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Das revolutionäre Russland in der Welt | Oktoberrevolution | bpb.de

Oktoberrevolution Editorial 1917 und 1991 - zwei Revolutionen im Vergleich - Essay Was war die Oktoberrevolution? Revolution, Stalinismus und Genozid 1917/1937 und das heutige Russland Der deutsch-russische Nexus Das revolutionäre Russland in der Welt

Das revolutionäre Russland in der Welt

Abraham Ascher

/ 15 Minuten zu lesen

Das 20. Jahrhundert kann als Zeitalter gelten, in dem das revolutionäre Russland eine neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische (Welt-)Ordnung zu errichten suchte.

Einleitung

Die (kommunistische) Bewegung schreitet mit derartigem Tempo voran, dass wir aus Überzeugung sagen können: Bereits in einem Jahr werden wir beginnen, zu vergessen, dass es in Europa überhaupt einen Kampf um den Kommunismus gegeben hat, denn innerhalb eines Jahres wird ganz Europa kommunistisch sein." Das prophezeite Grigori Sinowjew, Präsident der kurz zuvor ins Leben gerufenen dritten Kommunistischen Internationalen (Komintern) im Frühling des Jahres 1919. Für jemanden, der einer politischen Partei angehörte, die 1905 - während der ersten russischen Revolution - in einem Land mit 130 Millionen Einwohnern ungefähr 8.400 und im August 1917, drei Monate vor ihrer Machtübernahme, erst ganze 80.000 Mitglieder zählte, war dies eine forsche Prophezeiung.

Sinowjew war nicht der einzige Optimist unter den Kommunisten: 1919 und 1920 verwandte Wladimir Iljitsch Lenin, der unangefochtene Führer der Partei, ein ungeheures Maß an Energie und Zeit darauf, die Revolution in Europa und anderen Teilen der Welt zu schüren. Auch Lenins Erfolgserwartungen schienen grenzenlos. Als er Anfang 1919 erfuhr, dass in Seattle ein fünftägiger Generalstreik stattgefunden hatte, redete er sich ein, dass in Amerika "Räte nach sowjetischem Muster" errichtet worden seien, "die früher oder später die Macht in die eigenen Hände nehmen werden". Lenin war überzeugt, dass die Kriegsjahre den Kapitalismus unterhöhlt und die Arbeiterklasse radikalisiert hätten.

Straßenszene in Petrograd (später St. Petersburg) im Mai 1917. Menschen suchen Schutz vor Maschinengewehrfeuer. (© picture-alliance/AP)

Heute sind wir geneigt, diese Vorhersagen zu belächeln. Doch im 20. Jahrhundert wurden die revolutionäre Rhetorik Russlands und die Politik der Sowjetunion von vielen nachdenklichen und einflussreichen Menschen im Westen mit großer Besorgnis beobachtet - nicht nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums, sondern auch von liberalen und gemäßigten Sozialisten. Zwischen 1917 und 1991 spielte die Sowjetunion eine entscheidende Rolle bei allen wichtigen Ereignissen, die den Lauf der Weltgeschichte beeinflussten: beim Machtantritt der Nationalsozialisten 1933, im Zweiten Weltkrieg, bei der Teilung Europas, im Kalten Krieg von 1947 bis in die 1980er Jahre, bei der Entwicklung von Atomwaffen, dem Unabhängigkeitsstreben der Kolonien in Afrika, Asien und anderswo sowie in den Konflikten im Nahen Osten. Nur allzu oft ergaben sich aus der Beteiligung der Sowjetunion von den kommunistischen Führern unbeabsichtigte Konsequenzen. So oder so hatte sie einen ungeheuren Einfluss auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Attraktivität der Ideologie

Vor allem seine Ideologie machte den Kommunismus über Russlands Grenzen hinaus attraktiv. Seit seiner Bekehrung zum Marxismus im Jahr 1893 hatte Lenin die Ideen von Marx an die russischen Verhältnisse angepasst, und das von ihm entwickelte Gedankengebäude wurde zur Grundlage dessen, was man ab 1918 unter Kommunismus verstand. Zu den unverwechselbaren Grundzügen des Leninismus zählen sowohl die Ziele der Bewegung als auch die Mittel zur Erreichung derselben. Hinsichtlich der Ziele hatte sich Lenin nicht weit von Marx entfernt, doch formulierte er genauer. So sagte er voraus, das Proletariat werde nach seiner Machtübernahme durch eine gewaltsame Revolution den bourgeoisen Parlamentarismus zerstören und - nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 - eine "demokratische Republik" errichten. Der Privatbesitz an Produktionsmitteln werde aufgehoben und das stehende Heer abgeschafft. Funktionäre würden nicht länger wie "Bürokraten" oder "Beamte" agieren und könnten jederzeit abberufen werden. Ihre Löhne lägen nicht über denen eines Durchschnittsarbeiters, und sobald der Widerstand der Kapitalisten gegen die neue Ordnung "vollständig gebrochen" und alle Klassenunterschiede beseitigt seien, werde der Staat "aufhören zu existieren". Erst dann sei es "möglich, von Freiheit zu sprechen". Immer häufiger sprachen die Führer der Sowjetunion von der Entstehung eines "neuen Menschen", der sich völlig selbstlos und ohne Einschränkung dem verschreibe, was vielen als utopische Ordnung erschien.

Dieses Ziel mochte unrealistisch sein, die Leidenschaft und Rücksichtslosigkeit jedoch, mit der es von Lenin und seinen Anhängern verfochten wurde, sicherte ihnen Gehör bei den Benachteiligten. Lange bevor Lenin von der Machtübernahme in Russland auch nur träumen konnte - im Jahr 1910 - wurde Pavel Akselrod, einer der Begründer des russischen Marxismus und Führer der Menschewiki, von einem russischen Radikalen gefragt, wie Lenin "all die Spaltungen, Streitereien und Skandale" innerhalb der Bewegung überleben und doch "so wirkungsvoll und gefährlich" sein könne. "Weil es niemanden sonst gibt, der sich 24 Stunden am Tag mit der Revolution beschäftigt, der an nichts anderes denkt als an die Revolution und selbst im Schlaf von nichts anderem träumt als von der Revolution", lautete die Antwort. "Versuchen Sie einmal, mit einem solchen Menschen umzugehen." In seiner vielleicht einflussreichsten Schrift "Was tun?" (1902) argumentierte Lenin im Gegensatz zu Marx, dass die Arbeiterklasse von sich aus kein Klassenbewusstsein entwickeln könne. Sich selbst überlassen, würden sich Arbeiter zu Gewerkschaftlern wandeln und der bürgerlichen Ideologie zum Opfer fallen. Für die sozialistische Partei schlug Lenin eine Organisationsstruktur vor, die eine beharrliche Führung des Proletariats durch die radikale "Intelligenz" einschloss, die als "Berufsrevolutionäre" wirken sollten, Einzelpersonen, die gründlich im Marxismus geschult seien und sich keiner anderen Aufgabe als der Vorbereitung der Revolution verschrieben hätten. Massenorganisationen der Arbeiterbewegung wie etwa die Gewerkschaften könnten dieser revolutionären Partei durchaus nützlich sein, doch werde ihnen keine Mitgliedschaft zugestanden und bei der Festlegung der Parteipolitik keinerlei Mitsprache eingeräumt. Lenin offenbarte einen grenzenlosen Glauben an die Leistungsfähigkeit seines Organisationsgefüges: "Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden ganz Russland umstürzen." Diesehierarchische und elitäre Parteistruktur wurde nach der Revolution zum Modell für die staatlichen Institutionen in Russland.

Ein weiterer Wesenszug der politischen Haltung Lenins lag in seiner Vorliebe für gewaltsame Umsturzversuche. Mehrfach äußerte er, dass "wichtige Fragen im Leben der Nationen nur mit Gewalt zu lösen" seien. Er empfahl die Anwendung von Gewalt nicht nur gegen die zaristischen und bürgerlichen Feinde der Massen. In einem Brief vom 11. Februar 1905 verurteilte er auch jene Genossen, die sich nur zögerlich an die Gründung revolutionärer Zirkel zur Beförderung der bolschewistischen Sache machten, und rief zu deren physischer Vernichtung auf: "Ich bin dafür, jeden standrechtlich zu erschießen, der es wagt zu behaupten, es seien nicht genug Leute zu finden. Die Menschen in Russland sind Legion, wir müssen die jungen Menschen nur umfassend und entschlossen rekrutieren, noch entschlossener und umfassender und immer noch umfassender und entschlossener ... Wir befinden uns im Krieg."

Hoffnungen auf Deutschland

Für die russischen Marxisten stand fest, dass ihre Revolution auf dem Spiel stand, sollten andere Länder nicht bald ihrem Beispiel folgen. Im marxistischen Denken galt gerade das hoch entwickelte Deutschland mit seiner großen sozialdemokratischen Partei als das Land, das am ehesten eine Vorreiterrolle auf dem Weg zum Sozialismus übernehmen könnte. Doch die Bedingungen in beiden Ländern unterschieden sich grundsätzlich; die deutschen Arbeiter, denen es besser ging als ihren russischen Genossen, hatten bei einem Frontalangriff auf die Regierung viel zu verlieren. Einige sozialistische Führer stellten klar, dass von den deutschen Arbeitern nicht mehr als moralische und materielle Unterstützung erwartet werden könne.

Es kann daher kaum überraschen, dass bereits während der Revolution des Jahres 1905, die im Westen weithin als gerechtfertigter Angriff auf eine archaische und brutale Autokratie gepriesen wurde, zahlreiche deutsche Linke Zweifel am taktischen Vorgehen der Leninisten äußerten, die nun Bolschewiki genannt wurden. Zwar hatten Anhänger des extremen linken Flügels der SPD die radikale Taktik Lenins und auch den fehlgeleiteten bewaffneten Aufstand in Moskau im Dezember 1905 unterstützt, doch wies eine beträchtliche Zahl von Sozialisten (unter ihnen August Bebel und Eduard Bernstein) die Vorstellung zurück, die deutschen Arbeiter sollten dem vom russischen Proletariat eingeschlagenen Weg folgen. Den Bolschewiki hätte dies später ein klares Signal sein müssen, sich nicht darauf zu verlassen, dass das Proletariat in Mitteleuropa eine Revolution nach ihrem Beispiel ausrief. Aber trotz häufig langer Jahre im westlichen Exil hatten die Funktionäre kein Gespür für die Mentalität der Arbeiter in diesem Teil der Welt entwickelt. Einer starren Ideologie verpflichtet, konnten sie sich nicht vorstellen, dass dort noch immer nationalistische Empfindungen verbreitet sein könnten, die die Arbeiter davon abhielten, sich von ausländischen Revolutionären führen zu lassen. Diese Fehleinschätzung sollte sich für lange Zeit als Fluch für die kommunistischen Führung erweisen.

Zwischen 1918 und 1921 verkalkulierte sich die politische Führung in Moskau immer wieder bei ihren Versuchen, die Revolution im Ausland und insbesondere in Deutschland zu fördern. Diese beschränkten sich nicht nur darauf, ihre vermeintlichen Genossen zum Handeln aufzurufen. Im April 1918 entsandte die Regierung den 35-jährigen Adolf A. Joffe, einen der engsten Freunde und Berater Leo Trotzkis, als ersten Repräsentanten der neuen Moskauer Obrigkeit nach Berlin. Die traditionelle Rolle eines Diplomaten lehnte Joffe ab - er weigerte sich, dem Kaiser sein Beglaubigungsschreiben vorzulegen und nahm umgehend Kontakt zu radikalen Kriegsgegnern unter den Sozialdemokraten auf, von denen viele inhaftiert waren. Er machte das Botschaftsgebäude zum "Hauptquartier der deutschen Revolution", wo ihm die Führer der USDP (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) Geheimbesuche zur Diskussion der revolutionären Strategie abstatteten. Er gab mehr als 100 000 Reichsmark für Waffen aus, die der Linken übergeben wurden. Die deutsche Polizei unterstellte der russischen Botschaft, die Revolution anzustacheln, und arrangierte es, dass eine von Russland an die Botschaft in Berlin gesandte Kiste im Bahnhofsgebäude "aus Versehen" zu Boden fiel. Aus dem Paket ergossen sich Aufrufe an die deutschen Arbeiter, einen Aufstand gegen die Regierung anzuzetteln. Joffe beteuerte seine Unschuld, doch wurden er und sein Mitarbeiterstab einen Tag nach dem Vorfall vom 5. April 1918 ausgewiesen. Diediplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion kamen für vier Jahre zum Erliegen. Zurück in Moskau äußerte sich Joffe unverblümt: "Wir waren zu schwach, um eine Revolution zu entfesseln."

Das Ausmaß des Versagens wurde schnell offenkundig. Der Spartakusaufstand im Januar 1919 in Berlin, der von den Kommunisten nahestehenden Radikalen angezettelt worden war, dauerte nur eine Woche und endete mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. In Absprache mit den regierenden Sozialdemokraten schlugen rechtsgerichtete Freikorps alle Umsturzversuche nieder. Die im April 1919 in Bayern ausgerufene Räterepublik nach sowjetischem Vorbild konnte sich drei Wochen halten, bevor auch sie von den Regierungstruppen niedergeworfen wurde. Der im März 1919 in Ungarn geschaffene sowjetische Staat unter Führung von Bela Kun überlebte etwas länger, büßte jedoch schnell an öffentlicher Unterstützung ein, nachdem die marxistische Regierung mit der Vergesellschaftung ernst machte und den Privatbesitz abschaffte. Am 1. August flüchtete Kun nach Wien; die Revolution war beendet. Anfang September schließlich fand der Revolutionsaufruf, den der in Baku durchgeführte "Erste Kongress der Völker des Ostens" an "die Massen" in Asien und Afrika richtete, nur wenig Gehör - zumal die meisten Bewohner dieser von den westlichen Kolonialmächten beherrschten Länder weder lesen noch schreiben konnten.

Diese massiven Fehlschläge veranlassten Lenin dazu, seine Strategie zu überdenken, ohne das Ideal der Weltrevolution aufzugeben. Der zweite Kongress der Komintern (Juli/August 1920) rechnete nicht mehr mit einem weiteren Vormarsch des Kommunismus in der nahen Zukunft und konzentrierte sich statt dessen auf eine Festigung der Kontrolle Moskaus über die weltweite sozialistische Bewegung. Doch die rüde Politik der Russen bewirkte nur eine weitere Entfremdung von den gemäßigten Sozialisten. Auf dem Kongress wurden die von Lenin aufgestellten "21 Bedingungen" für die Aufnahme ausländischer Parteien in die Komintern verabschiedet. Dazu gehörte es, dass die Parteien ihre Reihen von "Reformisten und Zentristen" zu "säubern" hatten und illegale Organisationen gründen sollten, die zu einem geeigneten Zeitpunkt im Sinne der Revolution aktiv zu werden hatten. Sie waren gehalten, in den Streitkräften Propaganda mit dem Ziel zu betreiben, sich nicht an einer "Konterrevolution" zu beteiligen. Sie sollten sich nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus, dem Führungsprinzip der KPdSU, organisieren, die Sowjetunion gegen die Konterrevolution verteidigen und alle Beschlüsse der Komintern als bindend betrachten. Diese schroffen Bedingungen waren für viele Sozialisten inakzeptabel und führten in den meisten europäischen Parteien, die einen Beitritt zur Komintern in Betracht gezogen hatten, zur Spaltung. Ferner schwächten sie den internationalen Einfluss der Sowjetunion erheblich.

Für wenige Jahre befand sich der politische Extremismus in Europa nun im Niedergang, und zudem stabilisierte sich die Wirtschaft in den meisten Ländern. In der ersten großen Krise nach der wirtschaftlichen Depression von 1929 schienen sich die Aussichten auf eine proletarische Revolution insbesondere in Deutschland wieder zu verbessern, doch erneut verspekulierten sich die sowjetischen Führer. Die höchste Gefahr ging vom raschen politischen Aufstieg des extremen rechten Flügels in Deutschland aus, der die Weimarer Republik verachtete und zu einer Abschaffung der Demokratie entschlossen war. In den Jahren 1928 bis 1932 konnten die Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil von 2,6 auf 37,4 Prozent (230 Sitze im Deutschen Reichstag) steigern und wurden zur stärksten Partei. Gleichermaßen unheilvoll für die Republik war der Rückgang des Stimmenanteils der SPD sowie die wachsende Unterstützung für die Kommunisten. Um die Machtübertragung auf die Nationalsozialisten zu verhindern, hätten Kommunisten und Sozialdemokraten einen Block bilden und sich den Kräften der politischen Mitte anschließen müssen, die sich der Weimarer Republik verpflichtet fühlten.

Doch die von Moskau diktierte Strategie wies in eine völlig andere Richtung. Überzeugt davon, dass sie sich der Unterstützung einer Mehrheit der deutschen Arbeiter sicher sein können, begannen die Kommunisten 1929 damit, die Sozialdemokraten als "Sozialfaschisten" zu verunglimpfen, mit denen jede Zusammenarbeit unmöglich sei. Eineinhalb Jahre später erklärte KPD-Führer Ernst Thälmann, eine Koalitionsregierung unter Beteiligung der Sozialdemokraten spalte und verwirre das Proletariat und sei damit "tausendmal schlimmer als eine offen faschistische Diktatur, die einem geeinten, zum Kampf für seine Interessen entschlossenen Proletariat gegenüberstehen würde". Und Hermann Remmele, ein anderer führender Kommunist, behauptete, es sei "nicht schlimmer, unter Brüning zu hungern als unter Hitler".

Gewiss haben die Sozialdemokraten (insbesondere jene, die der preußischen Regierung angehörten) nicht immer die hehren Prinzipien der Demokratie hoch gehalten. 1929 beispielsweise hatte die Obrigkeit aus Furcht vor gewalttätigen Ausschreitungen die Demonstrationen zum 1. Mai verboten. Die Kommunisten organisierten einen unbewaffneten Protestmarsch und wurden von der Polizei unter Führung von SPD-Funktionären mit Gummiknüppeln und Feuerwaffen auseinandergetrieben. In den Tagen danach gab es bewaffnete Zusammenstöße mit 25 getöteten und 36 schwer verletzten Zivilisten. Derartige Vorfälle aber mit der Politik Hitlers gleichzusetzen, war grotesk, und das sollten die Kommunisten zu ihrem Leidwesen bald erfahren. Für sie bedeutete die Naziherrschaft nicht nur die Zerschlagung ihrer Partei in Deutschland; der Weltkrieg kostete die Sowjetunion allein über 20 Millionen Tote.

Ausbreitung des Kommunismus

Angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs in den 1930er Jahren und des Anspruchs der Kommunisten, der einzige kompromisslose Gegner der Naziherrschaft zu sein, betrachteten eine wachsende Zahl von Intellektuellen im Westen und Aktivisten der Arbeiterbewegung das sozialistische Experiment in Russland als höchst erfolgreich und human. Nicht alle dieser so genannten Fellow Travelers waren für ein Loblied auf das sowjetische Gemeinwesen so wenig qualifiziert wie der amerikanische Journalist Lincoln Steffens, der 1921 nach einem kurzen Besuch in Russland erklärte: "Ich bin in der Zukunft gewesen, und sie funktioniert." Für Intellektuelle war es nicht ungewöhnlich, Entschuldigungen für die brutale Wirklichkeit des sowjetischen Alltags vorzubringen oder diese gar zu verleugnen - selbst die gewaltsame Vertreibung von Millionen Bauern, die Zwangskollektivierung, die "Säuberungen" in der Partei und die Hinrichtung von tausenden Parteifunktionären und Armeeoffizieren, die Errichtung von Arbeitslagern für Millionen unschuldiger Bürger und den abgrundtief niedrigen Lebensstandard.

Die wohlwollende Einschätzung des an der Macht befindlichen Kommunismus wurde im August 1939 schwer erschüttert, als Stalin einen Nichtangriffspakt mit Hitler unterzeichnete, der einen regen Handel zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich vorsah, eine Aufteilung Polens und die sowjetische Besetzung Estlands, Lettland und Litauens. Dieser Pakt gab Hitler freie Hand für den Angriff auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Schockiert kehrten viele westliche Kommunisten der Partei den Rücken, und viele Mitläufer revidierten ihr Bild von der stalinistischen Herrschaft.

Doch mit Hitlers Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 änderte sich die Stimmung. Der heftige Widerstand gegen die Invasoren und der enorme Beitrag der Sowjetunion zum Sieg über Nazideutschland stärkte nicht nur Stalins Prestige, sondern auch das der gesamten sozialen und politischen Ordnung der Sowjetunion. Am Ende des Krieges hatten sich die sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa festgesetzt, und bald danach gerieten die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Ostdeutschland, Rumänien, Jugoslawien, Bulgarien und am Ende auch die Tschechoslowakei unter die Knute des Kommunismus. In Frankreich und Italien konnten die kommunistischen Parteien, denen eine Führungsrolle im Kampf gegen den Nationalsozialismus beigemessen wurde, große Wahlerfolge erzielen und wurden zur Massenbewegung. 1949 übernahmen die Kommunisten die Macht in China; damit lebte nahezu ein Drittel der Weltbevölkerung unter kommunistischer Herrschaft.

Die Vorhersagen aus dem Jahr 1919 über die unaufhaltsame Ausbreitung des Sowjetsozialismus schienen sich zu bestätigen. Einige Jahre lang hing die Zukunft Europas trotz der großen Unterstützung der USA für die europäische Wirtschaft und für nichtkommunistische Parteien in der Schwebe. Der Vormarsch des Kommunismus in Europa war jedoch (mit Ausnahme Jugoslawiens) nicht das Resultat von Volksrevolutionen, sondern wurde mit sowjetischen Bajonetten erzwungen. Die sowjetische Herrschaft bzw. der Sozialismus sowjetischer Prägung wurde in den neuen "Volksdemokratien" keineswegs begrüßt. Zwischen 1948 und den frühen 1980er Jahren verzeichnete Osteuropa nicht weniger als fünf große Erhebungen gegen die Sowjetherrschaft. Zudem begann die Volksrepublik China 1957, sich von der Sowjetunion zu lösen.

Von den 1950er Jahren an stand der Weltkommunismus im Innern unter beträchtlichem Druck. Doch vier Jahrzehnte lang neigten die meisten politischen Beobachter dazu, vor diesen Anzeichen von Schwäche die Augen zu verschließen. Im 1947 einsetzenden Kalten Krieg trugen zwei Supermächte eine Schlacht aus, die jeden Kontinent der Erde berührte, und viele befürchteten einen neuen Weltkrieg oder die weitere Ausbreitung des Kommunismus. Die Auffassung, die Sowjetherrscher könnten ihre immense Militärmacht - eine Armee, die zwischen drei und fünf Millionen Soldaten zählte - zur Niederschlagung jeder Opposition in ihrem Einflussbereich einsetzen, war weit verbreitet.

Selbst weit entfernt von ihren Grenzen schien die Sowjetunion auf dem Vormarsch zu sein. 1959 übernahm eine von Fidel Castro angeführte Rebellenbewegung die Macht auf Kuba, 90 Meilen entfernt von der Küste Floridas. Zwei Jahre später bekannte sich Castro zum Marxismus-Leninismus und erklärte, in seinem Land den Kommunismus einführen zu wollen. Seit den 1950er Jahren hatten die Kommunisten zudem ihren Einfluss in den neuen Staaten Asiens und Afrikas ausgebaut, die nach dem Rückzug der westlichen Kolonialmächte entstanden waren - etwa in Indonesien, Indien, Burma und den Philippinen. Zahlreiche Angehörige der Intelligenzia in diesen Ländern hatten in London, Paris und an amerikanischen Universitäten studiert und waren dort mit dem Marxismus in Kontakt gekommen. Zusätzlich verstärkte die Sowjetunion ihre wirtschaftliche und militärische Unterstützung für die Länder im Nahen Osten, vor allem für Ägypten und Syrien.

Doch es dauerte nicht lange, bis die Länder in den unterentwickelten Regionen ihre Illusionen über den neuen Verbündeten verloren. Zum einen waren die in den früheren Kolonialstaaten an die Macht gelangten gesellschaftlichen Gruppen zwar an ihrer Unabhängigkeit interessiert, aber wenig angetan von der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Revolution, die 1917 in Russland stattgefunden hatte. Häufig erwies sich die von den sowjetischen Freunden bereitgestellte militärische Hilfe als den Waffen des Westens unterlegen, wie etwa Ägypten und Syrien 1967 im Sechstagekrieg gegen Israel erkennen mussten. Afrikanische Studenten, die zum Studium in sowjetische Städte und auf den Balkan strömten, waren nicht selten entsetzt über die rassistischen Beleidigungen, denen sie dort ausgesetzt waren. Und zum anderen mussten die Regierungen in den Entwicklungsländern nur allzu oft feststellen, dass die sowjetischen "Berater" nicht weniger herablassend auftraten als ihre westlichen Vorgänger. Die Beziehungen zwischen den Regierungen der entkolonialisierten Staaten und den sowjetischen Machthabern wurden angespannter.

Ende des Experiments

Zum 50. Jahrestag der kommunistischen Machtübernahme in Russland im Jahr 1967 bezeichnete es der Universalhistoriker Arnold Toynbee als "erstaunlich und ungewöhnlich", dass "Lenins totalitäres Regime" derart lange überlebt habe. Hugh Seton-Watson prophezeite, bereits Ende des 20. Jahrhunderts müssten "Studenten, die sich mit dem Verlauf des Niedergangs und des Zusammenbruchs von Herrschaftssystemen beschäftigen", auch mit der Sowjetunion befassen, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Sowjetunion keineswegs so stabil war wie allgemein angenommen. Seton-Watson irrte sich nur um ungefähr zehn Jahre.

Historikern wird das 20. Jahrhundert als jenes Zeitalter gelten, in dem das revolutionäre Russland eine grundsätzlich neue gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische (Welt-)Ordnung zu errichten suchte. Diese war jedoch zu weltfremd und idealistisch, um von den wirtschaftlich entwickelteren Staaten angenommen zu werden, und zu ineffektiv und politisch unattraktiv, um selbst dort, wo sie umgesetzt wurde, lange zu überdauern. Das vielleicht bleibendste Erbe des Kommunismus sind die Verwüstungen, die er in den Volkswirtschaften, im gesellschaftlichen und im politischen System dieser Länder angerichtet hat. Es wird Jahrzehnte dauern, bis diese Verwüstungen überwunden sind.

Abraham Ascher arbeitet derzeit an einer Geschichte der Juden in Breslau während des Nationalsozialismus. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Susanne Laux, Königswinter.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: William Henry Chamberlain, The Russian Revolution, 1971 - 1921, New York 1960, Bd. 2, S. 378.

  2. Vgl. Lenin on the United States, in: Selected Writings by V. I. Lenin, compiled by C. Leiteizen, New York 1970, S. 386.

  3. Vgl. dazu David Lane, The Roots of Russian Communism, Assen 1969, S. 12, sowie Leonard Schapiro, The Communist Party of the Soviet Union, London 1960, S. 171.

  4. So Lenin 1917 in: Staat und Revolution. Die marxistische Theorie des Staates und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution.

  5. Bertram D. Wolfe, Three Who Made A Revolution, New York 1948, S. 249.

  6. Wladimir I. Lenin, Collected Works, translated by Abraham Fineberg/Julius Katzer, Moskau 1977, Bd. 9, S. 132.

  7. Ebd., Bd. 8, S. 146.

  8. Vgl. Abraham Ascher, German Socialists and the Russian Revolution of 1905, in: Ezra Mendelsohn/Marshall S. Shatz (Eds.), Imperial Russia, 1700 - 1917: State, Society, Opposition. Essays in Honor of Marc Raeff, DeKalb 1988, S. 260 - 277.

  9. Vgl. Edward Hallett Carr, The Bolshevik Revolution, 1917 - 1923, New York 1961, Bd. 3, S. 76f., sowie Richard Pipes, The Russian Revolution, New York 1990, S. 668.

  10. Zit. nach: E. H. Carr (Anm. 9), S. 77.

  11. Vgl. Richard Pipes, Russia under the Bolshevik Regime, New York 1980, S. 379f.

  12. Ossip K. Flechtheim, Die KPD in der Weimarer Republik, Offenbach 1948, S. 165ff.

  13. Vgl. ebd., S. 155.

  14. Vgl. James I. Stokesbury, A Short History of World War II, New York 1980, S. 379f.

  15. Lincoln Steffens, The Autobiography, New York 1931, S. 799.

  16. Vgl. Neill McInnes, The Impact of the Russian Revolution 1917 - 1967, London 1967, S. 29, S. 205.

Ph.D., geb. 1928; Distinguished Professor of History (emeritus), Graduate Center, City University of New York/USA
E-Mail: E-Mail Link: a.ascher@att.net