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Ukraine und Weißrussland Editorial Welcome to Ukraine - Essay Sonderfall Lukaschenko Die russische Politik gegenüber der Ukraine und Weißrussland Geschichtspolitik in der Ukraine Das ukrainisch-polnische Verhältnis

Geschichtspolitik in der Ukraine

Wilfried Jilge

/ 18 Minuten zu lesen

Die Anerkennung der sowjetischen Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 als "Genozid am ukrainischen Volk" bzw. als "Holodomor" ist ins Zentrum geschichtspolitischer Debatten in der Ukraine gerückt.

Einleitung

Die sowjetische Hungersnot der Jahre 1932 - 1933 wirkte sich in den ukrainisch besiedelten Schwarzerdegebieten besonders hart aus und hatte Folgen, die bis in die ukrainische Nationsbildung der jüngsten Zeit reichen. In diesem Beitrag sollen die politischen Bedeutungen und Funktionen der offiziellen Geschichtspolitik der Ukraine am Beispiel der jüngsten Debatten zur Hungersnot untersucht werden.

Die Hungersnot hatte keine klimatischen Ursachen, sondern wurde u. a. durch eine brutale staatliche Getreiderequisition hervorgerufen, die den Bauern das zur Selbstversorgung notwendige Getreide entzog. Insofern liegt die Verantwortung für die Katastrophe zweifellos bei der sowjetischen Führung. Die Gesamtverluste in der Sowjetunion während der Hungersnot belaufen sich auf mindestens fünf bis sieben Millionen Menschen, während ukrainische und internationale Forscher die Zahl der direkten Hungertoten des Jahres 1933 in der Ukraine mit drei bis dreieinhalb Millionen angeben. Hohe Verluste erlitten auch die Kasachen; in der Forschung werden Zahlen zwischen 1,2 und mindestens 1,75 Millionen Tote genannt.

Die These vom "Holodomor" als geplanter Genozid am ukrainischen Volk ist in der ukrainischen Forschung mehrheitsfähig, international aber höchst umstritten. Neuere Forschungen haben zwar nationalitätenpolitische Faktoren berücksichtigt, aber auch nachgewiesen, dass die Politik der Bolschewiki widersprüchlicher war, als es Ansätze nahe legen, die ausschließlich von nationalen und politischen Faktoren ausgehen. Die Kontroverse ist wissenschaftlich nicht entschieden. In den Bereich der Geschichtspolitik gehören Thesen, welche die Hungersnot als einen durch das sowjetische Regime von langer Hand geplanten, gegen das ukrainische Volk gerichteten Genozid deuten und gleichzeitig diese Interpretation zum allein "wahren" Forschungsstand erklären.

Die Genese der Enttabuisierung der in der Ukraine von der sowjetischen Führung bis Ende 1987 beschwiegenen Hungersnot ist hier nicht darstellbar. Der Holodomor avancierte zu einem der Kernelemente des antisowjetischen Geschichtsbildes der ukrainischen Nationalbewegung Ruch, förderte die Delegitimierung des Sowjetsystems und diente als Argument für die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine: Das ukrainische Dorf galt in dieser Optik als Hort des nationalen Gedächtnisses, das von der sowjetischen Führung brutal unterdrückt wurde, weswegen die Nation politisch, ökonomisch und kulturell an den Rand ihrer Existenz geriet.

In den beiden Amtszeiten des Präsidenten Leonid Kutschma (1994 - 1999/1999 - 2004) wurde die Erinnerung an die Hungersnot im öffentlichen Raum der Ukraine mit unterschiedlicher Intensität und vor allem anlässlich von "runden" Jubiläen gefördert. Gleichwohl gehörte die sich in der ukrainischen Forschung seit Anfang der neunziger Jahre durchsetzende Deutung der Hungersnot als ein geplantes Verbrechen mit nationalukrainischer Ausrichtung oder als Genozid (bisweilen: Ethnozid) am ukrainischen Volk selbst in der autoritären Endphase des Regimes Kutschma - als die Staatsführung zunehmend auf Versatzstücke sowjetischer Geschichtspolitik zurückgriff - zum Bestandteil der offiziell zugelassenen Schulgeschichtsbücher.

Holodomor-Gedenken als Mittel der Nationsbildung

Der im Januar 2005 als Präsident vereidigte Viktor Juschtschenko und die von ihm eingesetzten "orangefarbenen Regierungen" setzten in ihrer Geschichtspolitik deutlich stärkere nationale Akzente, als dies in der späten Kutschma-Ära der Fall war. In einem wesentlichen Punkt unterschied sich Juschtschenko von seinem Vorgänger: Er ließ die Medien unangetastet und hat sie nicht zur Manipulation der regional unterschiedlichen Erinnerungskulturen genutzt. Anders als Kutschma hat er die Erinnerung an "nationale Helden", etwa an den in den russisch-ukrainischen Beziehungen höchst umstrittenen Kosakenhetmann Iwan Mazepa, auch bei Auftritten in den überwiegend russischsprachigen südlichen und östlichen Regionen des Landes thematisiert, in denen die Identifikation mit nationalen Helden deutlich geringer ist als in den westlichen Landesteilen.

Einer der Schwerpunkte der geschichtspolitischen Agenda von Präsident Juschtschenko wurde ab 2005 die Auseinandersetzung mit der totalitären sowjetischen Vergangenheit. Im Zentrum steht die staatliche Förderung der Erinnerung an die Opfer des Holodomor in der Ukraine der Jahre 1932/1933. Im Jahr 2006 beschlossen Präsident und Regierung anlässlich des "Tages des Gedenkens an die Opfer der Holodomore und politischen Repressionen" (25. November) ein umfassendes Maßnahmenpaket. Bereits 2005 hatte der Präsident die Gründung eines "Instituts des nationalen Gedenkens" (INP) nach polnischem Vorbild in die Wege geleitet, das laut Beschluss des Ministerkabinetts vom 5. Juli 2006 als "zentrales Organ der exekutiven Gewalt" begründet wurde. Die Bestimmungen des INP lesen sich wie ein geschichtspolitisches Programm zur Förderung der Nationsbildung: Das Institut solle der "Realisierung der staatlichen Politik in der Sphäre der Erneuerung und Bewahrung des nationalen Gedächtnisses des ukrainischen Volkes" dienen sowie die Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen verewigen. Als weitere Aufgaben werden die Stärkung der "Achtung der Gesellschaft vor der eigenen Geschichte" und die weltweite Verbreitung von "objektiven Informationen" zur ukrainischen Geschichte genannt.

Die Erinnerung an den Holodomor sollte der Integration der Nation über regionale Grenzen hinweg dienen: Die Präsidialerlasse zum Holodomor-Gedenken im Jahr 2006 stießen die Einweihung oder Vorbereitung für die Errichtung von Denkmälern an die Opfer des Holodomor in sämtlichen Gebietszentren der Ukraine (z.B. in Charkiw im Osten und Tschernihiw im Norden) an. Der symbolischen Integrationspolitik diente das bereits 2005 vom Präsidenten eingeführte Ritual der Pflanzung eines Schneeballstrauchhains. Der Schneeballstrauch mit seinen roten Beeren ist ein ukrainisches heraldisches Zeichen und Symbol der Nationalkultur. Von Bürgerinnen und Bürgern aus Dörfern aller Regionen, die unter dem Hunger gelitten hatten, wurden Schneeballsträucher an den Dnjepr-Hängen (in der Nähe des Kiewer Höhlenklosters) gepflanzt, wo in den kommenden Jahren eine monumentale Gedenkstätte zum Holodomor entstehen soll: Geplant sind ein Denkmal, ein Museum und ein wissenschaftlich-methodisches Zentrum.

Kristallisationspunkt der präsidialen Erinnerungs- und Integrationspolitik wurde das Gesetzesprojekt "Über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932 - 1933", das der Präsident am 3. November 2006 - wenige Wochen vor dem offiziellen Gedenktag zum Holodomor - beim Parlament registrieren ließ. In öffentlichen Stellungnahmen erklärte er die in § 1 festgesetzte Anerkennung des Holodomor der Jahre 1932/1933 in der Ukraine als "Genozid an der ukrainischen Nation" zum Kern des Gesetzesvorhabens. Aus Sicht des Präsidenten dient die Anerkennung als Genozid auch deswegen der "Konsolidierung" der Nation, da die Bewertung der Hungersnot als Genozid von der Bevölkerungsmehrheit geteilt werde. Außerdem verbietet das Gesetz die öffentliche Leugnung des Holodomor als "Verhöhnung des Gedenkens der Opfer des Holodomor" und "Erniedrigung der Würde des ukrainischen Volkes". Die bisweilen einseitige Fixierung auf die Genozidthese drückt sich sowohl in der Intensivierung der diplomatischen Bemühungen um die Anerkennung der Hungersnot als Genozid als auch in den Bestimmungen zum INP aus: Das Institut soll "an der Realisierung der staatlichen Politik zur Anerkennung der Holodomore in der Ukraine als Akte des Genozids teilnehmen". Dies bezieht sich nicht nur auf die Hungersnot von 1932/1933, sondern auf auch die sowjetischen Hungersnöte der Jahre 1921 - 1923 und 1946 - 1947.

In seiner Ansprache an das ukrainische Volk und die Abgeordneten des Parlaments am 16. November 2006 bat Viktor Jutschtschenko die Parlamentsabgeordneten um die Zustimmung zu seinem Gesetzesprojekt, noch vor dem offiziellen Holodomor-Gedenktag am 25. November. Ausdrücklich betonte er, kein anderes Volk - gemeint waren die Russen - des Genozids beschuldigen zu wollen: Urheber des Verbrechens sei das stalinistische Regime in der Sowjetunion gewesen. Jutschtschenko und die Vertreter des Präsidialapparates appellierten sowohl an die Moral als auch an den Patriotismus der Abgeordneten. Sie warnten vor einer Politisierung des Themas und erklärten die Anerkennung des Holodomor noch vor dem Gedenktag "zur Verpflichtung der politischen Kräfte vorder ukrainischen Nation". Das Parlament verschob jedoch am 17. November 2006 die Behandlung des Gesetzesprojektes. Der Stellvertreter des Präsidenten im Parlament sprach daraufhin von einer "verantwortungslosen Position des Parlaments". So konnte Juschtschenko die gesetzliche Anerkennung des Genozids zwar nicht rechtzeitig zum Gedenktag durchsetzen, sich jedoch vom "unverantwortlichen" Parlament als Wahrer des nationalen Gedächtnisses und damit der Nation absetzen und so moralisch legitimieren.

Die Genozidthese in der politischen Auseinandersetzung

Ein Gesetz zur politischen Bewertung des Holodomor wurde erst in einer langen parlamentarischen Debatte zur Hungersnot am 28. November 2006, drei Tage nach den Gedenkfeierlichkeiten, vom Parlament verabschiedet. Bei dem von einer absoluten Mehrheit angenommenen Gesetz "Über den Holodomor in der Ukraine in den Jahren 1932 - 1933" handelte es sich um einen Kompromiss, der nur eine geringfügige Modifikation des ursprünglichen Vorhabens darstellte. Es enthielt die Anerkennung des Holodomor als "Genozid am ukrainischen Volk" und stufte seine Leugnung als widerrechtlich ein. Die parlamentarische Mehrheit wurde durch die fast geschlossene Zustimmung derjenigen Fraktionen gewährleistet, die bis zum Sommer 2006 in den beiden von Juschtschenko eingesetzten "orangenen" Regierungen vertreten waren und mit dem Präsidenten auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew die Proteste gegen die gefälschten Präsidentenwahlen im November/Dezember 2004 unterstützten: der propräsidiale Block "Unsere Ukraine", der größte Oppositionsblock "Block Julia Timoschenko" sowie die Fraktion der Sozialistischen Partei der Ukraine (SPU). Die Partei der Regionen (PR) des amtierenden Premierministers Viktor Janukowytsch stimmte bis auf zwei Abgeordnete nicht für das Gesetz, und die Fraktion der Partei der Kommunisten (KPU) verweigerte ebenfalls erwartungsgemäß die Unterstützung. Für Jutschtschenko war dies immerhin ein Teilerfolg: Ihm gelang es, das ehemalige "orangefarbene" bzw. nationaldemokratische Lager zu mobilisieren und in Zeiten eigener schlechter Umfragewerte sein Bild bei der "orangenen" Wählerschaft mittels eines patriotisch und emotional besetzten Themas aufzupolieren.

Entscheidenden Anteil am Zustandekommen des Kompromisses hatte die Fraktion der SPU, insbesondere ihr Vorsitzender Oleksandr Moroz, der zugleich Präsident des ukrainischen Parlaments ist. Die Sozialisten gehören gemeinsam mit PR und KPU der "Antikrisenkoalition" an und unterstützten die Regierung Janukowitsch. Moroz handelte mit Juschtschenko einen Gesetzeskompromiss aus: So wurde in § 1 zur Anerkennung des Genozids der Begriff "ukrainische Nation" durch "ukrainisches Volk" ersetzt. Laut Verfassung ist damit die Gesamtheit der Bürger gemeint, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Damit wurde dem Einwand der Sozialisten und anderer Abgeordneter Rechnung getragen, nicht ausschließlich ethnische Ukrainer seien Opfer des Holodomor geworden.

Indem die Sozialisten in einer Abstimmung eine "orangene Koalition" schmieden halfen, erinnerten sie den Premierminister und die PR an die wichtige Rolle des "kleinen Koalitionspartners" und legitimierten sich zugleich als Garanten "konstruktiver Lösungen". Mit dieser Legitimationsfunktion von Geschichtspolitik war die Verschleierungsfunktion zur Kaschierung undemokratisch-postsowjetischer Verhaltensweisen freilich eng verbunden: In seiner Parlamentsrede zum Holodomorgesetz bezeichnete Moroz die "Entwicklung der Demokratie" als wichtigste Lehre, die aus dem Holodomor zu ziehen sei. Doch wenige Monate zuvor hatte er nach einer bereits getroffenen Koalitionsvereinbarung zwischen den "orangenen Parteien" durch einen sämtlichen demokratischen Gepflogenheiten widersprechenden politischen Seitenwechsel die Ernennung von Viktor Janukowytsch zum Premierminister ermöglicht, der mit seiner PR eine Hauptverantwortung für die Wahlfälschungen im Jahr 2004 trägt.

Die PR leugnete in ihrem Gesetzesentwurf weder den verbrecherischen Charakter der Hungersnot noch die Verantwortung der sowjetischen Führung noch die besondere Bedeutung des Ereignisses für die Ukraine, sprach sich jedoch gegen die Annahme der Genozidthese aus. In den Redebeiträgen ihrer Abgeordneten und in dem von ihr eingebrachten alternativen Gesetzesprojekt, das dem Projekt des Präsidenten durchaus ähnlich war, sprach die PR vom "Holodomor" als "Verbrechen des Stalin'schen Regimes gegen die Menschheit" und als einer "nationalen Tragödie des ukrainischen Volkes". Gegen die Genozidthese führte sie an, dass es damals auch in anderen sowjetischen Regionen außerhalb der Ukraine (z.B. in Kasachstan oder in den Schwarzerdegebieten Russlands) massenhaft Opfer der Hungersnot gegeben habe, nationale und ethnische Kriterien auf die Hungersnot daher nicht angewendet werden könnten. Sie warf dem Präsidenten und den propräsidialen Kräften vor, mit einer Fixierung auf die Genozidthese das Land zu spalten.

Die PR vertritt vor allem die russischsprachigen Wähler im Osten der Ukraine, die der sowjetischen Vergangenheit weniger kritisch gegenüberstehen als die Bevölkerung im Zentrum und Westen des Landes und für enge Beziehungen mit Russland eintreten. Außerdem liegt die wirtschaftliche und politische Machtbasis des Premierministers Janukowytsch in den energiehungrigen Industrien des ukrainischen Ostens (Stahlproduktion): Die Sicherung billiger Energielieferungen aus Russland gehört daher zu den Prioritäten in der außenpolitischen Agenda der Regierung Janukowytsch.

Das Außenministerium der Russischen Föderation erklärte im Rahmen der ukrainischen Debatte über den Holodomor, dass man die Bewertung der Hungersnot als Genozid nach ethnischen und nationalen Kriterien nicht anerkenne und warnte vor einer Politisierung des Themas. Die von der damaligen sowjetischen Führung verantwortete Hungersnot gehöre zum "gemeinsamen Gedächtnis" von Ukrainern, Russen, Kasachen und anderen Völkern der ehemaligen Sowjetunion. Die russische Seite empfindet die vom Präsidenten der Ukraine betriebene Anerkennung der Genozidthese implizit als antirussische Schuldzuweisung. Im Hinblick auf nationalistische Tendenzen in der ukrainischen öffentlichen Debatte ist dieser Vorwurf nicht unbegründet, bezüglich der Haltung des Präsidenten und der meisten Abgeordneten jedoch nicht gerechtfertigt.

Die Haltung der PR war jedoch nicht nur von der Sorge um innere Konsolidierung und geschichtspolitischen Frieden mit Russland, sondern auch von machtpolitischen Motiven geleitet. Vor dem Hintergrund der politischen Rivalität und des verfassungsrechtlich noch nicht geklärten Kompetenzgerangels zwischen Präsident und Regierung hätte es eine breite Parlamentsmehrheit unter Einschluss der Stimmen der PR dem Präsidenten ermöglicht, die öffentlichkeitswirksame Rolle eines über regionale Unterschiede und politische Konflikte erhabenen Schiedsrichters zu spielen, der symbolisch die Einheit der Nation garantiert. Eine Zustimmung zum Gesetz wäre für die PR durchaus möglich gewesen: Der heutige Vizepremierminister Dmytro Tabatschnyk hatte bereits 2002/2003 in den parlamentarischen Anhörungen zur Hungersnot - damals ebenfalls in der Funktion als Vizepremierminister der Regierung Janukowytsch - die Hungersnot als "Genozid am ukrainischen Volk" gewertet.

An der Parlamentsdebatte zur Hungersnot lässt sich exemplarisch der Prozess der kulturellen Umwertung der postsozialistischen Gesellschaft durch nationale Identitäts- und Geschichtspolitik illustrieren: Mittels eines essentialistischen Geschichtsbildes werden relative Unterschiede zwischen politischen und nationalen Gruppen in absolute, totale Unterschiede verwandelt, um durch Exklusion den politischen Gegner zu delegitimieren. Der stellvertretende Fraktionsführer des "Blockes Julia Timoschenko" Oleksandr Turtschynow erklärte die Zustimmung zur Anerkennung der Genozidthese zum Maßstab der Zugehörigkeit der Abgeordneten zur nationalen Elite und ihrer moralischen Fähigkeit, die Würde der Vorfahren zu verteidigen und sich als Nation zu präsentieren. Durch die geschichtspolitische Moralisierung einer juristischen Formel wurden die fast ausschließlich in der Anerkennung des Genozids liegenden Unterschiede zwischen dem modifizierten präsidialen Gesetzesprojekt und dem Vorhaben der PR in absolute Ausschlusskriterien verwandelt: Denjenigen Abgeordneten, welche die Genozidthese ablehnten, wurde implizit die "wahre" patriotische Gesinnung abgesprochen und ihr Handeln im Namen der Nation moralisch delegitimiert.

Politisierung und nationalistische Tendenzen

Die auf die Genozidthese fixierte Hungerdebatte ging auch mit der Konstruktion nationaler (antirussischer) Feindbilder und Stereotypen einher. Die meisten Debattenredner des nationaldemokratischen Lagers und insbesondere der Präsident haben die Genozidthese ausdrücklich nicht ethnisch-exklusiv begründet; unter Bezug auf die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 argumentierten sie mit dem Kriterium "national" im Sinne einer politischen Nation, die nicht nur ethnische Ukrainer einschließt. Gleichwohl wurde in einigen Beiträgen der öffentlichen Debatte Russland als dem alleinigen Rechtsnachfolger der UdSSR die unmittelbare Verantwortung für den Holodomor zugeschrieben. Aus historischen und nationalen Stereotypen wurden Schlussfolgerungen für die politische Gegenwart abgeleitet: So sei die (von der Partei der Regionen geforderte) Einführung der russischen Sprache als zweiter Staatssprache der "Versuch, den kulturellen Schlag des Holodomor gegen die Ukrainer auch für die Zukunft festzuschreiben".

Problematisch ist weniger die Aussage zum Status des Russischen denn die Polarisierung aktueller kulturpolitischer Fragen durch Historisierung. Fragwürdig sind diese Tendenzen auch deswegen, weil sie die ukrainische Nation ausschließlich als Opfernation definieren und von jeder eigenen Verantwortung für die totalitäre Vergangenheit zu entlasten suchen. In diese Richtung zielt in einigen Fällen auch die Bezeichnung des Holodomor als "ukrainischer Holocaust", die den Holocaust zugunsten der Hervorhebung und Wahrung des Opferstatus in den Hintergrund drängen soll. Jedoch bedeutet dieser in der ukrainischen Debatte fast eingebürgerte Begriff nicht zwangsläufig eine Abwertung des Holocaust, auch wenn dieser in der Erinnerungskultur der Ukraine und anderen Staaten Ostmitteleuropas einen insgesamt wohl geringeren Stellenwert als die sowjetischen Verbrechen hat: In vielen Fällen signalisiert der Begriff das Bedürfnis nach Anerkennung einer internationalen und vor allem in den westeuropäischen Erinnerungskulturen immer noch wenig bekannten totalitären Vernichtungserfahrung.

Nach Meinung einer Minderheit von ukrainischen Historikern haben eine nationale undmoralisierende Argumentation sowie die legitimationswissenschaftlich-staatsaffirmative Fixierung auf die Genozidthese Auswirkungen auf das Klima in der historischen Forschung der Ukraine: Die in den vergangenen Jahren zunehmende Politisierung könne "dem umfassenden Verständnis des Ausmaßes, der Ursachen und der Folgen der Tragödie nur abträglich" sein.

Ambivalenz nationaler Geschichtspolitik

Trotz der exklusiv-nationalistischen Tendenzen ist für viele ukrainische Wissenschaftler und Intellektuelle, die der Genozidthese folgen, die historische Aufarbeitung der Hungersnot kein Grund für zwischennationale Schuldzuweisungen; vielmehr gilt sie als ein historisches Argument für die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine. Ein Beispiel ist die Geschichtspolitik Viktor Juschtschenkos in seiner Zeit als Oppositionsführer der Jahre 2003/2004. Im Rahmen des Gedenkens zum 70. Jahrestag des Holodomor 2003 unterstrich er die Bedeutung einer freien Presse und einer in Europa integrierten Ukraine: In einem solchen Land hätte kein Regime die Hungersnot verschweigen und den Notleidenden Hilfe verwehren können. In demokratisch-emanzipatorischer Absicht nutzte Juschtschenko das Thema zu einer Kritik am autoritären Regime Kutschmas, ohne durch Schuldzuweisungen an "die Russen" in die Falle der staatlichen Propaganda gegen die"faschistischen Nationalisten" zu tappen. Auch in anderen historischen Fragen verband der damalige Oppositionsführer Schlüsselelemente des antisowjetisch-nationalen Geschichtsbildes mit einem demokratisch ausgerichteten Reformprogramm und konnte der Opposition so auch Wähler außerhalb der nationalbewussten Westukraine erschließen.

Mit dem Rollenwechsel Jutschtschenkos vom Oppositionsführer zum Präsidenten haben sich die Bedeutungen seiner Geschichtspolitik gerade im Bezug auf das Thema Hungersnot verschoben: Im Vordergrund stehen Werte wie "Konsolidierung", "Einheit der Nation" und - eng damit verbunden - die politisch-moralische Legitimation der präsidialen Führung und der sie unterstützenden politischen Kräfte. Gleichwohl lässt sich diese Geschichtspolitik nicht auf eine machtpolitische Inszenierung der Staatsmacht reduzieren: Die christlich-religiös eingefärbten Zeremonien zum Gedenken an die Opfer des Holodomor im November 2005 und insbesondere im November 2006, die in Kiew unter dem Motto "Zünde eine Kerze an" stattfanden, illustrierten das verbreitete Bedürfnis der Bevölkerung, der Tragödie zu gedenken: Tausende Kiewer stellten vor dem Denkmal zum Holodomor auf dem Platz vor dem Michaelskloster eine Kerze zum Andenken an die Opfer der Hungersnot auf. Die vom Präsidenten anlässlich des Gedenktages eröffnete und stark besuchte Ausstellung "Freigegebene Erinnerung" im "Ukrainischen Haus" in Kiew präsentierte geheime Dokumente der sowjetischen Geheimpolizei NKWD zur Hungersnot und zu den politischen Repressionen des Stalinismus. Diese und ähnliche Ausstellungen in den Regionen sollten mittels der Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit die Intoleranz gegenüber jeder Form von Gewalt und die demokratische Entwicklung fördern.

Im Kontrast zu dem demokratischen und moralisch-patriotischem Impetus stehen jedoch einige strukturelle Kontinuitäten zwischen der Geschichtspolitik des Kutschma-Regimes einerseits und der heutigen Präsidialadministration sowie der Regierung andererseits. Ein Beispiel ist die nicht immer transparente Genese der Gründung des INP: Der Posten des Direktors und seiner Stellvertreter wurde entweder mit Politikern aus dem Umkreis des Präsidenten und des nationaldemokratischen Lagers oder mit "guten Patrioten" besetzt, die durchweg keine Historiker sind. Vor allem aber ist das Institut, das in der nationalen Gedenkstätte untergebracht werden soll, bisher eine rein virtuelle Veranstaltung ohne Adresse und Finanzierung; seine Genese entzieht sich weitgehend der Öffentlichkeit. Insgesamt drängt sich daher der Eindruck auf, dass eine stark moralisierende Geschichtspolitik und ihre monumentalen Gedenkformen die Perpetuierung eines dieoffizielle Kulturpolitik kennzeichnenden postsowjetischen Klientelwesens und dessen Verhaltensweisen verschleiern sollen.

Fazit

Der Holodomor ist ein Schlüsselereignis im nationalen Geschichtsbild der Ukraine. Seine Interpretation als "Genozid am ukrainischen Volk" ist in den vergangenen Jahren noch stärker ins Zentrum einer symbolisch-geschichtspolitischen und staatlich geförderten Nationsbildung gerückt. Wie in anderen ostmitteleuropäischen Staaten ist die Interpretation der Hungersnot als Genozid auch Teil der Bemühungen, durch eine als einzigartig gedeutete totalitäre Erfahrung die Nation als besondere Opfer- und Erinnerungsgemeinschaft zu konstituieren und ihre Einheit historisch zu legitimieren. Dabei zeigt sich, dass die Veränderungen der Bedeutungen der Geschichtspolitik ein und derselben politischen Kraft u. a. von ihrer Rolle in den politischen Institutionen und der jeweiligen machtpolitischen Konstellation abhängig sind.

Eine breite Übereinstimmung der Bevölkerung mit der Genozidthese, mit der Jutschtschenko implizit sein Gesetzesvorhaben rechtfertigte, lässt sich aus jüngsten Umfragen nicht ablesen. Dennoch könnte die staatlich geförderte Erinnerung an den Holodomor ein Grund dafür sein, warum das Thema im historischen und nationalen Bewusstsein der Ukrainer an Bedeutung gewonnen hat. Nach einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie an der Mohyla-Akademie hat die überwiegende Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung von der Hungersnot gehört oder gelesen (mehr als 94 Prozent). 69 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass für den Hunger vor allem die Aktionen der Sowjetmacht verantwortlich waren. Aber nur ein Viertel derjenigen, die von einer geplanten Hungersnot ausgehen, glauben, dass sie ausschließlich gegen ethnische Ukrainer gerichtet war. Dagegen glauben 61 Prozent, die von einer geplanten Hungersnot ausgehen, der Holodomor habe sich gegen alle Bewohner der Ukraine unabhängig von ihrer Nationalität gerichtet. Bemerkenswert ist, dass im überwiegend russischsprachigen Süden fast 60 Prozent und im ebenfalls russischsprachigen Osten immerhin deutlich über 40 Prozent der Befragten meinen, dass der Holodomor von den sowjetischen Machthabern verursacht wurde (im Westen des Landes ca. 80 Prozent, im Zentrum über 70 Prozent). Insofern könnte der Holodomor tatsächlich zu einem Symbol werden, das Ukrainer unterschiedlicher Regionen in der Erinnerung an eine totalitäre Vernichtungserfahrung eint.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. allgemein zum Begriff Geschichtspolitik Petra Bock/Edgar Wolfrum (Hrsg.), Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999, S. 9: Nach Bock/Wolfrum richtet sich Geschichtspolitik "auf die öffentliche Konstruktion von Geschichts- und Identitätsbildern", die sich über Diskurse, Rituale und Symbole vollziehen und die Funktion der politischen Legitimation und Mobilisierung mittels der Vergangenheit einschließen.

  2. Das ukrainische Wort holodomor hat sich in der ukrainischen Debatte als Bezeichnung für den Hungerterror eingebürgert. Es ist eine Verbindung von holod (Hunger) und mor (Krankheit, Seuche, Massensterben) und verweist auf die gewaltsame Instrumentalisierung der Hungersnot durch die Bolschewiki gegen die sich gegen die Kollektivierung wehrenden Bauern. Mit der Begriffsbildung wird die Einzigartigkeit des von der sowjetischen Führung verübten Verbrechens angedeutet.

  3. Vgl. Rudolf A. Mark/Gerhard Simon (Hrsg.), Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR (Themenheft Osteuropa 12), Berlin 2004.

  4. Vgl. ausführlich Wilfried Jilge, Holodomor und Nation. Der Hunger im ukrainischen Geschichtsbild, in: ebd., S. 147 - 163.

  5. Als die Ukraine im Nordischen Krieg (1700 - 1721) zum Kriegsschauplatz wurde, löste sich Iwan Mazepa (1639 - 1709) - Hetman (Feldherr) und militärischer Führer der ukrainischen Dnjepr-Kosaken (ab 1687) - 1708 von Zar Peter I. und wechselte mit den Saporoscher Kosaken auf die Seite Schwedens unter König Karl XII. Für ukrainische Patrioten ist Mazepa daher ein leuchtendes Symbol der Unabhängigkeit, für russische Nationalisten bis heute ein Separatist und Verräter.

  6. Beschluss des Ministerkabinetts der Ukraine Nr. 927 vom 5.7. 2006, Pro zatverdzennja Polozennja pro Ukraïns'kyj instytut nacional'noï pam''jati, in: Oficijnyj visnyk Ukraïny, (2006) 27, 19.7. 2006, S. 83, § 1962.

  7. Bisher haben zehn nationale Parlamente den Holodomor als Genozid an den Ukrainern anerkannt (u.a. Estland, Italien, Litauen, Polen und Georgien). Bei den diplomatischen Bemühungen erhält die Ukraine vor allem von den ostmitteleuropäischen Nachbarn Unterstützung: Ende 2006 verurteilte das polnische Parlament den Holodomor anlässlich des Gedenktages als Genozid am ukrainischen Volk und zeigte besonderes Verständnis für das Gedenken der Ukrainer an den Holodomor: Alle Formen des Totalitarismus hätten insbesondere in der Geschichte von Polen und Ukrainern ihre Spuren hinterlassen. Anm. der Red.: vgl. zum ukrainisch-polnischen Verhältnis auch den Beitrag von Bohdan Hud in diesem Heft.

  8. Vgl. Gesetz der Ukraine Nr. 376/V vom 28.11. 2006, Pro Holodomor 1932 - 1933 rokiv v Ukraïni, in: Vidomosti Verchovnoï Rady Ukraïny (VVR), (2006) 50, S. 504.

  9. Dass die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um den Holodomor mit dem verstärkten Heranrücken der Ukraine auch im "älteren EU-Europa" zum Thema werden könnten, illustriert die Ausstellung "Die Hungersnot in der Ukraine 1932/1933", die das Österreichische Staatsarchiv, die Österreichisch-Ukrainische Gesellschaft und die Ukrainische Botschaft in Wien unter Schirmherrschaft von Bundesminister a. D. Rudolf Edlinger organisierten und am 21.2. 2006 eröffneten: Gegen die Ausstellung hatten Vertreter der Russischen Föderation Einwände bei der österreichischen Regierung vorgebracht. Offensichtlich unterstellte die russische Seite der Ausstellung eine antirussische Tendenz.

  10. Vgl. zu diesem postkolonialistischen Ansatz Graham Smith u.a. (Eds.), Nation-Building in the Post-Soviet Borderlands. The Politics of National Identities, Cambridge 1999, S. 15 - 16.

  11. Dabei ist zu bedenken, dass ein Teil dieser Beiträge häufig eine direkte Reaktion auf die in Putins Russland gepflegte, apologetische Erinnerung an sowjetische Symbole oder "Helden" darstellt; dazu gehört die positive Neubewertung von Symbolen des Stalinismus (z.B. von Stalins Geheimdienstchef Berija) - eine Entwicklung, die in der Ukraine angesichts der damit einhergehenden autoritären Entwicklung mit Sorge beobachtet wird.

  12. Vgl. den Beitrag des Politologen und Aktivisten der Jugendorganisation Pora, Ostap Kryvdyk, Holodomor bez Ukraïnciv, in: Ukraïns'ka Pravda vom 27.11. 2006; www.pravda.com.ua.

  13. Vgl. zum Zusammenhang von Erinnerung an den Holocaust in der Ukraine, den Zweiten Weltkrieg und den damit symbolisch häufig verknüpften "ukrainischen Holocaust" Wilfried Jilge, Zmahannja zertv [Konkurrenz der Opfer], in: Krytyka, (2006) 5, S. 14 - 17.

  14. Valerij Vasil'ev, Zwischen Politisierung und Historisierung. Der Holodomor in der ukrainischen Historiographie, in: R. A. Mark/G. Simon (Anm. 3), S. 165 - 182, hier S. 182. Für Hinweise zur jüngsten Entwicklung im Januar 2007 danke ich dem Kiewer Historiker Heorhij Kasianov.

  15. Zum Direktor ernannte der Präsident Ihor Juchnowsky, der von 1990 bis 2006 für die Nationalbewegung Ruch und später für den "Block Viktor Juschtschschenko Unsere Ukraine'" im Parlament saß und heute Mitglied des Rates der Präsidentenpartei "Volksunion Unsere Ukraine`" ist. Juchnowsky ist Physiker und leitet eines der Institute für Physik an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Dem Physiker, der bereits als Abgeordneter mit geschichtspolitischen Fragen befasst war und dort eine moderate Haltung einnahm, darf ein ernsthaftes Interesse an der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit unterstellt werden. Bemerkenswert ist, dass der wissenschaftliche Sekretär des Instituts zum Stellvertreter ernannt wurde. Zum weiteren Stellvertreter wurde der Vorsitzende der Kiewer Organisation der Vasyl Stus-Gesellschaft "Memorial" ernannt. Krucyk war von 1994 - 1998 als Mitglied des Kongresses der Ukrainischen Nationalisten Abgeordneter im ukrainischen Parlament.

  16. Vgl. die Zahlen bei Viktorija Herasymcuk, Nedorozkazaly, in: Den', Nr. 196 vom 11.11. 2006.

Geb. 1970; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an derUniversität Leipzig, Luppenstraße 1 B, 04177 Leipzig.
E-Mail: E-Mail Link: Wilfried.Jilge@web.de