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Der Kaiser ist nackt - Essay | Politisches Theater | bpb.de

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Der Kaiser ist nackt - Essay

Peter von Becker

/ 13 Minuten zu lesen

Das deutsche Theater hat keinen Mut mehr zur Tragödie. Ein Theater aber, das keinen Ausdruck mehr findet für die Macht, auch des Bösen, hat seine politische Rolle verspielt.

Einleitung

Zwei Weltkriege waren doch vor allem: europäische Kriege. Und Europas Welt war nur zu lange eine der Kriege und aller Formen auch der Diktatur. Doch zugleich wurde in Europa die Idee der Demokratie, der Polis und der Politik geboren und das Licht der Aufklärung entzündet. Wilde Kinder der Aufklärung - weil ihre logische Ordnung zugleich zersprengend - sind die freien, auf der Autonomie ihrer Autoren gründenden Künste. Und Europas älteste Hochkunst trägt den Namen: Theater.



Das Schauspiel als Drama macht die Szene zum Tribunal: zum Prozess der ästhetischen, also der poetisch-politischen, philosophisch-spielerischen Selbstwahrnehmung und Selbstvergewisserung über das Individuum und seine Gesellschaft. Erdacht in Griechenland vor zweieinhalb Jahrtausenden und erneuert im unerschöpflichen Erfindungsgeist Shakespeares, hat sich das Theater als politische Bühne vor allem im deutschen kulturellen Selbstverständnis etabliert. Von Lessing und Schiller bis Büchner und Hauptmann, von Piscator bis Brecht, vom Idealismus des 18. bis zum Realismus des 19. Jahrhunderts, vom Expressionismus bis zu den Inszenatoren der 68er-Revolte oder den surreal-postsozialistischen Spielarten Heiner Müllers oder des anarchisch-spätdadaistischen Regisseurs Frank Castorf: Es ist der nämliche Grundimpuls, dass Theater als notwendig kollektive, durch die Einbeziehung des Zuschauers auch gesellschaftliche Kunst im besten Falle doch mehr sei als schieres Entertainment. Dass es Poesie und Politik im dramatischen Konflikt zusammenbringen möge - und sei es auch nur als unvereinbare Gegensätze. Dies gehört mindestens im öffentlichen, nämlich öffentlich subventionierten deutschen Stadt- und Staatstheater noch immer zum eigenen Selbstverständnis.

Kein Tag hat die Welt zuletzt tiefer verändert als der 11. September 2001. Nach den Anschlägen auf New York und Washington traf sich am 15. September in Camp David Präsident George W. Bushs "Kriegskabinett" und entschied bereits über die beiden Hauptziele des amerikanischen Terrorabwehrkampfs und der Vergeltung: über Afghanistan und den Irak. Man kann das mit Protokollen und autorisierten Zitaten nachlesen in Bob Woodwards Buch "Bush at War". Auf Außenminister Colin Powells Einwand, eine internationale Koalition gegen den Terror drohe bei einem Angriff auf den Irak zu zerfallen, antwortete Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: "Wir müssen die Öffentlichkeitsarbeit straffer führen. Die Sache wie eine politische Kampagne aufziehen, jeden Tag Argumente unter die Leute bringen. Für einen langen Feldzug brauchen wir eine breite Basis der Unterstützung im Volk. Nicht eine schmale, sondern eine breite. Dies ist kein Spurt, sondern ein Marathon. Er wird nicht Monate dauern, sondern Jahre."

Eben diese reale Szene existiert auch im europäischen Theater, sie wurde dort längst vorausgedacht. Die anderthalb Jahre eines angekündigten, doch völkerrechtlich wie auch strategisch umstrittenen Krieges haben nicht nur Europas und Amerikas Öffentlichkeit in einen politisch-kulturellen Ausnahmezustand versetzt - vergleichbar allenfalls der Zeit vor 40 Jahren, während des Vietnamkriegs und der damaligen Protestbewegung. Und damals, in den Jahren vor und um 1968, reagierte auch das Theater. In den USA und in Europa war es das "Living Theatre", in Großbritannien Peter Brook mit dem Spektakel "US" (wie USA und wie "us"/"wir"), in Deutschland Peter Weiss zum Beispiel mit seinem agitativen "Vietnam Diskurs".

Man hätte nun, in der spektakulären Ausnahmesituation seit dem 11. September, meinen können, dass die Theaterleute das längst vorhandene Drama zum Krieg auf vielen Bühnen inszeniert hätten. Es ist das Stück, das von der Chronik eines angekündigten Krieges, von seiner umstrittenen Vorbereitung und der nötigen Demagogie und den politischen PR-Kampagnen handelt. Das von der Verletzung eines Landes und seines Regierungschefs durch einen ungewöhnlichen Angriff aus der Ferne ausgeht und davon erzählt, wie zur Vergeltung eine militärische Koalition geschmiedet und angesichts von Verzögerungen und Hindernissen das Volk bei Kriegslaune gehalten werden muss - zumal sich der Gegner auf einem anderen Kontinent befindet und der Feldzug logistische Probleme aufwirft. Geht es doch um einen Krieg, der viele Jahre dauern wird.

Wir reden von keiner simplen szenischen Adaption dessen, was in anderen Medien längst aktueller und schneller verbreitet werden kann. Das Stück ist vielmehr, wie alle große Kunst, eine hoch poetische Verdichtung des Stoffs und zugleich die geisterhafte Antizipation des Kommenden: also ein Drama der Vergangenheit und zugleich ein Stück der Stunde - die immer wieder schlägt. Es wurde im Jahr 405 vor Christus in Athen uraufgeführt, wohl vom Sohn des bereits im Jahr zuvor im mazedonischen Exil verstorbenen Dichters Euripides. Es ist seine Iphigenie in Aulis. Sie erzählt die Vorgeschichte von Iphigeniens späterer Errettung und ihrem Exil bei den Skythen auf Tauris, über das Euripides gleichfalls ein Drama geschrieben hat. Die meisten aber kennen den Stoff wohl nur aus Goethes Version der Iphigenie auf Tauris oder aus Glucks Oper, vielleicht auch von Anselm Feuerbachs berühmtem Gemälde der sehnsuchtsvoll sinnierenden Emigrantin am fernen, barbarischen Ufer.

Euripides, den der Berliner Kritiker Alfred Kerr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, "unseren Zeitgenossen" genannt hat, schildert das Heer der gesamtgriechischen Koalition, dessen zugehörige Flotte vor der Überfahrt zum Krieg gegen Troja (und zur Vergeltung der Entführung Helenas) im Hafen von Aulis festsitzt, weil der Feldherr Agamemnon unterwegs im Hain der Göttin Artemis übereifrig eine heilige Hirschkuh erlegt hat. Worauf die Göttin eine alle Schiffssegel lähmende Windstille verhängt, die nur durch die Opferung des Mädchens Iphigenie, die Tochter Agamemnons und Klytaimnestras, beendet werden kann. Es ist ein Drama, das neben den familiären Szenen im Hauptquartier der Generäle Agamemnon und Menelaos spielt. In deren Widerstreit mit dem wankelmütigen Volk, mit dem intriganten Koalitionär Odysseus, mit den Kriegsberichterstattern in Gestalt des Chores, mit den unruhigen Truppen und der Familie Agamemnons entfaltet die 2400 Jahre alte Dichtung ein geradezu frappierendes Panorama der privaten und politischen Konflikte. Und der Psychologie der Kriegsführung. Einst und jetzt.

Im Deutschen existiert Iphigenie in Aulis in der kongenialen Übersetzung Friedrich Schillers. Dazu gibt es eine freiere Bearbeitung in Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, entstanden im Zweiten Weltkrieg. In Frankreich hat 1991 Ariane Mnouchkine in ihrem Théâtre du Soleil die aulische "Iphigenie" in der Urfassung des Euripides an den Beginn ihrer großartigen, Les Atrides überschriebenen Reise in die Welt der antiken Tragödie gestellt. Das war auch dramaturgisch ingeniös, weil das Stück die Vorgeschichte der viel bekannteren, anschließend gezeigten Orestie des Aischylos erzählt, deren letzter Akt gleichsam die Erfindung des Rechtsstaats vorstellt. In Deutschland aber ist Euripides' erstes Iphigenien-Drama, trotz Schiller, Hauptmann und der auch hierzulande bei Gastspielen bejubelten Mnouchkine-Inszenierung, fast nie gespielt worden. Nach dem 11. September gab es im deutschen Stadttheater wohl nur einen Anlauf im Mai 2002, bei dem man, "nach Euripides" tituliert, den "Set" einer (fiktiven) amerikanischen Propagandaverfilmung des Stoffs auf die Bühne des Mannheimer Nationaltheaters brachte.

Spätestens seit dem ersten Golfkrieg 1991 wissen wir, dass ein Kriegsschauplatz in der neueren angelsächsischen Sprache der Militärs theatre heißt. Umso mehr verwundert es, dass während all der Vorbereitungen zum theatre der Aktion "Enduring Freedom" eben diese Chronik eines angekündigten Krieges offenbar nicht gelesen und nicht gespielt wurde: Eyes wide shut. Stattdessen kamen, wie schon beim ersten Golfkrieg, vermehrt Die Perser des Aischylos auf die Bühne. Zu Aischylos' Zeit war es kühn, den besiegten Feind der Griechen zum Protagonisten zu machen und sich in ihn einzufühlen. Aber für heutige, zivile Theaterbesucher wirkt diese dramatische Empathie nurmehr: politisch korrekt. Auch in den jetzt überall in Europa gespielten Nach-Irakkriegs-Stücken, etwa in Simon Stephens Motortown, bleibt der Horror bloß politisch korrekt.

Theater ist heute in der Konkurrenz zu den elektronischen Medien und nach dem Sieg der musikalisch, modisch, lifestylehaft dominierenden Popkultur kein selbstverständliches Leitmedium der Gesellschaft mehr. Die Künste lassen sich in der Produktion und Rezeption immer weniger durch traditionelle, kategoriale Grenzen definieren. Wenn es nicht gerade um den Konflikt mit fundamentalistischen, voraufklärerischen Gemeinschaften geht, verpufft in den pluralen, liberalen Gesellschaften auch jeder herkömmliche Versuch des Skandals. Und es gibt fast nirgendwo mehr die Gesellschaft und das Publikum, nicht einmal im Theater. Obwohl das künstlerisch ambitionierte, also nicht rein boulevardesk unterhaltende Theater weitgehend noch das Medium eines eher bürgerlichen, akademisch halbwegs gebildeten, überwiegend (groß)städtischen Publikums ist, existieren inzwischen ganz unterschiedliche "Publikümer" - Publikum im Plural: von Generation zu Generation verschieden, diversifiziert, so zersplittert wie die ganze postindustrielle Gesellschaft.

Die Theater sprechen auch innerhalb eines Kulturkreises, innerhalb einer Landessprache sehr verschiedene Sprachen. Im so genannten freien Theater, in der Off-Szene, im Theater der Gruppen und nicht der großen, festen, staatlich oder städtisch subventionierten Bühnen hat man sich ohnehin seit langem vom reinen Literatur-Theater, von der Interpretation dramatischer Texte entfernt. Doch gerade hier sind die oft nonverbalen, vom Tanz, von der Musik oder den Bildenden Künsten bis hin zum digitalen Video gespeisten performativen Formen trotz aller Vielfalt einander oft erstaunlich ähnlich. Häufig sogar verwechselbar. Oder sie sind so globalisiert wie die tausend universellen Facetten und Stile der Popmusik oder des internationalen Designs.

Innerhalb dieser Theatralisierung der Öffentlichkeit hat sich die Politik immer mehr der Mittel auch des Theaters, des Showbusiness bedient. Schon Walter Benjamin sprach von der "Ästhetisierung der Politik"; das gilt spätestens seit den Aufmärschen und dem "Ornament der Masse" (Siegfried Kracauer) zu Zeiten des Faschismus und Stalinismus, aber es setzt sich fort auch in den Inszenierungen von Parteitagen und Wahlkämpfen moderner demokratischer Parteien. Demgegenüber hat es das Theater in seinem alten Kerngeschäft, soweit es in den politischen Raum zurückwirken möchte, immer schwerer. Der Dramatiker Heiner Müller hat nach der "Wende" 1989/90 gesagt, das Theater brauche zur öffentlichen Wirksamkeit die Reibung an einer gegnerischen, womöglich gar theaterfeindlichen Realität: "Shakespeare wäre nicht möglich gewesen in einer Demokratie."

Das ist eine Pointe. Und trifft doch nur eine gleichsam abstrakte, vereinfachte "Ästhetik des Widerstands". Natürlich taugt das Theater in Deutschland heute nicht mehr zum "Reißzahn im Hintern der Politik", wie sich das Claus Peymann vor ein paar Jahren noch bei seinem Umzug vom Wiener Burgtheater ins Berliner Ensemble erträumte. Selbst die schöne Rolle des Hofnarren ist schon von den Moderatoren der politischen TV-Talkrunden besetzt. Zudem kann das Theater gegen die aktuellen Medien schwerlich noch auf dem Feld des Dokumentarischen konkurrieren. Trotzdem ist es der von Berlin aus operierenden Gruppe "Rimini Protokoll" mit dem Rechercheblick in zum Teil abgründige Realitäten und durch die raffinierten Auftritte so genannter "Experten des Alltags" gelungen, das alte, vermeintlich erledigte, politisch-soziale Dokumentartheater noch einmal dramaturgisch zu erneuern, ja fast: zu revolutionieren.

Im Zentrum des deutschsprachigen Schauspiels steht freilich noch immer das fingierte, von Schauspielern interpretierte Drama. Die Stücke handeln von Menschen, von menschlichen Konflikten, und der Mensch ist nun mal eine alte Erfindung. So lange er biotechnisch noch nicht zum Androiden, zur Schimäre oder zum Cyborg mutiert ist, bleibt es bei seinen immer gleichen fünf Sinnen und bleiben die Autoren bei den durch alle Zeiten gleichen, bis heute unerschöpflichen Grundthemen: bei Liebe und Hass, Krieg und Frieden. Im Lachen wie im Weinen.

Auf diese Voraussetzungen aber lässt sich heute nicht mehr so selbstverständlich bauen. Denn im deutschsprachigen Theater hat sich etwas fundamental geändert - auch gegenüber der einstigen Regierebellen-Generation eines Peter Zadek, Peter Stein oder anderer Protagonisten der 68er Jahre: Viele jüngere oder auch schon mittelalte Regisseurinnen und Regisseure setzen sich in Deutschland immer weniger mit den geschriebenen Texten reibungsvoll auseinander, sondern gleich freihändig über sie hinweg. Stücke sind - mit einem Wort Heiner Müllers - nur noch "Material", das assoziativ verarbeitet, gemixt und gesampelt wird. Auch diese Dekonstruktion kann eine Komposition ergeben, ein szenisches Konstrukt - dessen Raffinesse oder Haltlosigkeit aber nur noch genaue Kenner der ursprünglichen Texte beurteilen können. Oft spricht das Theater dann eine vom Drama und seiner Geschichte weitgehend losgelöste, selbständige Sprache. Das birgt die Gefahr allerdings der schieren Selbstreferenzialität. Peter Handke nannte das einmal "Theatertheater".

Die szenische Auseinandersetzung mit einem nicht gleich verworfenen oder ins völlig Heutige eingedünnten Text könnte jedoch noch politische Funken schlagen. Im Fall der "Iphigenie" des Euripides passiert dies, wenn der Zuschauer in den zweieinhalbtausend Jahre alten Mythen und Metaphern plötzlich ihre geisterhafte Gegenwärtigkeit erkennt. Das kann ein Erkenntnisschock sein, der tiefer rührt als jede aktuelle Nachricht oder Meinung. Er berührt, als Erkenntnis, auch den Unterschied zwischen einer schieren Informations- und einer Wissensgesellschaft.

Dazu müsste man, im Theater die Spiele der Mächtigen zeigend, die Macht allerdings auch ernst nehmen. In seiner Mailänder Inszenierung von Brechts Leben des Galileo Galilei hatte Giorgio Strehler einst die berühmte morgendliche Einkleidung des Papstes versinnlicht, indem er die Papstrolle mit einem besonders spillerigen Darsteller besetzte. Während er sich mit dem Inquisitor unterhält und als naturwissenschaftskundiger Pontifex zunächst auf Seiten des angeklagten Physikers Galilei ist, wird dem Papst nun vom Unterrock bis zum prangenden Ornat Kleid um Kleid angelegt - bis sich der dürre, mitfühlend mitdenkende Mensch in eine lebende Monstranz, in ein Monstrum der Macht verwandelt hat - ein Kirchenfürst, der am Ende zustimmt, dass man Galilei bis zum Widerruf seines neuen Weltbildes die Instrumente der Inquisition zeigen möge. Die Szene wird so zum Exempel, zum schlagenden Inbild.

Im deutschen Theater heute aber treten fast alle Herrscher, alle Mächtigen von vornherein ihrer Macht oder Fremdheit entkleidet auf: schon äußerlich heruntergekommen, Agamemnon oder Klytaimnestra trinken Dosenbier und rauchen "Marlboro" im Unterhemd. Othello ist der Schwarze aus der "Nike"-Werbung, Fürsten gleichen dem Bankangestellten von nebenan oder sind häufig genug nur das Gespenst aus der nächsten Theaterkantine. Es gibt allzu seltene Gegenbeispiele: Peter Steins elfstündiger Berliner Wallenstein war 2007 als größtmögliches Kriegsstück auch ein Kostümstück, ein erratischer Sonderfall des einst poetisch-politischen Geschichtstheaters. Oder noch mal Schiller: Andrea Breths verwandelte den düsteren Escorial 2005 im Don Carlos am Wiener Akademietheater in eine von Überwachungskameras beherrschte Bürokratie. Und der Darsteller des totalitären Königs Philipp entblößte sich nicht leibhaftig, sondern durch seine innere, unseligmachende, einschnürende Facon. Das war eine Ausnahme unter den heutigen avancierten Klassikerinterpretationen.

Kurz darauf spielten zwar auch im Carlos des Berliner Deutschen Theaters die Überwachungskameras einer sich selbst virtualisierenden Diktatur eine Hauptrolle. Doch der Diktator erschien ebenso wie sein "Gedankenfreiheit" fordernder Gegenspieler Marquis Posa in Turnschuhen oder gleich barfuß und im Slip. Schon mit dem Outfit wurde jede Fallhöhe ausgeschlossen. Auch der diktatoriale Fall ist schnell erledigt, es bleibt nur der technische Einfall, der König und seine Opfer sind Schießbudenfiguren, Hauptdarsteller nur fürs Überwachungsvideo. So kehrt die Tragödie wieder als Farce. Jede Geschichte ist schon aus zweiter Hand.

Aus dem vermeintlich nur Äußerlichen folgt die innere Konsequenz. Was so umstandslos nahegerückt wird, rückt alles gleich ins Private, geheimnislos Durchschaubare, ins tendenziell Unpolitische. Keine verstörende, lockende Fremde, die den Zuschauer durch ihren unerhörten Abstand zum Zeitgeist oder der TV-Serienwelt erst neugierig machen würde, sich ihr mit eigener Anstrengung anzunähern, um die eigene Wirklichkeit statt im schnellen Schein erst in der Hintergrundstrahlung eines älteren Kunstwerks erleuchtet zu sehen. "Zukunft braucht Herkunft", sagt der Gießener Philosoph Odo Marquardt.

Die klarste Zuspitzung des äußerlichen Phänomens war der letzte Fast-Skandal des deutschen Theaters: Jürgen Goschs später zum Berliner Theatertreffen eingeladene Düsseldorfer Inszenierung von Shakespeares Macbeth ließ alle Rollen von Männern spielen, die überwiegend nichts am Leibe trugen. Es war in manchen Details eine kühne, im Kern hoch seriöse Aufführung. Aber die Blöße des Königs Duncan oder des Usurpators Macbeth bedeutete ungewollt gewollt doch nicht viel mehr als die alte Botschaft: Der König, der Kaiser ist nackt. Es ist das älteste Hofnarrenmärchen. So harmlos, so unpolitisch privat, wie der Mensch als barer Adam nun allemal wirkt, ist die Maskerade der Macht freilich nicht. Auch heute nicht, selbst wenn sich alles und alle exhibitionieren. Die Bösen mögen rein menschlich banal sein, doch das Böse ist es nicht. Schon Jean Améry, der von den Nazis einst Gefolterte, erhob diesen Einspruch gegen Hannah Arendts berühmte Formel. Heute aber ist die "Banalität des Bösen" zur doppelten Banalisierung in einem Theater geworden, dem jede menschliche, historische Tragödie gleich zum kunstblutigen Witz gerät.

Das deutsche Theater hat seit dem Tod von Regisseuren wie Fritz Kortner, Rudolf Noelte und zuletzt auch Klaus Michael Grüber keinen Mut mehr zur Tragödie. Ein Theater aber, das keine szenischen Bilder, keinen schauspielerischen Ausdruck mehr findet für die tragische Erotik und die Gefährdungen der Macht, für die Macht auch des Bösen, dieses Theater hat seine politische Rolle weitgehend verspielt. Es muss sich zurückziehen auf die eher private Sphäre: auf die Politik der Gefühle, des Sex, der Familie, des Glücks und der Katastrophen der Liebe.

Das ist keine Schande. Es ist oft eine Chance. Und künstlerisch meist ergiebiger als etwa die Verstrickungen heutiger wirtschaftlicher Macht in den vergleichsweise naiven, "unterkomplexen" Parabeln von Arm und Reich, Gut und Böse des allzu lieben linken Bert Brecht abbilden zu wollen. Dabei hatte Brecht selber schon 1927 gesagt, dass eine Fotografie der Krupp-Werke nichts mehr aussage, weil "die Realität in die Funktionale" gerutscht sei.

Natürlich spielen Politik und Zeitgeschichte noch immer rein ins deutsche Theater. Etwa die Folgen von "Wende" und Wiedervereinigung, wie sie in den ganz unterschiedlichen Stücken von Botho Strauß, Klaus Pohl, Fritz Kater, René Pollesch oder Roland Schimmelpfennig und selbst in Texten von Elfriede Jelinek aufscheinen. Trotzdem ist das jüngere deutsche Kino da schon weiter, schärfer, genauer. "Das Leben der Anderen" hat es so spannend, so abgründig in keiner Theatererzählung gegeben. Und das ist nun keine Frage des Mediums mehr und seiner populären Reichweite. Es geht um die Herausforderung, Menschen und Mächte im Theater wieder ernster zu nehmen als die selbstbezügliche Ausstellung nackter, schnell durchschauter, längst entleerter Formen.

Also mehr Inhalt? Das neue enthüllende, das Politik und Gesellschaft bewegende Zeitgeschichtsdrama im nach-Schiller'schen Stil von Rolf Hochhuths Der Stellvertreter ist heute aus vielerlei medialen und ästhetischen Gründen kaum mehr zu haben. Aber darum ist das Geschichtsstück noch nicht für alle Zeit am Ende. So wenig wie die Geschichte. Denn selbst ein Ende bedeutet auch immer einen neuen Anfang.

Dr. jur., geb. 1947; Kulturjournalist und Schriftsteller; bis 2005 Feuilletonchef des "Tagesspiegel", seitdem Kulturautor der Zeitung; Stiftungsratmitglied der Alfred-Kerr-Stiftung; Honorarprofessor an der Universität der Künste, Berlin.