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Das pazifische Jahrhundert

Michael Hennes

/ 15 Minuten zu lesen

In Asien hat mit dem Ende des Kalten Krieges ein neues Konzert der Mächte begonnen. Die USA orientieren sich zunehmend von Europa weg und nach Asien hin.

Einleitung

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Gravitationszentrum der Weltpolitik von Europa nach Asien verlagert. Das 21. Jahrhundert wird zunehmend bestimmt sein von der wirtschaftlichen Dynamik, den zwischenstaatlichen Konflikten und den kulturellen Einflüssen des asiatischen Kontinents. Die Vereinigten Staaten als Hegemon der Weltpolitik haben sich seit 1990 immer stärker nach Asien hin orientiert. In dieser grundlegenden Verschiebung des Mittelpunktes der Weltpolitik stimmen der Altmeister der amerikanischen Diplomatie, Henry A. Kissinger, der amtierende Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes CIA, General Michael V. Hayden, und zum Beispiel auch der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain überein. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik wird sich an dem fundamentalen Wandel der weltpolitischen Rahmenbedingungen auszurichten haben.



Der Ausgangspunkt der Veränderungen war das Ende des Kalten Krieges. Zwischen den Jahren 1989 (Zerfall des Kommunismus in Osteuropa) und 1991 (Auflösung der Sowjetunion) wurden die zentralen Sicherheitsprobleme des Westens in Europa gelöst. Die Vereinigten Staaten verblieben dabei als einzige Weltmacht. Wirtschaftlich rückte Asien unmittelbar in das Zentrum der amerikanischen Interessen. Der pazifische Raum hatte schon 1990 eine größere wirtschaftliche Bedeutung für die USA als die alte transatlantische Gemeinschaft: Mit einem beiderseitigen Handelsvolumen von rund 300 Milliarden Dollar überstieg der US-Handel mit Asien den transatlantischen Handel um fast ein Drittel. Zum wichtigsten Verbündeten der USA war Japan geworden. Die Vereinigten Staaten und Japan erwirtschafteten zusammen fast 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes. Der Trend hat sich seither verstärkt und spiegelt sich auch in der Demografie wider: Heute leben über 60 Prozent der Weltbevölkerung in Asien, alleine in China 1,3 Milliarden und in Indien 1,1 Milliarden Menschen. Nach Schätzung der Vereinten Nationen werden im Jahr 2050 in Asien immer noch fast 60 Prozent der Weltbevölkerung leben, in Europa statt elf (2008) nur noch sieben Prozent der Menschheit. In den Vereinigten Staaten wird die sinkende Bedeutung Europas wahrgenommen. Schon das zögerliche Eingreifen des US-Präsidenten George Bush sen. angesichts der serbischen Aggression auf dem Balkan war 1991/92 auf die Neugewichtung der geopolitischen Interessen der USA zurückzuführen.

West- und Mitteleuropa sind eine Insel des Friedens. Daran ändern auch Konflikte am Rande zu Asien nichts, wie aktuell der russisch-georgische Konflikt um die Provinzen Südossetien und Abchasien. Mit der Ausweitung von NATO und Europäischer Union (EU) nach Osten und der glücklich verlaufenen Demokratisierung in Osteuropa sind die zentralen Sicherheitsprobleme in Mitteleuropa auf längere Sicht gelöst. Als im Februar 2008 der Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte, führte dies auf dem Balkan zu keinen Erschütterungen wie noch die Unabhängigkeitserklärungen von Kroatien und Slowenien im Jahre 1991. Deutschland ist damit vom vital bedrohten Frontstaat des Kalten Krieges in die Mitte dieser europäischen Insel des Friedens und Wohlstandes gerückt. Wir sind von Freunden "umzingelt".

Die deutsche Versuchung

Für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik beginnen die Krisenregionen weit östlich an den Grenzen zwischen Russland und Asien. Die Kämpfe in Georgien im August 2008 haben das dokumentiert. Das transatlantische Bündnis hat seine traditionelle Daseinsberechtigung verloren. Dennoch ist die NATO von bleibendem Wert für Europa. Sie ist ein Stabilitätsfaktor, der bei Krisen in Europa den Frieden sichert. Außerdem bestimmen die europäischen Bündnispartner weitaus selbstbewusster als in den Jahrzehnten des Kalten Krieges den Kurs der atlantischen Gemeinschaft mit. Washingtons Präferenz seit dem ersten Golfkrieg 1991 liegt zwar auf einer Ad-hoc-Bildung von Kriegsbündnissen ("coalition of the willing"), aber aus europäischer Sicht hat die Herabstufung des Atlantischen Bündnisses in regionalen Kriegen einen großen Vorteil: Nationale Vorbehalte gegenüber dem Einsatz der Streitkräfte können ohne Verlust der Bündnistreue reklamiert werden.

Deutschland hat sich im Jahr 2003 demonstrativ dem Irak-Krieg verweigert. Ebenso hält unser Land seit 2002 die Beschränkungen des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan aufrecht. Dennoch hat das atlantische Bündnis keinen substantiellen Schaden genommen. Washington ist viel zu sehr auf Lastenteilung und Stationierungsrechte angewiesen, als dass die USA das "alte Europa" abstrafen könnten. Die berühmt gewordene Unterscheidung des vormaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zwischen "altem" und "neuem Europa" war nie mehr als eine vordergründige Rüge. Verbale Provokationen ändern nichts an der von Machtressourcen bestimmten Kleiderordnung der internationalen Politik. Den USA ist längst klar geworden, dass die amerikanische Weltmacht ohne Deutschland und Frankreich auf wertvolle diplomatische, finanzielle und militärische Unterstützung verzichten müsste. "Amerika hat keinen besseren Partner als Europa", schmeichelte der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama bei seiner Rede am Berliner Tiergarten.

Das "alte Europa" genießt durch die Beistandsklausel des NATO-Vertrages und die fortgesetzte Stationierung amerikanischer Truppen auf deutschem Boden eine unschätzbar wertvolle Stabilität. Das russische Vorgehen in Georgien hat den strategischen Wert der amerikanischen Schutzgarantie dramatisch in Erinnerung gerufen. Auf Grund der stabilen Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft sichert die transatlantische Verbindung unseren Kontinent auf Dauer in einer Ära des Friedens. Noch nie haben entwickelte Demokratien gegeneinander Krieg geführt. Eine schrittweise Integration der neuen Demokratien Osteuropas in die EU und die NATO könnte für Europa ein Jahrhundert des "demokratischen Friedens" einleiten. Das Atlantische Bündnis stellt nur noch die Versicherung vor plötzlichen Bedrohungen durch das Auftauchen neuer Tyrannen dar. So haben die Luftangriffe der NATO 1995 und 1999 die serbische Führung unter Präsident Slobodan Milosevic entscheidend zum Rückzug aus Bosnien und aus dem Kosovo gezwungen.

Berlin befindet sich mit der heutigen Machtverteilung innerhalb der atlantischen Gemeinschaft in einer komfortablen Situation. Ohne die Zustimmung der Europäer können die USA keine Erweiterung des Bündnisses an den Grenzen Russlands vornehmen. Die Bush-Administration hat das neue europäische Selbstbewusstsein beim NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest zähneknirschend akzeptieren müssen. Nicht einmal die Nuklearstrategie, über Jahrzehnte hinweg das zentrale Konfliktfeld in den transatlantischen Beziehungen, ist heute noch ein Streitthema. Mittlerweile verfügen die US-Streitkräfte auf dem europäischen Kontinent nur noch über ein Abschreckungspotential von 200 bis 350 Freifallbomben für ihre Kampfflugzeuge F-15 und F-16, davon lediglich 20 Kernwaffen auf deutschem Boden (US-Luftwaffenstützpunkt Büchel in der Eifel). Das Risiko eines atomaren Krieges ist minimiert. Beide amerikanischen Präsidentschaftskandidaten haben sich zudem für eine völlige nukleare Abrüstung ausgesprochen. Die Gefahr eines Atomkrieges, die über Jahrzehnte hinweg der Spaltpilz des Atlantischen Bündnisses war, ist heute gebannt. Für die europäische Sicherheit bietet das Atlantische Bündnis in Europa nur Vorteile. Die Konfliktfelder liegen außerhalb unseres Kontinents, vor allem in Asien. Das pazifische Jahrhundert wird aus deutscher Sicht von der Versuchung geprägt sein, aus unserem Land eine große Schweiz zu machen: Geschäfte ja, Verantwortung nein!

Die Zukunft der NATO

Die Atlantische Allianz wurde 1949 als ein Verteidigungsbündnis zum Schutze Europas gegründet. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die territoriale Beschränkung obsolet geworden. In Europa kann sich keine Militärmacht der Erde einen Angriff auf ein Bündnismitglied der NATO leisten. Die Übermacht der Atlantischen Allianz ist auf Grund der amerikanischen Schutzgarantie überwältigend. Aus diesem Grunde drängen die ehemals kommunistischen Staaten an der Peripherie Russlands in die NATO. Längst sucht sich das Bündnis unter amerikanischem Druck seine neuen Aufgaben jenseits des traditionellen Verteidigungsbereiches. Das wichtigste Konfliktgebiet im 21. Jahrhundert ist Asien.

Die amerikanische Weltmacht ist auch im pazifischen Jahrhundert die gestaltende Kraft der internationalen Politik. Die USA werden mindestens bis zum Jahr 2050 die größte Volkswirtschaft der Erde bleiben. Wahrscheinlich werden die hohen Wachstumsraten Chinas dem Gesetz vom abnehmenden Grenzertrag folgen und sich den durchschnittlichen Wachstumsraten der restlichen Welt annähern. Dann würde die weltwirtschaftliche Führungsposition der Vereinigten Staaten, die heute knapp ein Drittel des weltweiten Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften, bis weit in die zweite Hälfte des Jahrhunderts hinein erhalten bleiben. Deutlich länger dürfte sich die militärische Überlegenheit der USA gegenüber allen anderen Staaten auf der Welt fortsetzen. Die Vereinigten Staaten bestreiten alleine rund 45 Prozent der weltweiten Militärausgaben. Ihre dritte bedeutende Machtressource liegt allerdings in der Bündnisbildung, an erster Stelle mit den europäischen Demokratien im Rahmen der NATO. Die militärische Dominanz der US-Streitkräfte hängt auch von der Lastenteilung, den Stationierungsrechten und den militärischen Beiträgen der europäischen Verbündeten ab. Deshalb spielt das Atlantische Bündnis eine zentrale Rolle für die amerikanische Weltpolitik bis in den asiatischen Kontinent hinein. Eine "Verschweizerung" der Europäer würde für die amerikanische Außenpolitik zu gravierenden Problemen führen.

Deutschland kann sich aus Konflikten in Asien heraushalten. Das ist das Glück der europäischen Insellage. Für die Weltmacht USA ist die eigene Hegemonie insofern ein Fluch, als sich aus der Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltpolitik nach Asien Aufgaben ergeben, denen sich Washington nicht verweigern kann. Für die Vereinigten Staaten kommt es entscheidend darauf an, Europa weiter in der weltpolitischen Verantwortung zu halten und damit in die Konflikte des asiatischen Kontinents zu verstricken. Vor diesem Hintergrund fordert der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain den Aufbau einer "League of Democracies" (in Anlehnung an den Völkerbund, die "League of Nations"). Im pazifischen Jahrhundert strebt die amerikanische Politik nach einer neuen Lastenteilung in einer Weltgemeinschaft der Demokratien unter amerikanischer Führung. Die NATO ist der Mikrokosmos dieser amerikanischen Vision.

Die zentrale Front

Das Konfliktpotential entfaltet sich gegenwärtig in seiner ganzen Brisanz in Afghanistan. Im Grenzgebiet zu Pakistan sind die Feinde der westlichen Demokratie auf dem Vormarsch. Ihr Widerstand wird genährt durch einen stockenden Wiederaufbau, durch den sich Armut und Korruption in Afghanistan kaum bekämpfen lassen. Ohne die Europäer geht es nicht. Die NATO-Partner unterstützen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die Operation "Enduring Freedom" mit dem Ziel einer weltweiten Zerschlagung von al Qaida und der Taliban am Hindukusch. Nach dem Rücktritt des pakistanischen Präsidenten Pervez Musharraf und dem bevorstehenden Amtswechsel im Weißen Haus werden sich die amerikanisch-britischen Operationen zunehmend auf das pakistanische Gebiet ausdehnen. Der Präsidentschaftsbewerber Barack Obama hat deutlich dafür plädiert: "Die zentrale Front im Krieg gegen den Terror ist nicht der Irak und er ist es nie gewesen. Was konnten sich Amerikas Feinde mehr wünschen als einen endlosen Krieg, in dem sie neue Anhänger rekrutieren und neue Einsatztaktiken auf dem Schlachtfeld so weit weg von ihrer Operationsbasis erproben? Das ist es, warum meine Präsidentschaft den Fokus verschieben wird. Statt einen Krieg zu kämpfen, der nicht gekämpft werden muss, müssen wir damit beginnen, die Schlachten zu kämpfen, die an der zentralen Front im Krieg gegen al Qaida in Afghanistan und Pakistan gewonnen werden müssen. (...) Wir können kein Rückzugsgebiet für Terroristen, die das amerikanische Heimatland und Pakistans Stabilität bedrohen, tolerieren. Wenn wir ausreichende Aufklärungsergebnisse über hochrangige Ziele von al Qaida in der pakistanischen Grenzregion haben, sollten wir handeln, falls Pakistan es nicht will oder nicht kann."

Die technologische Überlegenheit der US-Streitkräfte und die weltweite Unterstützung durch die europäischen Bündnispartner ermöglichen schnelle militärische Siege rund um den Globus. Der politische Wiederaufbau nach dem Krieg gleicht hingegen einer Chronik des Scheiterns, die 1991 nach dem ersten Golfkrieg begann und sich bis heute fortsetzt. Die militärische Hegemonie der USA findet im notwendigen Aufbau politischer Strukturen ihre Grenze, an der sie ein ums andere Mal scheitert. Mittlerweile gehen die Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft um die Zerschlagung der islamistischen Kampfverbände in Afghanistan in das achte Jahr. Die Angriffsaktionen der amerikanischen und britischen Kampftruppen im Grenzgebiet zu Pakistan entziehen sich der Einflussnahme durch die NATO-Partner. Die seit dem Januar 2002 eingesetzte ISAF-Truppe wird zunehmend in Kriegshandlungen verwickelt. Mit der Übernahme des ISAF-Oberkommandos durch die NATO im August 2003 sowie der Ausweitung des Einsatzgebietes auf das ganze Land haben sich die Verbündeten tief in den Konflikt verstrickt. Je stärker sich die amerikanisch-britischen Operationen auf die Basis der Feinde im pakistanischen Grenzgebiet konzentrieren, desto mehr übernehmen die 53 000 Soldaten der ISAF-Truppe selbst die Verantwortung für die Sicherheit in den umkämpften Gebieten Afghanistans.

Die Bundeswehr-Einheiten werden immer wieder in offene Kämpfe mit Taliban, al Qaida und Einheiten des Warlords Gulbuddin Hekmatjar geraten. Der demokratische Präsidentschaftskandidat Barack Obama hat den Wunsch nach einem stärkeren Engagement der Europäer, insbesondere Deutschlands, im afghanischen Konfliktgebiet geäußert. Seine Berliner Schmeichelei, Amerika habe keinen besseren Partner als Europa, lässt sich auch als Aufforderung zu einer neuen Lastenteilung verstehen. Die Vereinigten Staaten führen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen Krieg gegen den Terror, dessen Frontverlauf quer durch den asiatischen Kontinent bis hinein nach Nordafrika führt. Der Krisengürtel von Marokko über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Pakistan und Afghanistan hat sich zur weltpolitischen Bedrohungsfront entwickelt. Die europäischen Regierungen sollten innerhalb des Atlantischen Bündnisses genau darauf achten, in welche Konflikte sie sich begeben und mit welchen politischen Strategien sie Konflikte lösen wollen. Die Solidarität im Bündnis sollte stets an klare Bedingungen geknüpft werden.

Die Perspektive Washingtons ist eine grundlegend andere als unsere: "Die Vereinigten Staaten glauben, dass sie eine Nation im Krieg sind", führte der amtierende CIA-Direktor Michael V. Hayden aus. "Ein Krieg, der in seiner Reichweite global ist und als Voraussetzung für den Sieg erfordert, dass wir den Kampf zu unserem Feind tragen, wo immer er auch sein mag. Solche Sätze werden von unseren europäischen Verbündeten kaum geteilt."

Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik hat folglich die Wahl: Sie kann sich "verschweizern" und damit auf Dauer das Ende der NATO riskieren oder rückwärtsgewandt Bündnistreue mit Kadavergehorsam verwechseln. Eine aufgeklärte Bündnispolitik im pazifischen Jahrhundert wäre jedoch ein Kurs der kritischen Solidarität mit Amerika. Die Bundesregierung würde sich in deutschem Interesse einer Ausdehnung des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan entziehen. Ein offener Kampf am Hindukusch könnte schnell Signalwirkung für einen Zusammenprall der Zivilisationen entfalten. Daran kann Deutschland in seiner ruhigen Insellage kein Interesse haben. Ein politischer Wiederaufbau mit Rückzugstermin bis 2011 ist in Afghanistan ebenso notwendig wie im Irak.

Der Aufstieg Chinas

Dennoch wäre es ein fataler Fehler, wenn die Europäer auf einen isolationistischen Kurs verfielen. Gute Geschäfte werden auf Dauer nur bei Übernahme politischer Verantwortung zu machen sein. Seit dem Zeitalter des Imperialismus folgt der Handel der Fahne. Zwar ist die politische Machtausdehnung heute nicht mehr mit der Eroberung und Besetzung fremder Territorien verbunden, aber politische Einflussnahme geht nach wie vor der wirtschaftlichen Kooperation voraus. Die Entwicklungshilfe hat deshalb eine strategische Bedeutung für die deutsche Außenpolitik und den deutschen Handel. Für die Vereinigten Staaten sind Japan, China und auf längere Sicht auch Indien die zentralen Partner. China ist bei einem Handelsvolumen von 387 Milliarden Dollar im Jahr 2007 bereits der zweitgrößte Handelspartner der USA, übertroffen nur noch vom Nachbarn Kanada. Gleichzeitig überragt das bilaterale Defizit der Vereinigten Staaten mit China mit weitem Abstand das Minus der USA mit jedem anderen Land (Tabelle). Das zweite große Handelsproblem der USA liegt ebenfalls im pazifischen Raum - in Gestalt des Bündnispartners Japan. Das bilaterale Defizit mit China ist infolge der zunehmenden Senkung der Zollsätze und der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen seit dem WTO-Beitritt Chinas im Jahr 2001 kontinuierlich angestiegen (Grafik). Nach den Präsidentschaftswahlen werden die amerikanisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen oberste Priorität für die neue Administration genießen.

Sowohl China als auch Japan bedienen sich aus amerikanischer Sicht unfairer Handelspraktiken. Seit dem Japan-Besuch von Präsident George Bush sen. im Januar 1992, bei dem eine Delegation amerikanischer Automobilmanager zum Gefolge gehörte, mahnt Washington immer wieder eine stärkere Öffnung des japanischen Marktes für amerikanische Produkte an. Im Falle Chinas konzentrieren sich die Forderungen auf Maßnahmen gegen Produktpiraterie. Für die EU wird es in Zukunft entscheidend darum gehen, mit der amerikanischen Einflussnahme in Asien Schritt zu halten. Die US-Außenpolitik erkennt in China heute weit mehr den dynamischen Wachstumsmarkt als eine mögliche militärische Bedrohung. Der Koordinator der amerikanischen Geheimdienste, J. Michael McConnell, hat in einer Stellungnahme vor dem US-Kongress eine militärische Bedrohung durch China verneint: Das Reich der Mitte strebe nicht nach territorialer Expansion, sondern nach wirtschaftlichem Erfolg und weltweitem Marktzugang.

Eine Bedrohung entsteht langfristig nur, wenn die Kooperation mit dem Westen scheitert. Die Verschiebung des weltpolitischen Gravitationszentrums nach Asien bedeutet auch aus Sicht von Henry Kissinger, dass die Vereinigten Staaten entweder mit Peking auf Dauer kooperieren oder in einen neuen Konflikt im Stile des Kalten Krieges geraten werden. Washington setzt auf die Zusammenarbeit. Die Kooperationsbereitschaft wird von der Erfahrung getragen, dass durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und kulturelle Öffnung autoritäre Regime langsam von innen heraus aufweichen. Tatsächlich dokumentieren die innenpolitischen Veränderungen Chinas seit den 1979 begonnenen Wirtschaftsreformen unter Deng Xiao Ping den Erfolg des Wandels durch Annäherung.

Die pazifische Wirtschaftsgemeinschaft

Das atlantische Zeitalter wurde getragen von einer staatenübergreifenden Kooperation, die zum Teil supranationale Züge annahm und im Falle der europäischen Integration ihren Endpunkt an Vergemeinschaftung noch nicht erreicht haben dürfte. In Asien hingegen ist ein strukturelles Problem der amerikanischen Außenpolitik das weitgehende Fehlen einer kontinentübergreifenden Integration der Nationalstaaten. Für Washington bedeutet der Mangel an internationalen Organisationen im pazifischen Raum die zeitaufwändige Pflege zahlreicher bilateraler Beziehungen. Gemeinsame Institutionen würden mehr Stabilität auf dem asiatischen Kontinent und direkten Einfluss der Weltmacht USA bedeuten. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes verfolgen die USA das Ziel einer wirtschaftlichen Integration des pazifischen Raumes. In einer Wirtschaftsgemeinschaft mit Asien könnten die USA ihren hegemonialen Einfluss stärken. Die Großmächte China und Japan stehen kontinentübergreifenden Institutionen skeptisch gegenüber, da sie ihren außenpolitischen Einfluss gerade in bilateralen Beziehungen stärker zur Geltung bringen können.

Aus amerikanischer Sicht war das Ziel der im November 1989 in Canberra gegründeten Asian Pacific Economic Cooperation (APEC) die Integration Chinas in die Weltwirtschaft. Seither streben die USA nach einer engeren Kooperation mit den asiatischen Wirtschaftsmächten und einer zunehmenden Marktöffnung im pazifischen Raum. Im November 1993 versammelte US-Präsident Bill Clinton erstmals 15 asiatische Staatschefs in Seattle zur Tagung der Staats- und Regierungschefs der APEC. Im Jahr darauf verabschiedete die Gemeinschaft im indonesischen Bogor feierlich das Ziel, bis zum Jahr 2010 eine Freihandelszone innerhalb der industrialisierten APEC-Staaten zu bilden und bis zum Jahr 2020 die Entwicklungsländer in der APEC an die Freihandelszone anzuschließen. Allerdings kam die APEC im Gegensatz zur EU über den Aufbau intergouvernementaler Strukturen nie hinaus.

Fazit

In Asien hat mit dem Ende des Kalten Krieges das neue Konzert der Mächte begonnen. Angesichts der enormen wirtschaftlichen Dynamik im pazifischen Raum haben auch die EU-Staaten ein vitales Interesse daran, nicht nur auf den Rängen Platz zu nehmen. Ihre ökonomische Teilhabe wird letzten Endes nur bei einer sicherheitspolitischen Lastenteilung mit den USA in Asien gelingen. Zugleich sichert sich Westeuropa als Insel des Friedens und des relativen Wohlstands mit dem Atlantischen Bündnis als bewährtem Instrument der Friedenssicherung gegen Unwägbarkeiten ab. Gegenüber den Jahrzehnten des Ost-West-Konfliktes können die Europäer heute innerhalb der NATO weit stärker ihre Interessen vertreten. Eine Ausdehnung des europäischen Engagements innerhalb der ISAF in Afghanistan zum Beispiel sollte mit einer klaren Forderung nach programmatischem Wandel einhergehen. Das Land am Hindukusch benötigt Entwicklungshilfe und einen zügigen Übergang in die Eigenständigkeit. Auf Dauer stationierte Besatzungstruppen führen in ein Fiasko. Die amerikanische Außenpolitik hat die Lektion bereits in Vietnam gelernt. Der Irak-Krieg hat einmal mehr gezeigt, dass Erfahrung noch lange nicht klug macht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Henry A. Kissinger, The Three Revolutions, in: Washington Post, vom 7. 4. 2008, S. A17.

  2. Vgl. Michael V. Hayden, Remarks at the Landon Lecture Series, Kansas State University, 30. 4. 2008, in: www.cia.gov/news-information/speeches-testimony/landon-lecture-series.html (11. 8. 2008).

  3. Vgl. John McCain, U.S. Foreign Policy: Where We Go From Here. Address to the World Affairs Council, Los Angeles, 26. 3. 2008, S. 3, in: www.lawac.org/speech2007 - 08McCain,%20John%202008.pdf (17. 8. 2008).

  4. Vgl. James A. Baker, America in Asia: Emerging Architecture for a Pacific Community, in: Foreign Affairs, 70 (1991) 5, S. 4.

  5. Vgl. ebd., S. 11.

  6. Vgl. United Nations Database, World Population Prospects, 2006, in: http://esa.un.org/unpp (21. 8. 2008).

  7. Vgl. James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen, Berlin 1996, S. 637.

  8. Vgl. Donald Rumsfeld, Briefing at the Foreign Press Center, Washington DC, 22. 1. 2003, in: www.defenselink.mil/transcripts/transcript.
    aspx?trans criptid=1330 (18. 8. 2008); ders., The Marshall Center 10th Anniversary, Garmisch, 11. 6. 2003, in: www.defenselink.mil/speeches/speech.aspx?speechid= 451 (18. 8. 2008).

  9. Barack Obama, A World That Stands As One. Remarks at Berlin, 24. 7. 2008, in: www.barackobama. com/2008/07/24/remarks_ of_senator_ barack_ obam_ 97. php (18. 8. 2008).

  10. Es existieren allerdings Beispiele für junge Demokratien in den ersten Jahren ihrer Staatsgründung bzw. für konstitutionelle Monarchien, die miteinander Krieg geführt haben: USA/Frankreich 1796 - 98; USA/Großbritannien 1812 - 14; Peru/Ecuador 1941; Großbritannien/Finnland 1941; vgl. Michael W. Doyle, Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, in: Philosophy & Public Affairs, 12 (1983) 3, S. 213, Fn. 7; John M. Owen, How Liberalism produces Democratic Peace, in: International Security, 19 (1994) 2, S. 104, 110; Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik, München 20013, S. 25.

  11. Zum "demokratischen Frieden" vgl. auch den Beitrag von Harald Müller in diesem Heft.

  12. Nach Hans Kristensen, USAF Report: Most Nuclear Weapon Sites in Europe Do Not Meet U.S. Security Requirements, in: www.fas.org/blog/ssp/2008/06/usaf-report-% e2%80%9cmost% e2%80%9d-nuclear -weapon-sites-in-europe-do-not-meet-us-security-requirements.php (17. 8. 2008).

  13. Vgl. Barack Obama, Statement on Call for World Without Nuclear Weapons, 17. 1. 2008, in: www.barackobama.com/2008/01/17/
    statement_on_call_for_world_wi.php (20. 8. 2008); John McCain, Remarks on Nuclear Security, Denver, 27. 5. 2008, in: www.johnmccain.com/Informing/
    News/Speeches/e9c72a28-c05c-4928-ae29 - 51f54de08df3.htm (20. 8. 2008).

  14. Im Jahr 2006 betrug das BIP der USA 13,2 Billionen US-Dollar und das kumulierte BIP der Welt 48,2 Billionen US-Dollar; vgl. IMF Database, in: http://imf.org/external/pubs/ft/weo/2007/
    02/weodata/download.aspx (18. 8. 2008).

  15. Vgl. die Military Expenditure Database des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes sipri, in: www.sipri.org/contents/milap/milex/
    mex_database1.html (18. 8. 2008).

  16. Vgl. John McCain, An Enduring Peace Built On Freedom, in: Foreign Affairs, 86 (2007) 6, S. 25f.; ders., U.S. Foreign Policy: Where We Go From Here. Address to the World Affairs Council, Los Angeles, 26.3.2008, S. 2, in: www.lawac.org/speech2007 - 08McCain,%20John%202008.pdf (18. 8. 2008).

  17. Barack Obama, Speech on Iraq in Fayetteville, 19. 3. 2008, in: www.cfr.org/publication/15761/obamas_ speech_ on_iraq_march_2008.html (20. 8. 2008).

  18. Vgl. Jeff Mason, Obama says Europe must do more in Afghanistan, Reuters, 29. 2. 2008, in: www.reuters.com/article/asiaCrisis/
    idUSN28640893? rpc=28 (20. 8. 2008).

  19. M.V. Hayden (Anm. 2).

  20. Vgl. Top Ten Countries with which the U.S. Trades, December 2007, in: www.census.gov/foreign-trade/top/dst/2007/12/balance.html (20. 8. 2008).

  21. Vgl. J. Michael McConnell, Annual Threat Assessment of the Director of National Intelligence for the Senate Armed Services Committee, Washington DC, 27. 2. 2008, S. 31, in: www.armed-services.senate.gov/statemnt/2008/
    February/McConnell%2002-27-08.pdf (11. 8. 2008).

  22. Vgl. H. Kissinger (Anm. 1), S. A14.

  23. Vgl. APEC Common Leaders' Declaration of Common Resolve, Bogor, 15. 11. 1994, in: www.apec.org/apec/leaders__declarations/
    1994.html (14. 8. 2008).

Dr. phil., geb. 1965; Habilitand und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.
E-Mail: E-Mail Link: HennesMichael@gmx.de