteiligung niemanden. Sie lag nach dem amtlichen Ergebnis bei 93,4 Prozent. Die Allianz erhielt 48 Prozent der Stimmen (CDU 40,8 Prozent, DSU 6,3 Prozent, DA 0,9 Prozent). Der prognostizierte Wahlsieger SPD lag bei 21,9 Prozent. Die SED/PDS folgte mit 16,4 Prozent, fast 1,9 Millionen Wahlberechtigte hatten sich für die Kommunisten und Postkommunisten entschieden. Das liberale Bündnis brachte es auf 5,3 Prozent. Die Bürgerrechtsbewegung ging unter. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher gratulierte Kanzler Kohl zum Wahlsieg, was den Nagel auf den Kopf traf.

Auffällig am Wahlergebnis waren ein deutliches Nord-Süd-, ein Stadt-Land-Gefälle sowie Unterschiede zwischen "Hand- und Kopfarbeitern" im Wahlverhalten; je kleiner die Städte und Gemeinden, desto höher war der Anteil der Stimmen für die Allianz. In fast 100 von 237 Stadt- und Landkreisen, vor allem im Süden, erhielt die Allianz über 50 Prozent der Stimmen. In 13 Kreisen erhielt die SPD weniger als zehn Prozent, davon lagen zwölf im Bezirk Dresden. Mehr als 30 Prozent errang sie in 40 Stadt- und Landkreisen, darunter alle elf Ost-Berliner Stadtbezirke, 15 von 19 Potsdamer Kreisen und neun von zwölf in Frankfurt/Oder. Hinzu kamen die Städte Magdeburg, Rostock und Wismar sowie die Kreise Templin, Prenzlau und Grevesmühlen. Die SED/PDS wurde in 35 Kreisen (Schwerpunkte der thüringische Bezirk Erfurt und der sächsische Bezirk Karl-Marx-Stadt) mit weniger als zehn Prozent Wähleranteilen abgestraft. Das beste Ergebnis mit 38,4 Prozent erhielt sie in Berlin-Hohenschönhausen, wo besonders viele MfS-Mitarbeiter und SED-Funktionäre wohnten. In weiteren acht Kreisen votierten mindestens 30 Prozent für die SED, darunter neben Frankfurt/Oder-Stadt, Neubrandenburg-Stadt und Ueckermünde fünf weitere Ost-Berliner Stadtbezirke. Die Listenverbindung Bündnis 90 (Neues Forum, Initiative Frieden und Menschenrechte, Demokratie Jetzt) erhielt nur in den elf Ost-Berliner Stadtbezirken sowie den Städten Leipzig und Dresden mehr als fünf Prozent Stimmenanteile. Die höchsten verbuchte sie im Prenzlauer Berg mit 8,5 Prozent.

Die Stimmen für die Allianz verteilten sich nach Männern und Frauen etwa gleich, bei den Altersgruppen votierten überdurchschnittlich viele aus den Gruppen der 40- bis 59-Jährigen für die Allianz, obwohl die Differenzen zu den Jüngeren wie den Älteren nicht sonderlich signifikant ausfielen. Doch die eigentliche Sensation bot die Wahlanalyse bezogen auf die soziale Zusammensetzung der Wähler: Die Allianz "als Partei der Arbeiter" war unerwartet, überraschend, sensationell. Mehr als jeder zweite Wähler der Allianz war Arbeiter oder Arbeiterin – aber ebenso wählte mehr als jeder zweite von ihnen die Allianz. Die Unterschiede zum alten Bundesgebiet waren dramatisch, vor allem was die SPD anbelangte. Bereits bei den ersten freien Wahlen 1990 zeigte sich also, dass der Osten anders tickt – ganz anders sogar.

Zunächst aber gehörte es vielleicht zur besonderen Ironie der Geschichte, dass der "Arbeiter-und-Bauern-Staat", die SED-Diktatur, den demokratisch legitimierten Todesstoß ausgerechnet von jenen erhielt, in deren Namen das Gesellschaftsexperiment jahrzehntelang gegen Widerstände, Widerwillen und mit vielen Opfern durchgepeitscht worden war. Die andere Seite dieser Geschichtsironie ist nicht komisch, sondern tragisch: Denn ausgerechnet jene Wählergruppe, die der CDU ganz entscheidend zu den Wahlsiegen verhalf, war im Transformationsprozess jene soziale Gruppe, die am meisten "verlor": Wie sich schnell zeigte, war keine Gruppe so von Arbeitslosigkeit und "Strukturumbrüchen" betroffen wie die Arbeiter.

Neue Erfahrungen

Der Wahlausgang am 18. März bedeutete eine politische, wirtschaftliche und sozialpolitische Richtungsentscheidung. Die eingeschlagene Richtung wurde durch die Verträge, die zum 1. Juli 1990 die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion einleiteten, bestätigt und durch den Einigungsvertrag langfristig befestigt. Die "Schockwirkungen" dieser Entwicklungen wurden ab Sommer 1990 sichtbar, erstreckten sich über die nächsten Jahre und spitzten sich sozial immer weiter zu. Die Revolution hatte ihr institutionelles Korsett gefunden. Künftige Historikerinnen und Historiker werden darüber zu befinden haben, wann die Vereinigungsgeschichte "beendet" war – wahrscheinlich im ersten Dezennium des 21. Jahrhunderts.

Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer brachte Anfang August 1990 auf den Punkt, was sich seit 1. Juli 1990 in der DDR abspielte: Ihm käme es so vor, als würde versucht werden, während einer rasanten Autofahrt die Reifen zu wechseln. Die soziale Problemlage baute sich in der DDR schneller auf als erwartet – aber der allgemein herrschende zukunftsorientierte Optimismus in der ostdeutschen Gesellschaft schien ungebrochen. Dies wurde befördert durch Bilder von rasch "blühenden Landschaften" im Osten und dem noch im Sommer 1990 von der Bundesregierung gebetsmühlenartig wiederholten "Versprechen", die Lohn- und Lebensniveauanpassung an die alte Bundesrepublik würde in drei bis fünf Jahren erreicht sein.

1989 wies die DDR 9,7 Millionen Beschäftigte auf, Ende 1993 waren es noch 6,2 Millionen. Bereits im Laufe des ersten Halbjahres 1990 stieg die Zahl an Arbeitslosen rasch. Waren im Januar offiziell 7.440 Menschen arbeitslos, lag deren Zahl im Juni schon bei 142.096. Dieser Trend verstärkte sich ab 1. Juli 1990. Ende Juli stieg die Zahl der Arbeitslosen auf 272.017, im September auf 444.856 und zum Jahresende auf 642.000. Auf Kurzarbeit waren Ende September bereits 1.728.749 Menschen. Der Anteil der Facharbeiter bei den Arbeitslosen betrug etwa zwei Drittel, hinzu kamen noch rund 20 Prozent un- oder angelernte Arbeiter. Über die Hälfte der Arbeitslosen waren weiblich, im Laufe des Jahres 1991 begann der Anteil zwei Drittel zu erreichen, sodass doppelt so viele Frauen erwerbslos gemeldet waren als Männer. Die Verlierer(innen) waren Arbeiterinnen.

Dieser Arbeitsmarktrend wurde dadurch noch verschärft, dass im Herbst 1990 die Arbeitslosenquote im alten Bundesgebiet auf den niedrigsten Stand seit 1981/82 sank, zugleich die Konjunktur im Westen deutlich angekurbelt wurde, das Bruttoinlandsprodukt stieg, während es im Osten dramatisch einbrach. Der arbeitsmarktpolitische Kontrast zwischen Ost und West hätte 1990/91 größer kaum sein können – ein Kontrast, der in den 1990er Jahren bestehen blieb, obwohl es ab 1993 im alten Bundesgebiet ebenfalls zum Konjunktureinbruch und zum signifikanten Anstieg der Arbeitslosenzahlen kam.

Hinzu kommt noch, dass die statistisch errechnete Arbeitslosenquote für den Zeitraum 1990 bis 1994 die reale Arbeitslosigkeit nur sehr unzureichend erfasst: Letztere war jedoch entscheidend für ostdeutsche Wahrnehmungen des Einheitsprozesses. Einerseits setzte sie die Erwerbstätigen erheblich unter Stress, weil Arbeitslosigkeit als Gefahr über fast allem schwebte. Andererseits bedeuteten gerade Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Umschulungsmaßnahmen oder Kurzarbeit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre oft nichts anderes, als real arbeitslos zu sein oder zu werden. Die Maßnahmen brachten oft nichts und frustrierten nur noch mehr, Hunderttausende durchwanderten mehrere ABM oder Umschulungen, um nach Auslaufen der "Förderungen" endgültig und nunmehr offiziell arbeitslos zu werden.

Besondere Formen der Arbeitslosigkeit, die für den mentalen Teil des Vereinigungsprozesses meist unterschätzt werden, finden gar keinen Eingang in die Statistiken: Die Vorruhestandsregelungen zum Beispiel haben ganze Jahrgänge der über 55-Jährigen aus dem Arbeitsprozess herausgelöst, sodass sie in den offiziellen Statistiken gar nicht als arbeitslos gelten. Aber auch Männer und Frauen im Rentenalter, von denen in der DDR 1989 etwa 15 Prozent noch arbeiteten, berücksichtigt keine Statistik. Weitere Phänomene waren die hohe Zahl befristeter Arbeitsverträge sowie Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse. Hinzu kam, dass noch 1990 der Ausbildungsmarkt im Osten dramatisch einbrach und so ein Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen statistisch unberücksichtigt blieb. Mit anderen Worten: Die Arbeitslosenstatistiken spiegeln nur einen Teil jener Problemlage, die für die sozialgeschichtliche Betrachtung des Transformationsprozesses entscheidend ist. Ganz zu schweigen davon, was das bisher unbekannte Damoklesschwert reale oder drohende Arbeitslosigkeit für die betroffenen Familien psychisch hieß, selbst wenn nur eine Person betroffen war. Es gab wohl kaum eine ostdeutsche Familie, die in den 1990er Jahren nicht davon betroffen war: ein Phänomen, das in keiner Lebensplanung vorgesehen war.

Die Sozialstruktur Ostdeutschlands veränderte sich grundlegend: "Nach der Vereinigung hat sich das Wachstum des tertiären Sektors [Dienstleistungsbereich] zu Lasten des sekundären Sektors [Industrie und Handwerk] und des bereits stark geschrumpften primären Sektors [Landwirtschaft] fortgesetzt. Die erhebliche Tertiärisierungslücke der DDR – diese hinkte um ca. 25 Jahre hinter der Bundesrepublik her – wurde quasi über Nacht beseitigt. Im Zuge der schmerzlichen Krisen der ostdeutschen Industrie und Landwirtschaft wurde eine Entwicklung, die in Westdeutschland 25 Jahre gedauert hatte, innerhalb von drei Jahren nachgeholt."

1989/90 galt in Ostdeutschland etwa die Hälfte aller Beschäftigten als "Arbeiter". Schnell war es weniger als ein Viertel – der ostdeutsche Arbeiter war bereits bis 1994 aus seiner sozialstrukturellen Dominanzrolle zur sozialstrukturellen Minorität geschrumpft, deren Zukunftsaussichten nicht sonderlich rosig waren. Diese Entwicklung entspricht einem Trend in westlichen Industriegesellschaften. Der Transformationsprozess hat diese Entwicklung radikal befördert, ist dafür aber nicht allein verantwortlich. Hier zeigte sich bereits eine andere Tendenz: In Ostdeutschland hatte sich der Wandel in einer radikalen Beschleunigung gezeigt, wie es bislang in der westlichen Welt untypisch war. Erst Jahre später sollte sich erweisen, dass das Tempo der Veränderungen in Ostdeutschland nicht etwas ganz Spezifisches gewesen war, sondern im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung allgemein typisch werden sollte. Die nachholende Modernisierung war so auch zu einem vorausgehenden Entwicklungstrend geworden, zumindest was die Geschwindigkeit anbelangte.

Hoffnungen und Erwartungen

Kohls aus Anlass der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in einer Fernsehansprache geäußerte Zuversicht, es würde niemandem schlechter gehen als zuvor und überall würden "blühende Landschaften" entstehen, entsprach exakt den Vorstellungen der allermeisten Menschen im Osten, die am 18. März 1990 für die Allianz gestimmt hatten. Genug der Experimente, genug der Schaufenster, nun endlich wollte eine übergroße Mehrheit selbst im Schaufenster leben.

Im Prinzip hätte man bereits an diesem Wahlabend ahnen können, was das eigentlich für die Zukunft des Landes hieß: Wenn eine Gesellschaft sich der Diktatur entledigt, ein großer Teil befreit wird, nur der kleinere Teil sich selbst befreit hat und zugleich dem großen Teil die neue Freiheit schenkt, ohne dass dieser etwas dafür tun musste, ohne dass dieser anschließend irgendetwas tun muss, dann kann das nicht folgenlos bleiben. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hatten 1990 in Ostdeutschland von Anfang an einen schweren Stand, weil die offene Gesellschaft als Geschenk "von oben" für die Mehrheit daherkam und "von unten" sie nur von einer Minderheit angestrebt worden war. Hinzu kam, dass die ersten Erfahrungen mit dem neuen Staat für viele Menschen unerfreulich waren: Arbeits- und Sozialämter sowie Institutionen des Rechtsstaats. Zudem saßen in fast allen wichtigen Führungspositionen bald schon Personen aus dem Westen, die nicht selten wenig Verständnis für die anders gelagerten Erfahrungen der ihnen nun unterstellten Ostdeutschen aufbrachten. Sozialpsychologisch gesehen, geht der Mensch mit dem Selbsterrungenen, dem Selbsterkämpften sorgsamer um, ist es eher bereit zu verteidigen, als wenn ihm etwas geschenkt wird. Hinzu kam, dass Millionen Menschen sich nun in einem System zurechtfinden mussten, das ihnen nie jemand erklärt hat, und auch später vielen nie erklärt wurde.

Der Wahlausgang am 18. März 1990 war ein Hinweis, wie stark die ostdeutsche Gesellschaft bereit war, die Diktatur gegen neue Heilsversprechen einzutauschen. Ganz offenkundig hatte der Osten die "Schnauze voll" von "Zukunft". Kaum jemand hatte Lust, erneut auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten. Die Zukunft sollte jetzt und heute beginnen. Kanzler Kohl war der gute Onkel aus dem Westen, der die Geschenke verteilen würde. Freiheit und Demokratie hieß für die meisten lediglich, "richtiges Geld" zu besitzen. Im Prinzip war das eine Situation, in der Kohl als neuer Patriarch agieren musste – selbst wenn er es nicht gewollt hätte.

In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeutschen hoffnungslos – ohne Hoffnung, dass sich bald etwas ändern würde. Nur eine kleine Minderheit engagierte sich für Veränderungen. Eine größere Minderheit war so hoffnungslos, dass sie wegging, flüchtete und große Gefahren für das eigene Leben in Kauf nahm. Von diesem Staat war nichts zu erwarten, so der weitverbreitete Tenor. Am Ende des Jahres war die Überraschung, Freude bei allen, ob aktiv oder passiv, schier grenzenlos – die Hoffnungslosigkeit hatte sich in pures Glück verwandelt, für die absolut meisten Menschen ohne eigenes Zutun.

Die Gesellschaft ging dementsprechend in das Jahr 1990 und die folgende Wiedervereinigung ganz anders als in das Jahr zuvor mit sehr, sehr hohen Erwartungen. Sie waren gespeist von einem traditionellen Etatismus. Dieser neue Staat versprach dann auch das Blaue vom Himmel herunter: "D-Mark", "blühende Landschaften", "es wird niemanden schlechter gehen" – die Hochglanzkataloge der Versandhäuser und das Westwerbefernsehen schienen nicht mehr nur Schaufensterversprechen zu sein, sondern alsbald Lebensrealität. Der bundesdeutsche Staat würde dafür sorgen. Für Ostdeutsche änderte sich alles. Die kaum Grenzen kennenden Hoffnungen bargen ein sehr hohes Enttäuschungspotenzial bereits in sich, weil sich viele einer Täuschung hingaben: Der Staat würde es richten.

Für viele Ostdeutsche wurde der Westen tatsächlich zum Glück, zum Erfolg, zum erträumten oder wenigstens erwarteten Leben in Freiheit und Wohlstand. Für viele andere trat das nicht ein. Sie wurden tief enttäuscht, nicht nur, weil sie überspannte Erwartungen gehegt hatten, sondern weil sie gar keine Chance bekamen, ein Leben jenseits staatlicher Alimentierungen zu entfalten. Und viele Gruppen wurden enttäuscht: Opfer der Kommunisten, weil sie der Rechtsstaat nicht gebührend zu würdigen und entschädigen wusste. Treue SED-Systemgänger, weil sie sich benachteiligt und gedemütigt vorkamen. Arbeiter, weil sie keine Arbeit mehr fanden. Kinder, weil ihre Eltern aufgrund sozialer Nöte mental abwesend waren. Wissenschaftler, weil ihr Wissen niemand mehr zu benötigen schien. Bauern, weil die Landwirtschaft ohne sie auskam. Bürgerrechtler, weil die Bürger ihren Rat und ihr Engagement nicht würdigten, nicht benötigten. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Wie vor 1989 erscheint Ostdeutschland auch heute als eine stark fragmentierte, tief gespaltene, in sich zerrissene und zerstrittene Gesellschaft. Keine Frage: Dies ist der Normalfall menschlicher Gesellschaften, aber auch ein Problem, wenn eine solche Gesellschaft in die Zukunft aufbricht. Heute fehlt dem Osten die Jugend und damit der Zukunft wichtigster Garant.

Anerkennung und Missachtung

Der größte politische Irrtum in Deutschland und Europa liegt am Beispiel Ostdeutschlands offen: Die Annahme, wer sozial befriedet und zufrieden sei, werde Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat, sprich die westlichen Werte, wie von selbst stützen, stimmt nicht. In dem Maße, in dem die Ostdeutschen sozial im Westen angekommen waren, fingen sie an, sich von ihm zu distanzieren. Zunächst nutzte dafür ein Drittel bis zur Hälfte der Gesellschaft die PDS beziehungsweise Die Linke und andere Populisten, seit Mitte der 2010er Jahre die AfD und deren Umfeld. Dieses Reaktionsmuster ist kein typisch ostdeutsches. Es lässt sich so oder ähnlich in vielen Regionen der Welt beobachten. Anerkennung und Missachtung gehen Hand in Hand. Fehlt Anerkennung, wird das als Missachtung wahrgenommen. Anerkennung ist eine Bedingung für Selbstanerkennung. Fehlende Selbstanerkennung und wahrgenommene Missachtung können in Gewalt münden. Und Anerkennung ist eine oft unterschätzte Vorbedingung für Freiheit, die "als eine Art von nach innen gerichtetem Vertrauen zu verstehen" ist, "das dem Individuum Sicherheit sowohl in der Bedürfnisartikulation als auch in der Anwendung seiner Fähigkeiten schenkt". Überall auf der Welt sehen wir große Gesellschaftsgruppen, die sich nicht anerkannt fühlen, die sich als zurückgesetzt wahrnehmen, die sich als ausgegrenzt bezeichnen. Es geht nicht einmal um die Frage, ob es so ist oder nicht – und meistens stimmt das durchaus –, denn tatsächlich ist die Macht von Emotionen wirkungsvoller als jede Sozialstatistik. Emotionen verbinden, Statistiken sind kalt.

Ostdeutschland hat bis heute einen vergeblichen Kampf um Selbstanerkennung geführt. Die in der DDR existierende Spaltung der Gesellschaft schien 1989/90 kurzzeitig aufgehoben zu sein – doch diese Wahrnehmung war eine Illusion. Noch 1990 ist die alte Spaltung öffentlich geworden, die sich nun rasch durch neue Spaltungstendenzen aufgrund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen erweiterte, verfestigte und zugleich von ihnen überlagert worden ist. Deswegen kann die heutige Situation in Ostdeutschland auch nicht allein mit den Jahren seit 1990 erklärt werden. Die ostdeutschen Erfahrungsräume im 20. Jahrhundert parzellierten die Gesellschaft – je nachdem, wie man wo in den verschiedenen Staatssystemen stand. Der Transformationsprozess hat das verstärkt, weil die hinzugetretenen Führungskräfte fast durchweg mit anderen Erfahrungen, Einstellungen, Vorstellungen und Herangehensweisen Takt und Richtung vorgaben. Eine "Durchmischung" Ost und West fand in der Breite nicht statt, "Westler" traten vorwiegend als Vorgesetzte in Erscheinung. Die "Ostler" nahmen sich häufig als unterlegen, deklassiert und Befehlsempfänger war. Die Rolle hatten die Ostdeutschen zwar lange genug gelernt. Ihnen ist aber seit 1990 unentwegt mitgeteilt worden, sie seien nun selbst die Macher. Das wurden sie aber nicht: Weil die einen nicht konnten, die anderen nicht durften, die nächsten nicht wollten und diejenigen, die es ausfüllten, in den Augen der anderen Ostdeutschen alsbald nicht mehr als Ostdeutsche galten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe die umfassende Darlegung Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 20153.

  2. Siehe z.B. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Berlin 2007; ders. (Hrsg.), Überholen ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen Geschichte?, Berlin 2006.

  3. Jan Priewe/Rudolf Hickel, Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frankfurt/M. 1991, S. 91.

  4. Vgl. ausführlich Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

  5. Zit. nach Ulrike Füssel, Ein Reifenwechsel in voller Fahrt. Die Lage in den DDR-Betrieben ist schlimmer als befürchtet, in: Frankfurter Rundschau, 8.8.1990.

  6. Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Entwicklungen und theoretische Erklärungsmodelle, Bonn 2010, S. 16.

  7. Vgl. etwa Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt/M. 200511; ders., Unverfügbarkeit, Wien-Salzburg 2018; ders., Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 20186.

  8. Siehe dazu ausführlich Kowalczuk (Anm. 4).

  9. Exemplarisch steht dafür der jüngste Streit um die Fragen, ob Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig eine Festrede halten sollte oder wie der Charakter der Revolution von 1989 einzuschätzen sei. Siehe hierzu Externer Link: http://www.havemann-gesellschaft.de/themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989.

  10. Vgl. Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, Frankfurt/M. 2000.

  11. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 19982, S. 278f.

  12. Vgl. Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege, Frankfurt/M. 2017.

  13. Vgl. Kowalczuk (Anm 5.).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Ilko-Sascha Kowalczuk für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt vergleichende Widerstands- und Revolutionsgeschichte. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die DDR. Gegenwärtig schreibt er eine Biografie über Walter Ulbricht.