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Politisches Engagement in Europa

Katja Neller Jan W. van Deth Jan W. van Katja Neller / Deth

/ 15 Minuten zu lesen

Im Hinblick auf das politische Engagement in Europa ergeben sich teilweise große Unterschiede. Die Trennlinien verlaufen dabei nicht nur zwischen etablierten und postkommunistischen Demokratien.

Einleitung

Politisches Engagement - also politisches Interesse und Beteiligung der Bürger - gilt als notwendige Voraussetzung funktionsfähiger Demokratien. Demokratische Entscheidungen können nur dann tatsächlich demokratisch sein, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihre Präferenzen äußern. Politische Präferenzen setzen aber ein Mindestmaß an politischer Information voraus. Das heißt, die Menschen müssen sich für politische Vorgänge interessieren. Politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger verstehen darüber hinaus etwas von politischen Zusammenhängen und werden vor diesem Hintergrund keine überzogenen Gesamtforderungen an das politische System stellen. Somit ist politisches Engagement auch ein entscheidender Faktor für die Stabilität und Lebensfähigkeit dieser politischen Systeme.

Obwohl die Bedeutung des politischen Engagements allgemein als sehr hoch eingestuft wird, sind die Menschen eher inaktiv und kaum an Politik interessiert. So sind beispielsweise viele Kneipengespräche nicht von Begriffen wie Engagement, Aufmerksamkeit und Involvierung, sondern eher von Enttäuschung, Ablehnung, Desinteresse und Frustration gekennzeichnet. Derartige Charakterisierungen sind bemerkenswert, weil es in den vergangenen Jahrzehnten alles in allem eine Steigerung des politischen Engagements gegeben hat.

Diese Steigerung wird hauptsächlich auf die heutzutage wesentlich höhere Bildung der Bevölkerung zurückgeführt. Allerdings haben wachsender Wohlstand und ein höheres Bildungsniveau auch dazu beigetragen, dass die Politik nicht mehr als notwendiger Teil sozialer Konflikte gesehen wird. Schließlich kann ein Mangel an politischem Engagement auch dem Erfolg traditioneller Politik angerechnet werden, der politisches Interesse und politische Beteiligung quasi "überflüssig" erscheinen lässt.

Wenn man politisches Engagement in Deutschland mehr als 16 Jahre nach dem Fall der Mauer betrachtet, dann muss nach wie vor die unterschiedliche Situation in Ost- und Westdeutschland berücksichtigt werden. Die Bundesrepublik war lange vor der Vereinigung eine funktionsfähige Demokratie, in der bereits in den ersten Nachkriegsjahren ein offenes, pluralistisches System entstand. Spätestens Mitte der siebziger Jahre waren Defizite im Bereich des politischen Engagements in diesem Teil Deutschlands überwunden. In Ostdeutschland erfolgte die Demokratisierung vier Jahrzehnte später als im Westen; dort war die Ausgangslage völlig anders. Erst in der demokratischen Revolution 1989 wurde der Anspruch auf politische Beteiligung geradezu eruptionsartig zum Ausdruck gebracht. Es fand eine bis dahin beispiellose breite Mobilisierung der Bevölkerung unter dem Motto "Wir sind das Volk" statt. Diese grundverschiedenen Ausgangslagen und Erfahrungen in den beiden Teilen Deutschlands scheinen generell für die Entwicklung politischen Engagements in West- und Osteuropa typisch zu sein. Im Westen gehören sowohl konventionelle politische Aktivitäten wie die Beteiligung an Wahlen oder die Unterstützung der Wahlkampfaktivitäten einer Partei als auch Protestformen politischer Partizipation wie die Teilnahme an Demonstrationen zum regulären politischen Repertoire der Bürgerinnen und Bürger. Im Osten sind dagegen eine geringere Nutzung parteibezogener Aktivitäten sowie eine häufigere Teilnahme an Protestaktionen zu erwarten.

Politisches Interesse

Ohne Interesse an der Politik gibt es keine politische Beteiligung, und ohne Beteiligung per definitionem keine Mitbestimmung der Bürgerschaft. Politisches Interesse wird definiert als "(the) degree to which politics arouses a citizen's curiosity". Diese Definition politischen Interesses als "Neugier" entspricht manchen in der Literatur verwendeten Umschreibungen wie "the extent to which an individual pays attention to politics" oder "concern about things political". In empirischen Studien wird seit langem ein Instrument der Selbsteinschätzung eingesetzt, um diese Form von Interesse zu messen. Die im European Social Survey benutzte Frage lautet: Wie sehr interessieren Sie sich für Politik? Sind Sie sehr interessiert, ziemlich interessiert, wenig interessiert oder überhaupt nicht interessiert?

Die mit dieser Frage angesprochene Form von Interesse nennt man auch subjektives politisches Interesse. Abbildung 1 (siehe PDF-Version) zeigt die Ergebnisse dieser Variante des Interesses an Politik in Europa. Aus diesem Überblick ergeben sich verschiedene Schlussfolgerungen. Zunächst wird deutlich, dass es sehr große Unterschiede zwischen den europäischen Ländern gibt. Während sich in den so genannten "alten", d.h. etablierten Demokratien (wie Dänemark, Schweiz oder Schweden) fast zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger "sehr" oder "ziemlich" für Politik interessieren, sind diese Zahlen in anderen Ländern viel niedriger. Insbesondere in Spanien, Griechenland und der Tschechischen Republik verfolgt nur eine Minderheit das politische Geschehen. In der kurzen Periode zwischen den beiden Wellen des European Social Survey (2002/2003 und 2004) haben sich diese Unterschiede zwischen den Ländern kaum geändert. Zwar sank das Interesse in mehreren Ländern (u.a. West- und Ostdeutschland) um einige Prozentpunkte, während insbesondere in Spanien ein Anstieg wahrnehmbar ist; von grundlegenden Verschiebungen ist aber nichts zu spüren. Die mehr oder weniger konstanten, erheblichen Differenzen zwischen den Ländern sind nur teilweise auf Unterschiede in persönlichen Merkmalen oder gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen. Viel eher scheint der unterschiedliche Stand der sozioökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Länder für die Unterschiede relevant zu sein.

Diese Feststellung verweist bereits auf eine zweite Schlussfolgerung aus den in Abbildung 1 präsentierten Ergebnissen (siehe PDF-Version). Das Niveau des politischen Interesses liegt in Osteuropa im Durchschnitt weit unter dem Niveau in Westeuropa. Dennoch sind es eher die bereits erwähnten etablierten Demokratien Nord- und Westeuropas, welche sich von den anderen Ländern sowohl in Süd- als auch in Osteuropa abheben. Offensichtlich ist das politische Interesse der Bürgerinnen und Bürger eng mit der Dauer der Erfahrungen mit demokratischen Prozessen verbunden.

Dass eine solch allgemeine Schlussfolgerung jedoch mit Vorsicht zu betrachten ist, geht klar aus der Position der beiden Teile Deutschlands in Abbildung 1 hervor (siehe PDF-Version). Mit etwa 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die sich deutlich für Politik interessieren, gehört Deutschland - trotz seiner außergewöhnlichen Ausgangslage - zur europäischen Spitzengruppe. Kann man für die Erklärung des westdeutschen Niveaus noch auf die gelungene demokratische "Resozialisation" in den fünfziger und sechziger Jahren hinweisen, ist es für das erstaunlich hohe Niveau des politischen Interesses in Ostdeutschland viel schwieriger, eine plausible Erklärung zu finden. Deutlich ist, dass das während der Revolution 1989 entstandene Engagement nach der Vereinigung nicht verschwunden ist, sondern sich fast mühelos an das westdeutsche Niveau angeglichen hat. Damit unterscheidet sich die Entwicklung in der DDR klar von der in anderen postsozialistischen Transformationsgesellschaften.

Politische Partizipation

Engagierte Bürgerinnen und Bürger verfolgen nicht nur politische Ereignisse mit einer gewissen Aufmerksamkeit, sondern sie beteiligen sich auch tatsächlich an politischen Entscheidungsprozessen. Eine weit verbreitete Definition fasst unter den Begriff "politische Partizipation" alle Handlungen, "die Bürger freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen".

Fast alle Bürger werden in ihrem Leben mehrfach den Gang zur Wahlurne machen, und die Beteiligung an nationalen Wahlen liegt in manchen Ländern bei mehr als 70 Prozent. Die Beteiligung an Wahlen ist allerdings nicht die einzige Möglichkeit, politisch zu partizipieren. Die frühe Partizipationsforschung konzentrierte sich stark auf diese Form der politischen Beteiligung und andere auf den Wahlakt bezogene Aktivitäten. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das politische Repertoire jedoch erweitert: von elektoralen und auf Parteien bezogenen Partizipationsformen in den fünfziger Jahren über Protestaktivitäten wie Demonstrationen und Boykotte bis hin zur Beteiligung an sozialen Bewegungen und der Nutzung des Internets. Im Hinblick auf die sehr unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westeuropa ist zu erwarten, dass ein umfangreiches politisches Repertoire kennzeichnend für die Bürgerschaft etablierter Demokratien ist, während in neueren Demokratien Protestaktivitäten und nicht mit Parteien und Wahlen verbundenen Aktivitäten größere Bedeutung zukommt.

Tabelle 1 sind die Beteiligungsraten für acht verschiedene Formen politischer Beteiligung zu entnehmen (siehe PDF-Version). Für die Wahlbeteiligung wurde dabei nach der Teilnahme an den letzten nationalen Wahlen gefragt. Die Frage nach den anderen Formen wurde mit einem Hinweis auf den Charakter der Aktivitäten eingeleitet: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit denen man versuchen kann, etwas in [Land] zu verbessern oder zu verhindern, dass sich etwas verschlechtert. Haben Sie im Verlauf der letzten 12 Monate irgendetwas davon unternommen?

Die Ergebnisse der Analyse dieser unterschiedlichen Möglichkeiten politischen Engagements belegen zunächst, dass politische Partizipation für die meisten Bürgerinnen und Bürger auf die Wahlbeteiligung beschränkt ist. Diese Form der politischen Aktivität wird offenbar von vielen als Staatsbürgerpflicht wahrgenommen. Alle anderen Formen der Partizipation werden dagegen nur von deutlichen Minderheiten (wie bei Unterschriftensammlungen) oder von sehr geringen Teilen der Bevölkerung (wie bei der Mitarbeit in Parteien oder politischen Gruppen) genutzt.

Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen finden sich in beiden Wellen des European Social Survey vor allem im Hinblick auf die Teilnahme an Demonstrationen, die in den neuen Bundesländern gebräuchlicher ist, sowie den Boykott von Produkten, der in den alten Bundesländern sehr viel häufiger ausgeübt wird. Im Jahr 2004 fiel zudem die (von den Befragten selbst berichtete) Wahlbeteiligung in Ostdeutschland niedriger als in Westdeutschland aus.

Insgesamt überwiegen nach mehr als zehn Jahren deutscher Einheit in Bezug auf die politischen Aktivitäten die Gemeinsamkeiten zwischen den alten und neuen Bundesländern. Lediglich die stärker ausgeprägte Präferenz der früheren DDR-Bürger für die Protestform der Demonstration deutet noch, wie oben ausgeführt, auf Nachwirkungen der Erfahrungen aus der Zeit der friedlichen Revolution 1989.

Neben der gesonderten Betrachtung unterschiedlicher Partizipationsformen ist für die Einschätzung der Lebenschancen und die Qualität einer Demokratie insbesondere eine Analyse des Anteils an Nichtpartizipanten, die keine der in Tabelle 1 (siehe PDF-Version) beschriebenen Partizipationsformen ausüben, relevant. Derartig politisch abstinente Bürgerinnen und Bürger finden sich in Osteuropa generell wesentlich häufiger als in Westeuropa (Abbildung 2, siehe PDF-Version). Aber auch in westlichen Demokratien wie Portugal, der Schweiz und Luxemburg nimmt jeder vierte oder ein noch größerer Teil der Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht an politischen Aktivitäten teil. Die wenigsten Nichtpartizipanten gibt es dagegen in Schweden, Norwegen und Dänemark. Deutschland liegt hier im europäischen Mittelfeld, wobei sich zwischen 2002/2003 und 2004 insbesondere bei den früheren DDR-Bürgern eine Zunahme des Anteils der politisch Inaktiven zeigt.

Nimmt man ergänzend den Anteil derjenigen in den Blick, die lediglich an nationalen Wahlen teilnehmen, sich darüber hinaus politisch aber nicht beteiligen, ist dieser wiederum in den postsozialistischen Gesellschaften Osteuropas im Durchschnitt weit höher als in den westeuropäischen Ländern. Insgesamt betrachtet finden sich die meisten Nur-Wähler aber in Griechenland. Generell gilt, dass innerhalb der westlichen Demokratien besonders die südeuropäischen Länder (neben Griechenland sind dies Portugal und Spanien) durch hohe Anteile an Bürgern, die über die Beteiligung an nationalen Wahlen hinaus politisch nicht aktiv sind, auffallen. Auch innerhalb Osteuropas gibt es große Länderdifferenzen. So finden sich in der Tschechischen Republik in beiden Untersuchungswellen des European Social Survey deutlich weniger Nur-Wähler als in Slowenien und Polen.

Über die Wahlbeteiligung hinaus politisch aktiv sind im europäischen Vergleich vor allem die Skandinavier (Schweden, Norwegen, Dänemark), die auch, wie bereits ausgeführt, die geringsten Anteile an Nichtpartizipanten haben. Weit unterhalb des westeuropäischen Durchschnittswertes liegen wiederum die südeuropäischen Demokratien, aber auch Luxemburg. Die West- und Ostdeutschen hatten 2002/2003 und 2004 Anteile von neben der Wahl noch anderweitig politisch Aktiven aufzuweisen, die deutlich bzw. etwas über dem westeuropäischen Durchschnitt von 40 Prozent lagen. In Osteuropa nutzt dagegen im Schnitt nur knapp jeder vierte Bürger andere Beteiligungsformen als die Wahlteilnahme. Dabei schneidet die Tschechische Republik wie bereits beim Anteil der Nur-Wähler erheblich besser ab als Slowenien oder Polen.

Mangelndes politisches Interesse und fehlende politische Partizipation

Nicht nur aus der Verbindung unterschiedlicher Beteiligungsformen lassen sich interessante Typologien ableiten. Auch aus der Kombination der Intensität des politischen Interesses und des Partizipationsverhaltens können vier Typen gebildet werden: 1.) die Apathischen, die sich nicht oder kaum für Politik interessieren und nicht oder nur in Form der Beteiligung an nationalen Wahlen politisch partizipieren, 2.) die Mitmacher, die sich ebenfalls nicht oder kaum für Politik interessieren, aber über die Wahlbeteiligung hinaus weitere Formen politischer Beteiligung ausüben, 3.) die Zuschauer, die zwar politisches Interesse haben, aber überhaupt nicht oder nur bei Wahlen politisch partizipieren, und 4.) die Engagierten, die sowohl politisch interessiert als auch über die Wahlbeteiligung hinaus politisch aktiv sind (Abbildung 3, siehe PDF-Version).

Für die Frage nach den Lebenschancen der Demokratie sind insbesondere die Apathischen bedeutsam (Abbildung 4, siehe PDF-Version). Diese Gruppe stellt aus normativ-demokratietheoretischer Perspektive die problematischste dar. Umso bemerkenswerter ist der Befund, dass die Apathischen in der Mehrzahl der untersuchten westeuropäischen Länder und in allen analysierten osteuropäischen Gesellschaften die Mehrheit bzw. die größte Gruppe stellen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger mit diesem Einstellungs- bzw. Verhaltensmuster finden sich dabei in den südeuropäischen Demokratien (Spanien, Portugal, Griechenland). Davon setzen sich die skandinavischen Nationen (Norwegen, Schweden, Dänemark) deutlich ab, denn hier bilden die Engagierten die größte Gruppe. Auch auf West- und Ostdeutschland trifft dies zumindest für 2002/2003 zu. 2004 liegen die Anteile der Apathischen und der Engagierten dann etwa gleichauf. Die Mitmacher spielen in beiden Erhebungswellen des European Social Survey und in allen untersuchten europäischen Gesellschaften die geringste Rolle, während im Schnitt immerhin etwa jeder fünfte West- und jeder vierte Osteuropäer der Gruppe der Zuschauer zuzurechnen ist.

Wer sind die apathischen Bürgerinnen und Bürger? Durch welche Charakteristika zeichnen sie sich aus? Einige Aspekte, die für die Charakterisierung der Gruppe der Apathischen bedeutsam sein könnten, lassen sich aus den umfangreichen Forschungen zur Erklärung des politischen Interesses und der politischen Partizipation ableiten. Hier werden politisch-institutionelle, netzwerkorientierte, modernisierungstheoretische, sozioökonomische, sozialisatorische und (andere) psychologische Ansätze und Theorien zur Bestimmung von Erklärungsfaktoren herangezogen.

Angesichts dieser Studien ist zu erwarten, dass Bürgerinnen und Bürger, die sich durch niedriges oder fehlendes Interesse in Kombination mit partizipativer Abstinenz bzw. der Beschränkung auf die Teilnahme an Wahlen auszeichnen, folgende Charakteristika aufweisen: Sie sind eher weiblich als männlich, relativ jung oder relativ alt, haben eine vergleichsweise niedrige Bildung, eine negative Einschätzung der Wirtschaftslage und des Funktionierens der Demokratie, fühlen sich politisch weniger kompetent, haben ein geringes politisches Vertrauen und ein schwach ausgeprägtes Gefühl politischer Responsivität.

Betrachtet man zunächst den Faktor Geschlecht, bestätigen sich die angestellten Vermutungen in nahezu allen untersuchten europäischen Ländern (Tabelle 2, siehe PDF-Version). Die Apathischen sind überdurchschnittlich häufig weiblich. Dies gilt sowohl für die west- als auch die osteuropäischen Gesellschaften. Auch zwischen Ost- und Westdeutschland ergeben sich hier keine wesentlichen Unterschiede. Dies trifft ebenfalls auf die Analyse des Aspekts Alter zu. Mit Ausnahme von Spanien, wo die Apathischen etwas über dem Landesaltersdurchschnitt liegen, sind diejenigen Bürger, die politisches Desinteresse mit politischer Abstinenz bzw. einer auf die Wahlteilnahme beschränkten politischen Aktivität kombinieren, jünger als die übrige Bevölkerung. Auch relativ niedrigere Bildungs- und Einkommensniveaus sind typisch für die politisch Apathischen in West- und Osteuropa.

Ein anderes Bild ergibt sich für die Bewertung der Wirtschaftslage. Entgegen der oben formulierten Vermutung sind die Apathischen nur in den wenigsten Ländern (Österreich, Großbritannien) durch eine schlechtere Bewertung der Wirtschaftslage gekennzeichnet. In den übrigen untersuchten Ländern Westeuropas ergeben sich hier keine signifikanten Unterschiede. In Osteuropa spielt dieser Aspekt überraschenderweise überhaupt keine Rolle für die Charakterisierung dieser Gruppe. Dagegen fällt die Demokratiezufriedenheit in den meisten untersuchten Ländern bei den Apathischen zwar in der Regel nur wenig, aber signifikant niedriger aus als beim Rest der Bürgerschaft.

Die eigene Einschätzung der politischen Kompetenz erweist sich sowohl in den west- als auch in den osteuropäischen Ländern alles in allem als noch wichtigeres Charakteristikum dieser Gruppe: Politische Apathie in der hier definierten Form tritt überdurchschnittlich häufig in Verbindung mit dem Gefühl eines mangelnden Verständnisses für komplexe politische Vorgänge auf. Besonders deutlich zeigt sich dies in Dänemark, der Schweiz und auch in Ostdeutschland.

Der Aspekt der politischen Responsivität ist im Unterschied zu den bisher beschriebenen Faktoren interessanterweise in Westeuropa wichtiger als in den osteuropäischen Transformationsgesellschaften. Die Apathischen in Westeuropa glauben im Schnitt noch seltener als die Angehörigen dieser Gruppe in Osteuropa, dass die Politiker sich darum kümmern, was die Bürger denken. Die größten Differenzen zwischen den Apathischen und den übrigen Bürgern finden sich dabei wiederum in Dänemark.

Abschließend wird nun der Aspekt des politischen Vertrauens in den Blick genommen. Die Apathischen vertrauen allen untersuchten politischen Institutionen und dabei insbesondere dem nationalen Parlament, den Politikern und Parteien signifikant und deutlich weniger als der Rest der jeweiligen Bevölkerung. Auch dieser Aspekt ist - wie schon der Faktor politische Responsivität - in Westeuropa noch deutlich besser zur Unterscheidung der Apathischen von den übrigen Bürgern geeignet. Die größten Differenzen zwischen diesen Gruppen ergeben sich dabei in Dänemark, Schweden und in Ostdeutschland.

Alles in allem wird deutlich, dass die Apathischen durch eine Mischung aus sozialisationstheoretisch relevanten Merkmalen (Geschlecht, Alter), mangelnden Ressourcen (Bildung, Einkommen), einer größeren Unzufriedenheit mit der Demokratie, einer geringeren politischen Kompetenz, einem schwächer ausgeprägten Gefühl politischer Responsivität und vor allem durch ein deutlich geringeres Vertrauen in politische Institutionen und Politiker charakterisiert werden können. Damit haben sich mit Ausnahme der Überlegungen in Bezug auf die Wirtschaftslage alle oben angestellten Vermutungen im Hinblick auf die typischen Charakteristika der Apathischen bestätigt.

Politisches Engagement in Europa

Politisches Interesse und politische Partizipation der Bürgerschaft sind unverzichtbare Bestandteile einer demokratischen Herrschaftsordnung. Wie ist es um diese Aspekte in verschiedenen Ländern Europas bestellt? Die Analyse der Daten des European Social Survey bestätigt Befunde zum politischen Engagement, die sich bereits in vielen empirischen Studien gezeigt haben: Desinteresse an der Politik und ein Grad an politischer Aktivität, der sich im Wesentlichen auf die Teilnahme an nationalen Wahlen beschränkt, sind typische Phänomene moderner Gesellschaften und in allen europäischen Ländern zu finden.

Dabei gibt es allerdings große Länderdifferenzen, sowohl zwischen den ost- und westeuropäischen Gesellschaften als auch innerhalb West- und Osteuropas. Das Niveau des politischen Interesses der Osteuropäer liegt deutlich unter dem der Westeuropäer. Im Hinblick auf die politische Partizipation kann festgehalten werden, dass sich zwar in West- und Osteuropa strukturell ähnliche Beteiligungssysteme finden, dass insgesamt aber insbesondere politische Beteiligungsformen, die der themenorientierten Einflussnahme auf politische Entscheidungen dienen (wie Unterschriftensammlungen oder die Teilnahme an legalen Demonstrationen), von den Bürgern der etablierten Demokratien deutlich häufiger genutzt werden. Auch der Anteil der Nichtpartizipanten, die sich überhaupt nicht politisch beteiligen, und der Nur-Wähler, die über die Teilnahme an nationalen Wahlen hinaus politisch nicht aktiv sind, fällt in Westeuropa niedriger aus als in Osteuropa.

Die skandinavischen Länder belegen alles in allem einen europäischen Spitzenplatz im Bereich des politischen Engagements. Schlusslichter innerhalb Westeuropas sind in dieser Hinsicht die südeuropäischen Demokratien. Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen fallen dagegen mehr als zehn Jahre nach der Vereinigung gering aus.

Zu den grundlegenden Gemeinsamkeiten, die sich trotz der offensichtlichen Spaltungslinie zwischen etablierten und postkommunistischen Demokratien im Hinblick auf das politische Engagement der Bürgerschaft finden, zählt die Verbreitung politischer Apathie. Offenbar haben die Ausweitungen des Partizipationsrepertoires, die in den vergangenen Jahrzehnten stattgefunden haben, nicht zu einer generellen Zunahme des politischen Engagements geführt. Sowohl in den west- als auch in den osteuropäischen Ländern interessiert sich ein sehr beträchtlicher Anteil der Bürger nicht oder kaum für Politik und beteiligt sich politisch - wenn überhaupt - nur in Form der Teilnahme an nationalen Wahlen. Diese für moderne Gesellschaften charakteristischen Apathischen sind dabei eher weiblich als männlich, eher jünger als älter, haben ein geringeres Bildungsniveau und Einkommen, sind weniger zufrieden mit der Demokratie, fühlen sich politisch weniger kompetent, haben ein ausgeprägteres Gefühl, dass Politiker sich nicht an ihren Interessen orientieren, und ein geringeres politisches Vertrauen.

Was bedeuten diese Befunde für die Qualität und die Lebenschancen der europäischen Demokratien? Schließt man sich M. P. Fiorina an, kann die beschriebene Form der politischen Apathie als ein für die Demokratie unbedenklicher "Normalzustand" gelten. Andere Autoren betonen dagegen die destruktive Komponente des Mangels an politischem Engagement. Vor diesem Hintergrund scheint für die künftige Forschung nicht nur die weitere Beobachtung der Entwicklung des Anteils, sondern auch der demokratischen Orientierungen der Apathischen geboten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jan W. van Deth, Political interest, in: M. Kent Jenning/Jan W. van Deth u.a., Continuities in Political Action, Berlin 1990, S. 278.

  2. Vgl. den ausführlicher Literaturüberblick zum Thema politisches Interesse bei Jan W. van Deth/Martin Elff, Political Involvement and Apathy in Europe 1973 - 1998, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, MZES Working Paper Nr. 33, Mannheim 2000.

  3. Vgl. Jan W. van Deth/Martin Elff, Politicisation, Economic Development and Political Interest in Europe, in: European Journal of Political Research, 43 (2004), S. 477 - 508.

  4. Vgl. Jan W. van Deth, Politisches Interesse, in: ders. (Hrsg.), Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Survey 2002 - 2003, Wiesbaden 2004, S. 275 - 292.

  5. Max Kaase, Vergleichende Partizipationsforschung, in: Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1997(3), S. 160.

  6. Vgl. den Überblick bei Oscar W. Gabriel, Das Konzept der politischen Partizipation, in: Politische Partizipation, www.politikon.org / ilias2 / course. php?co_id = 64&co_inst = 935&acct_name = &acct_pass = &set_lang = SID = b98e0ece 1b24e64867 db955b2f 308c81 (2. 4. 2004); Oscar W. Gabriel/Kerstin Völkl, Politische und soziale Partizipation, in: Oscar W. Gabriel/Everhard Holtmann (Hrsg.), Handbuch Politisches System der Bundesrepublik Deutschland, München 2005(3), S. 523 - 574.

  7. Vgl. Jan W. van Deth, Vergleichende politische Partizipationsforschung, in: Dirk Berg-Schlosser/Ferdinand Müller-Rommel (Hrsg.), Vergleichende Politikwissenschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 2003(4), S. 167 - 187.

  8. Vgl. Oscar W. Gabriel, Politische Partizipation, in: J.W. van Deth (Anm. 4), S. 317 - 338.

  9. Vgl. Ders., Das Ende der Zuschauerdemokratie?, in: Jürgen W. Falter/Oscar W. Gabriel/Hans Rattinger/Harald Schoen, Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich, München 2006, S. 107 - 127.

  10. Vgl. dazu die Überblicke in den in Anmerkungen 7, 8 und 9 genannten Publikationen.

M.A., geb. 1972; wiss. Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart und Geschäftsführerin der deutschen Teilstudie des European Social Survey, Breitscheidstr. 2, 70174 Stuttgart.
E-Mail: E-Mail Link: katja.neller@sowi.uni-stuttgart.de
Internet: Externer Link: www.uni-stuttgart.de

Dr., geb. 1950; Professor für Politische Wissenschaft und Internationale Vergleichende Sozialforschung, Universität Mannheim, 68159 Mannheim.
E-Mail: E-Mail Link: jvdeth@rumms.uni-mannheim.de
Internet: Externer Link: www.sowi.uni-mannheim.de