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Auswanderungsland Venezuela

Claudia Vargas Ribas

/ 17 Minuten zu lesen

In den 1980er Jahren wurde Venezuela von einem Einwanderungs- zu einem Auswanderungsland. Emigrierten Venezolaner bis Anfang der 2010er Jahre vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, ist aktuell eine Fluchtbewegung aufgrund der humanitären Lage zu beobachten.

Venezuela wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts von einem Einwanderungs- zu einem Auswanderungsland. Zu dieser Entwicklung kam es wegen sich verschlechternder Lebensbedingungen im Inland mit der Folge, dass so viele in prekären Lebenslagen befindliche Menschen auswanderten wie aus keinem anderen lateinamerikanischen Land. Es gibt unterschiedliche Faktoren, die die Migrationsprozesse in verschiedenen Staaten oder Regionen beeinflussen, im Inneren die politische, wirtschaftliche und kulturelle Situation sowie die natürlichen Gegebenheiten; äußere Faktoren sind unter anderem die Dynamik der Globalisierung sowie die Chancen, die diese den Menschen bietet. Der Fall Venezuela zeigt, wie diese Faktoren sich unmittelbar auf die Entwicklung der Migrationsprozesse auswirken. Die derzeitige Verschlechterung der Lage im Land hat nicht nur zur Auswanderung von Fachkräften und jungen Menschen sowie zur Rückkehr von Einwanderern in die alte Heimat geführt. Seit 2014 migrieren noch ganz andere Bevölkerungsteile, um ihre Grundbedürfnisse – insbesondere Ernährung und Gesundheitsversorgung – zu stillen. Das hat Folgen im Landesinneren und in ganz Lateinamerika, insbesondere in den angrenzenden Staaten.

Vom Einwanderungs- zum Auswanderungsland

Das Jahr 1983 wird als Wendepunkt im venezolanischen Migrationsprozess betrachtet, da die Regierung Luis Herrera Campins (1979–1984) als Reaktion auf jahrzehntelange Verschuldung und Korruption sowie den Rückgang der Ölpreise auf dem Weltmarkt eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen traf, zu denen auch die Kontrolle der Wechselkurse und die Abwertung der nationalen Währung zählte. Dadurch wurde es schwieriger, Verpflichtungen einzuhalten und beispielsweise die Auslandsschulden zu bedienen, was wiederum die Kaufkraft und damit die Lebensqualität der Bevölkerung in Mitleidenschaft zog und für die Menschen in Venezuela das Ende einer Epoche ölfinanzierten Wohlstands bedeutete. Dieser harte Schnitt wird als "Schwarzer Freitag" (viernes negro) bezeichnet. Einheimische wie Ausländer waren von den Folgen betroffen – wobei unter den Migranten vor allem jene zu leiden hatten, die auf der Suche nach einem besseren Leben gekommen waren. Der venezolanische Auswanderungssaldo drehte sich ins Negative, was sich – mit Ausnahme einer leichten Zunahme der Immigration zwischen 2001 und 2011 – bis heute kaum mehr geändert hat (Abbildung). Es kommen zwar nach wie vor Menschen aus Kolumbien ins Land, insbesondere Flüchtlinge, die dem inneren Konflikt entgehen möchten, aber nicht mehr in der früheren Größenordnung.

Einwanderung nach Venezuela 1950–2011

Wie andere lateinamerikanische Staaten es schon in der Vergangenheit erlebt hatten, setzte nun auch in Venezuela eine Auswanderung gut ausgebildeter Menschen ein, die angesichts hoher Arbeitslosigkeit, unzureichender Gehälter und sich verschlechternder Lebensbedingungen keine Möglichkeiten sahen, sich im eigenen Land weiterzuentwickeln. Ursachen dieser Situation waren vor allem das Fehlen einer technologischen und wissenschaftlichen Infrastruktur und die erfolgreiche Anwerbung von Fachkräften durch Industriestaaten. Die Auswanderung von Fachkräften war eine Folge der geringen Attraktivität des regionalen Arbeitsmarktes, der die Anforderungen Hochqualifizierter nicht erfüllte und von anachronistischen bürokratischen Strukturen geprägt war. Dieser Verlust an intellektuellem Kapital, insbesondere durch die Auswanderung wissenschaftlichen und technischen Personals in Industrieländer, setzte in den 1980er Jahren ein und hielt bis Ende der 1990er Jahre an. Es war ein immenser Verlust für das Land, dessen wissenschaftliche und industrielle Entwicklung in diversen Bereichen in Gefahr geriet. Der brain drain drohte, mittel- und langfristig schwerwiegende Folgen zu haben und zeigte die Handlungsunfähigkeit des Staates angesichts solcher Herausforderungen.

Die zweite Phase der venezolanischen Emigration fing mit der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten im Jahr 1999 an. Seine Amtszeit endete mit seinem Tod 2013, doch seine Partei sollte noch bis 2019 weiter regieren. Im Laufe dieser Phase beschlossen immer mehr Menschen, Venezuela kurzfristig zu verlassen, um andernorts ein besseres Leben zu finden. Es waren vor allem Jüngere, die einen (meist universitären) beruflichen Abschluss besaßen, zwischen 25 und 40 Jahre alt waren und aus mittleren oder höheren sozialen Schichten stammten. Darüber hinaus entschieden sich viele Unternehmer, zwischen Venezuela und dem Ausland hin und her zu pendeln, um außerhalb ihres Heimatlandes zu investieren und so ihr Vermögen zu schützen und der wirtschaftlichen Situation im Land zu entfliehen.

Es kam in dieser Phase zu großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen. Eine herausragende Rolle spielte die Staatsreform, die mit der neuen Verfassung, die im Dezember 1999 in Kraft trat, vollzogen wurde. Von großer Bedeutung waren auch politische Maßnahmen, die zum Ausbau einer ölfinanzierten Rentenökonomie beitrugen, eine stärkere staatliche Kontrolle der Wirtschaft vorsahen und zu einem Rückgang der Produktivität der venezolanischen Volkswirtschaft sowie ihrer Wandlung hin zu einer von stetem Devisenfluss abhängigen Exportwirtschaft führten.

Hinzu kommt ein offizieller Diskurs, in dem sich eine deutliche Abneigung gegenüber der Mittelschicht, Hochqualifizierten und Intellektuellen ausdrückt – also allen, die von der Regierung pauschal als "reich" bezeichnet werden und angeblich nicht in der Lage sind, die "Realität der Armen" nachzuempfinden, weshalb sie diskriminiert werden und ihnen die Anerkennung ihrer Verdienste versagt wird. Wegen dieser Lage und der Ungewissheit, wie sich die Situation entwickeln wird, wandern immer mehr Fachkräfte aus. Die Mehrheit beklagt, es sei aufgrund nicht wettbewerbsfähiger Gehälter und fehlender technischer Voraussetzungen nicht möglich, den eigenen Beruf im eigenen Land auszuüben. Diese Tendenz hat sich in verschiedenen Berufszweigen und unter den Jüngeren verstärkt. So sehen Studierende in der Auswanderung eine der wichtigsten Optionen nach ihrem Abschluss.

Ein besonders geeignetes Beispiel, um diese Situation zu veranschaulichen, ist der Streik in der venezolanischen Ölindustrie, zu dem es 2002 nach einem Aufruf des Vorstandes des staatlichen Ölkonzerns Petróleos de Venezuela (PDVSA) kam. Der Streikaufruf war die Reaktion darauf, dass Chávez sieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in seiner sonntäglichen TV-Sendung "Aló Presidente" vor laufenden Kameras entlassen hatte. Teile der Zivilgesellschaft, Politiker und die katholische Kirche unterstützten den Streik sowie die damit einhergehenden Demonstrationen, in denen die Unzufriedenheit mit der Situation im Land zum Ausdruck kam. Diese Entwicklung erreichte am 11. und 12. April 2002 ihren Höhepunkt, als Chávez zurücktrat und anschließend wieder die Macht übernahm, wobei er unter anderem von Teilen der Streitkräfte unterstützt wurde. In der Folge kam es zu der unberechtigten Massenentlassung, bei der 18756 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ölindustrie aus politischen Gründen ihre Arbeit verloren. Anschließend ging die Rohölproduktion stark zurück, was auch zu rückläufigen Einnahmen führte.

Diese Entwicklung beim Ölkonzern PDVSA war für die venezolanische Migration von enormer Bedeutung, da viele dieser Menschen angesichts der politischen Verfolgung und der Verschlechterung ihres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status Venezuela verließen, um im Ausland entweder Asyl zu suchen oder eine neue Arbeit aufzunehmen. Es war ein regelrechter intellektueller Aderlass Venezuelas, und er fand in einem Schlüsselsektor der Volkswirtschaft statt, in dem 62 Prozent des Gesamteinkommens aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erzielt wurden.

Zugleich ging der Ausländeranteil in Venezuela zurück. 2001 hatten noch 4,4 Prozent Ausländer im Land gelebt, 2011 hingegen waren es nur noch 4,2 Prozent. Deshalb ist davon auszugehen, dass diese Menschen in ihre alte Heimat zurückgekehrt oder in andere Länder abgewandert waren. Es fällt auf, dass die Einwanderung nach Venezuela in jener Phase von anderen Nationalitäten als im 20. Jahrhundert dominiert war: Nach der Jahrtausendwende kamen die Menschen insbesondere aus Kuba, Bolivien und China. Die Einwanderung entwickelte sich also analog zur damaligen Annäherung zwischen Venezuela und diesen Staaten.

Die Einwanderung nach Venezuela insgesamt ist nicht einmal während der schweren weltweiten Finanzkrise 2008 und 2009 gestiegen, obwohl Venezuela seit 2004 einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte. Die Gründe dafür sind im Land selbst zu suchen: Es kam zu keinen langfristigen Investitionen, und trotz verbesserter wirtschaftlicher Indikatoren wurden strukturelle Probleme nicht angegangen. Damit wurde Venezuela zu einem wenig attraktiven Ziel für ausländische Einwanderer und Investitionen, zumal die Einheimischen selbst in immer größerer Zahl das Land verließen, nach Spanien, Italien, Deutschland, Kanada und in die USA. Einige dieser Staaten warben gezielt ausländische Fachkräfte an und boten ihnen Arbeit oder die Einschreibung in Aufbaustudiengänge an. Es gab auch Auswanderer, die dank ihrer doppelten Staatsangehörigkeit Aufnahme fanden – viele von ihnen waren europäischer und insbesondere spanischer oder italienischer Abstammung.

Eine weitere Gruppe von Venezolanern machte sich in andere Länder der Region auf. Diese Gruppe ist zwar nicht repräsentativ, doch sie war stark von Unternehmern und Personen mit unternehmerischem Profil geprägt. Eines der Ziele war Panama, das während der Regierungszeit von Martín Torrijos (2004–2009) Visaerleichterungen für Investoren im Immobiliensektor, Tourismus und Handel anbot. Ähnlich verhielt es sich mit Kolumbien, wohin 2003 Mitarbeiterinnen der Ölindustrie ausreisten sowie insbesondere Unternehmer, die sich vorübergehend dort aufhielten oder als Pendler hin- und herreisten, um vor Ort zu investieren und so ihr Vermögen zu sichern. Besondere Anziehungskraft auf Akademiker übte Ecuador durch sein Programm "Prometeo" aus, dessen Ziel es war, Hochqualifizierte ins Land zu holen und das mit der Unterstützung der nationalen Behörde für Bildung, Wissenschaft, Technologie und Information die Einwanderung venezolanischer Hochschullehrkräfte und Forscherinnen ermöglichte.

Von 1999 bis 2014 gingen 4,8 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner ins Ausland. Die Mehrheit dieser Menschen war auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen oder floh wegen der Verletzung ihrer Grundrechte. Letzteres gilt insbesondere für jene, die im Ausland politisches Asyl beantragten. So verlor das Land Hochqualifizierte in ihrer produktiven Lebensphase – ein klares Anzeichen für die Verschärfung der venezolanischen Krise.

Auswanderung im Kontext der humanitären Krise

In den vorangegangenen Phasen hatten die Auswanderer vor allem eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse angestrebt, waren also im Wesentlichen aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert, um sich beruflich weiterzuentwickeln und eine stabile Existenz aufzubauen. In der heutigen Situation zwingt eine Krise die Menschen auszuwandern, in der die Mehrheit der Bevölkerung sich nicht mehr in der Lage sieht, ihre Grundbedürfnisse hinsichtlich Ernährung, Gesundheitsversorgung, Wohnen und persönlicher Sicherheit zu erfüllen. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) lebten im Juni 2019 rund 4 Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner im Ausland, von denen 3,2 Millionen sich in lateinamerikanischen und karibischen Staaten aufhielten. Dies ist das Ergebnis einer fortschreitenden Verschlechterung der Verhältnisse, die auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen ist. Diese Entwicklung ist nicht nur durch die Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte eine Gefahr für verschiedene Bereiche der Wirtschaft sowie Forschung und Technologieentwicklung, sondern sie gefährdet auch Leib und Leben der Bürger.

Es handelt sich um eine gemischte Migration, da innerhalb einer Auswanderungswelle sehr verschiedene Menschen das Land verlassen – die Unterschiede liegen beispielsweise in ihrem Alter, ihren Bildungsabschlüssen und ihren wirtschaftlichen Verhältnissen. In dieser Phase stieg die Anzahl der Asylanträge, verstärkte sich die Auswanderung ärmerer Bevölkerungsteile, nahm die Variabilität der Migrationsrouten zu sowie die Bedeutung diverser Staaten derselben Region als wichtigste Aufnahmeländer, wuchs die Emigration schnell an und sank das Durchschnittsalter der Migranten.

In den früheren Phasen ging der eigentlichen Auswanderung ein aufwändiger Planungsprozess voraus, in dem mögliche Ziele und dort anzustrebende Aktivitäten ausgewertet wurden. Zu der heutigen Auswanderungswelle gehören Personengruppen, die möglichst rasch das Land verlassen möchten, sowie Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten. Der Zeitdruck macht die Migrantinnen und Migranten auch verletzlicher, und sie stehen vor komplexeren Situationen, da durch die entstehenden Kosten und das Fehlen von Alternativen in aller Regel der Landweg gewählt werden muss (Venezuela wird derzeit nur noch von acht Fluggesellschaften angeflogen). Die Emigranten führen nur wenig Geld zum Überleben mit, und einige brechen ohne oder mit unvollständigen Ausweispapieren auf, wodurch sich ihre Gefährdung erhöht, erpresst oder von Banden entführt zu werden, wenn sie versuchen, auf illegal angelegten Pfaden (trochas) die Grenze zu überqueren, um unbemerkt von den lokalen Behörden ihre Zielländer zu erreichen. Weitere Gefahren auf diesem Weg sind unter anderem Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung. Angesichts dieser Bedingungen ist der venezolanischen Auswanderung in den vergangenen Jahren eine größere internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden.

Die Hauptgründe für diese Auswanderungswelle liegen in der prekären wirtschaftlichen Situation, der unsicheren Ernährungslage und dem eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Zu den wichtigsten Indikatoren dieser Situation zählt die Abhängigkeit der Exportwirtschaft von den Einnahmen der Erdölindustrie. Das Land ist nicht in der Lage, Produkte der Grundversorgung zu importieren, wodurch Medikamente und Lebensmittel knapp und unerschwinglich geworden sind. Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen sind derzeit 3,7 Millionen Menschen unterernährt, und sie leben in wachsender Abhängigkeit vom Staat sowie dessen Kontrolle durch Instrumente wie das carnet de la patria (eine Art paralleler Personalausweis, an dessen Besitz bestimmte Vergünstigungen geknüpft sind), wie die Organisation Amerikanischer Staaten in ihrem jüngsten Bericht kritisch feststellt.

Hinzu kommt das Leben in einer feindlichen Umgebung, geprägt durch staatliche Gewalt und Verfolgung. 2018 wurden in Venezuela 23047 Tötungsdelikte gezählt, deren Opfer vor allem zur Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren gehörten. Es kam im Laufe des ersten Halbjahres 2019 zu insgesamt 9715 Protestaktionen, bei denen es vor allem um den Zusammenbruch elementarer Dienstleistungen, die daraus resultierende Verschlechterung der Lebensqualität der Bürger sowie die Situation der 614 politischen Gefangenen und die Verfolgung von Strafverteidigern und Journalistinnen ging.

Diese Situation führt zu einer unfreiwilligen Auswanderung aus Venezuela, da Menschen das Land verlassen müssen, weil ihr Leben bedroht wird. Das erklärt den schnellen Anstieg der Emigration von 606.281 Personen auf 4.054.870 Personen von Ende 2017 bis Juni 2019 sowie die gestiegene Zahl der Asylanträge, die 2015 bei 10.200 lag und Ende 2018 bereits bei 464.229.

Die Notwendigkeit, immer schneller auszuwandern, führt dazu, dass die Menschen sich in nahe gelegene Staaten oder Nachbarländer aufmachen, um dort zu bleiben oder ihren Weg fortzusetzen. Eine herausragende Rolle spielen hier Kolumbien, Peru, Chile, Ecuador, Brasilien und Argentinien. Die Auswanderer haben eine ganze Reihe von Gründen, diese Ziele zu wählen: geografische und kulturelle Nähe; die Möglichkeit, auf dem Landweg dorthin zu gelangen; Familienzusammenführung; doppelte Staatsbürgerschaft aufgrund der Abstammung von Einwanderern aus einem dieser Länder; Chancen, auch ohne Visum rasch eine Aufenthalts-, Studien- und Arbeitsgenehmigung zu erhalten.

Regionale Ansätze

Die aktuelle Lage stellt die Länder der Region und auch weiter entfernte Staaten vor große Herausforderungen. Dabei ist das eigentliche Problem nicht, dass Menschen aus Venezuela auswandern, sondern dass sich die Zahl dieser Auswanderer in kurzer Zeit vervielfacht hat und keine kurzfristige Behebung der Ursachen in Sicht ist. Hinzu kommt die fragile ökonomische, gesundheitliche und psychische Situation der Auswanderer.

Die Notwendigkeit der Eingliederung von immer mehr derart verletzlichen Menschen hat dazu geführt, dass die venezolanische Emigration in der Region intensiv diskutiert wird. Andere Staaten sehen sich in der Pflicht, auf die Wiederherstellung der Ordnung und der Demokratie im Inneren zu drängen, doch sie rechnen auch mit Szenarien, in denen die venezolanischen Einwanderer nach den Kriterien der Erklärung von Cartagena 1984 als Flüchtlinge anerkannt werden. Dabei berücksichtigen sie die Dringlichkeit, die durch die Verschlechterung der Situation in Venezuela entstanden ist, die Unvorhersehbarkeit der gewählten Ziele, da es vor allem darum geht, Venezuela zu verlassen, sowie um Risiken wie informelle Arbeitsverhältnisse, Ausländerfeindlichkeit, Menschenhandel oder Zwangsarbeit, von denen die Migranten immer stärker betroffen sind.

Trotz ihrer eigenen oft beschränkten Möglichkeiten haben die Zielländer die Menschen aus Venezuela bisher aufgenommen und bieten ihnen verschiedene Optionen, ihren Status zu normalisieren: Es gibt Arbeitsvisa und Aufenthaltsgenehmigungen wie in Kolumbien, Ecuador und Peru sowie Hilfsprogramme für Migranten und Flüchtlinge wie in Brasilien. Im Rahmen dieser Initiativen finden auch internationale Treffen statt wie etwa jene, die zu den gemeinsamen Erklärungen von Quito geführt haben, auf deren Grundlage wiederum der sogenannte Plan für die Mobilität von Menschen entstehen konnte. Darin zeigt sich die Bereitschaft, sich für die Legalisierung und Integration der Menschen aus Venezuela in den Aufnahmegesellschaften einzusetzen, was einer Anerkennung der humanitären Krise in Venezuela und der Notlage der Menschen, die dieser zu entfliehen versuchen, gleichkommt.

Einige dieser Staaten haben Teile ihrer Zusagen bereits umgesetzt und beispielsweise angefangen, abgelaufene Reisepässe bei der Registrierung als Einwanderer zu akzeptieren, akademische Titel anzuerkennen, wie Argentinien es tut, oder humanitäre Hilfe zu leisten. Allerdings geschieht all dies freiwillig, die Erklärungen sind ohne bindende Wirkung. Jeder einzelne Staat behält es sich mithin vor, seine eigenen Einwanderungsgesetze je nach Kontext und Umständen auszulegen.

Umstritten war in diesem Zusammenhang das Vorgehen von Chile, Peru und Ecuador, wo der Besitz eines Visums als Voraussetzung für die Einreise die Menschen aus Venezuela in ihrer besonders fragilen Lage ein großes Hindernis darstellte. Das haben diese Staaten mit der Unterzeichnung gemeinsamer Erklärungen auch als Problem identifiziert, doch in ihrem Handeln berufen sie sich auf die nationale Sicherheit und organisatorische Aspekte. Gelockert wurde bisher nur die Vorgabe des Ortes, an dem der Antrag gestellt werden darf (das geht jetzt nicht mehr nur in Venezuela), womit ein gewisses Verständnis gezeigt wird für die Dringlichkeit, mit der bestimmte Personen bereits als Flüchtlinge das Land verlassen haben. In Aruba, Curaçao oder Trinidad und Tobago wurde hingegen nicht nur die Registrierung von Asylanträgen verweigert, sondern auch das Prinzip verletzt, niemanden aus Venezuela abzuschieben.

Kolumbien (1.260.594 venezolanische Einwanderer) und Peru (768.100 venezolanische Einwanderer) nehmen eine Schlüsselrolle ein – Kolumbien, weil in kein anderes Land so viele Menschen aus Venezuela ausgewandert sind, und Peru, weil nirgendwo so viele Asylanträge von venezolanischen Bürgerinnen und Bürgern gestellt wurden (227.325). Beiden Ländern ist gemeinsam, dass sie Entwicklungsländer sind und dass dieser massive und unerwartete Zustrom Fragen aufgeworfen hat: Wie ist der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere zum Bildungswesen, zu regeln? Was geschieht auf dem Arbeitsmarkt? Sehr problematisch ist, dass in Teilen dieser Gesellschaften eine feindselige Haltung gegenüber Menschen aus Venezuela entstanden ist, insbesondere in Peru. Doch es gibt auch positive Effekte, insbesondere was die wirtschaftliche Dynamik angeht, und zwar vor allem bei den Dienstleistungen. Das kolumbianische Forschungszentrum Fedesarrollo geht davon aus, dass das Bevölkerungswachstum durch die venezolanische Immigration zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum geführt hat. Ähnlich äußert sich die peruanische Zentralbank – sie gibt an, der Migrationsstrom aus Venezuela habe zu 0,33 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beigetragen.

Schluss

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird das venezolanische Migrationsverhalten vor allem von den Bedingungen im Landesinneren geprägt. Anfangs standen wirtschaftliche Fragen im Vordergrund, während es heute um eine regelrechte Staatskrise geht. Auch wenn schon seit Jahrzehnten Menschen aus Venezuela auswandern, ist die Zahl der Immigranten ab 2015 in kurzer Zeit rasch angestiegen. Seither handelt es sich nicht mehr um mehrheitlich wirtschaftlich bedingte Auswanderung, sondern überwiegend um eine erzwungene Emigration. Die Situation im Land zwingt ausgebildete Fachkräfte, junge Erwachsene aus den höheren und mittleren sozialen Schichten sowie Menschen aus den unteren Schichten mit geringeren Ressourcen, häufig ohne Papiere und in einem schlechten Gesundheitszustand gleichermaßen auszuwandern. Durch das Verlassen von Venezuela verbessert die Mehrheit dieser Menschen ihre Ernährung und medizinische Notversorgung, während andere Probleme wie informelle Arbeitsverhältnisse, die Frage nach dem Zugang zur Bildung für die Kinder, der Mangel an menschenwürdigen Unterkünften und angemessenen Versorgungsdienstleistungen bestehen bleiben.

Auch wenn Venezuela gemeinsam mit Syrien und Afghanistan bei der Anzahl der von seinen Bürgerinnen und Bürgern gestellten Asylanträge einen Spitzenplatz belegt, unterscheidet sich das südamerikanische Land insofern von den anderen beiden Staaten, dass es keinen Krieg gibt. Es ist unmöglich, das Ende der Krise vorherzusehen und so einzuschätzen, wann die massive Auswanderung wieder zurückgehen wird, von der auch jene betroffen sind, die im Land bleiben, da massive Risse in gesellschaftlichen Strukturen entstehen, wenn Familienmitglieder getrennt und auch Kinder zurückgelassen werden.

Eine Emigration in diesem Ausmaß ist für Venezuela vollkommen neu. Zwar haben verschiedene Krisen in Lateinamerika bereits Migrationsbewegungen verursacht, doch im Falle von Venezuela mischen sich die Faktoren in einer Komplexität, die es sehr schwer macht, den Überblick zu behalten. Eine kurzfristige Lösung der innervenezolanischen Konfliktsituation ist nicht in Sicht; und es gibt weder Alternativen noch die notwendigen inneren Voraussetzungen, damit diese Personen zurückkehren und ihre Bindung an die alte Heimat erneuern. Die einzige von der Regierung Nicolás Maduro ins Leben gerufene diesbezügliche Initiative, der Plan vuelta a la patria (Rückkehr in die Heimat), bilanziert die Rückkehr von 14.611 Personen, was 0,36 Prozent der ausgewanderten Bevölkerung entspricht. Daher stellt sich die Frage, ob diese Initiative die notwendigen Rahmenbedingungen für eine effektive Reintegration bereitstellt, damit die Menschen in das Land zurückkehren können, aus dem sie geflohen sind.

Angesichts dieser Situation müssten die Staaten der Region ihre langfristigen Handlungsoptionen prüfen. Allerdings ist es bisher eher zu Absichtserklärungen gekommen, als das tatsächlich gehandelt worden wäre. Dies ist zwar kein Grund, die bisher gemachten Anstrengungen geringzuschätzen, insbesondere angesichts der Schwierigkeiten, einen Konsens zu erreichen sowie auf finanzieller, technischer und personeller Ebene die notwendigen Ressourcen bereitzustellen. So wird die venezolanische Migration zu einem weltweiten Konfliktthema. Die größte Herausforderung in diesem Zusammenhang besteht darin, die betroffenen Menschen effektiv zu unterstützen und Möglichkeiten auszuloten, ihnen jene Rechte zurückzugeben, die sie in Venezuela verloren haben: Bildung, legale Arbeit, Gesundheit und Nahrung. Es handelt sich also weniger um einen politischen, sondern vielmehr um einen moralischen Imperativ.

Übersetzung aus dem Spanischen: Jan Fredriksson, Herzberg am Harz.

ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin, lehrt und forscht am sozialwissenschaftlichen Institut der Universidad Simón Bolívar in Caracas. E-Mail Link: cfvargas@usb.ve