Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Corona-Angst und die Geschichte der Bundesrepublik | Corona-Krise | bpb.de

Corona-Krise Editorial Umgang mit der Corona-Pandemie: Verfassungsrechtliche Perspektiven Föderalismus in der (Corona-)Krise? Föderale Funktionen, Kompetenzen und Entscheidungsprozesse Zum gesellschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie. Ergebnisse der Mannheimer Corona-Studie Rückzug des Politischen? Beobachtungen zur politischen Soziologie der Corona-Pandemie "Lasst die Lehrkräfte in Ruhe, aber nicht die Schulen". Ein Gespräch über Bildung in Zeiten der Corona-Pandemie Corona-Angst und die Geschichte der Bundesrepublik Wettbewerb der Systeme. Die Corona-Pandemie als Herausforderung für Demokratie und europäische Integration

Corona-Angst und die Geschichte der Bundesrepublik

Frank Biess

/ 18 Minuten zu lesen

Die Katastrophe kam nicht völlig überraschend. Sie war in der für den modernen Staat charakteristischen Präventionsplanung bereits imaginiert. In einem Bericht zur Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz entwickelte die Bundesregierung unter Federführung des Robert Koch-Instituts und weiterer Bundesbehörden wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Ende 2012 folgendes Szenario: Durch eine zoonotische Übertragung von Tieren auf Menschen auf einem Wildtiermarkt wird ein neuartiges Corona-Virus von zwei Reisenden aus China nach Deutschland eingeschleppt. Eine der Personen betreut einen Messestand in einer norddeutschen Großstadt, die andere nimmt nach einem Auslandssemester ihr Studium in einer süddeutschen Universitätsstadt wieder auf. Das Virus verbreitet sich schnell und verursacht Fieber, trockenen Husten, Atemnot sowie durch Röntgenaufnahmen sichtbare Veränderungen in der Lunge. Die Inkubationszeit beträgt in der Regel drei bis fünf, in manchen Fällen bis zu 14 Tage. Während jüngere Patientinnen und Patienten die Infektion oft schon nach einer Woche überwinden, beträgt die Letalität bei über 65-Jährigen fast 50 Prozent. Nachdem zehn Personen an dem Virus verstorben sind, beschließt die Bundesregierung die Einleitung antiepidemischer Maßnahmen wie Schulschließungen und Quarantänemaßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz. Begünstigt durch Mutation des Virus, durch die auch bereits infizierte Personen ihre Immunität verlieren, breitet sich dieses in drei Wellen aus. Insgesamt infizieren sich 78 Millionen Menschen in Deutschland, die Letalität beträgt etwa zehn Prozent. Das Gesundheitssystem wird überlastet, es sterben mindestens 7,5 Millionen Menschen an den direkten Folgen des Virus. Ein Impfstoff ist erst nach drei Jahren verfügbar.

Dies war die Entwicklung, die es Anfang 2020 beim Ausbruch einer tatsächlichen, durch ein Corona-Virus verursachten Pandemie zu verhindern galt. Ob die zur Bekämpfung des Virus notwendigen Maßnahmen in der Bundesrepublik "nicht oder nur sehr spät" eingeleitet wurden, wie die Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino in einer der ersten Analysen der Pandemie kritisierten, muss dahingestellt bleiben. Festzuhalten bleibt, dass das 2012 entwickelte Szenario nicht Wirklichkeit wurde. Dies lag auch an der deutlich geringeren, unter ein Prozent liegenden Letalität von Sars-CoV-2. Aber auch im internationalen Vergleich schnitt die Bundesrepublik bei der Bekämpfung des Virus – zumindest bisher – relativ gut ab.

Dieser Aufsatz zielt darauf, die historische Spezifik der Corona-Krise genauer zu bestimmen und gleichzeitig den relativen Erfolg der Bundesrepublik in der Pandemiebekämpfung zu erklären. Dies geschieht durch die Verortung der Corona-Krise in zwei unterschiedlichen historischen Kontexten: der längeren Angstgeschichte der Bundesrepublik seit 1945 sowie den Globalisierungskrisen seit der Jahrtausendwende. Da die Corona-Krise noch nicht beendet und die Zukunft offen ist, müssen historische Wertungen notgedrungen provisorisch bleiben.

Historisch gewachsene Krisenkompetenz

Spätestens ab Mitte März 2020 war sich die Bundesregierung der Ernsthaftigkeit der Krise bewusst. Am 18. März beschwor Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer ihrer wenigen Fernsehansprachen die historische Einzigartigkeit der Situation. "Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg" habe die Bundesrepublik keiner ähnlichen "Herausforderung" gegenübergestanden, bei der "es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln" ankomme. Die Fernsehansprache markierte einen Wendepunkt in der offiziellen Reaktion auf die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus. Nur wenige Tage später, am 22. März, erließ die Bundesregierung eine umfassende Kontaktsperre für das gesamte Bundesgebiet. Es kam zu einem weitgehenden Erliegen des öffentlichen Lebens.

Die von Angela Merkel, aber auch in der Berichterstattung propagierte These der Corona-Krise als historisch einzigartig war für die Legitimation der ergriffenen Maßnahmen notwendig. Eine weiter gefasste historische Tiefenschärfe erlaubt es jedoch, besser zu erkennen, was genau "neu" an der Krise war und ist. Das Virus traf nicht auf eine heile "Welt von Gestern", wie sie ohnehin nur in der nostalgischen Rückschau erscheinen kann, sondern auf eine Gesellschaft mit einer ausgesprochenen Krisenerfahrung. Die Geschichte der Bundesrepublik ist geprägt von einer Abfolge existenzieller Krisen und daraus entstehenden Angstzyklen – von den Gründungskrisen des Anfangs, der Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre, der Konfrontation mit Links- und (oft vergessen) Rechtsextremismus, der Vereinigungskrise nach 1990 bis hin zur Finanz-, Euro- und sogenannten Flüchtlingskrise in jüngerer Zeit. Die Corona-Krise steht in der Kontinuität dieser Krisen, ihre bisher relativ erfolgreiche Bewältigung war auch ein Produkt dieser historisch verankerten Krisenkompetenz.

Die Bekämpfung der Pandemie basierte auf einer bemerkenswert hohen Zustimmung der Bevölkerung zu den massiven Einschränkungen der Grundrechte. So erklärten am 27. März 2020 beispielsweise 75 Prozent der Bundesbürgerinnen und -bürger, dass die staatlichen Einschränkungen "genau richtig" seien, 20 Prozent gingen sie nicht weit genug, nur vier Prozent hielten sie für übertrieben. Noch Anfang Juni 2020 waren 84 Prozent der Deutschen der Meinung, Bundeskanzlerin Merkel mache ihre Arbeit "eher gut". In einer Gesellschaft, in der noch kurz vor der Corona-Krise eine immer größere Fragmentierung beklagt und die Formierung handlungsfähiger politischer Mehrheiten zunehmend schwierig wurde, war das Ausmaß dieses gesellschaftlichen Konsensus durchaus bemerkenswert. Es war auch vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Geschichte keineswegs selbstverständlich. Denn in der Vergangenheit erschien der bundesdeutsche Staat vielen Bundesbürgerinnen und -bürgern entweder als zu schwach oder aber als zu stark und potenziell autoritär. Kritische Stimmen sahen in den Corona-Einschränkungen eine autoritäre Politik der Angst und bewerteten die zivilgesellschaftliche Kooperation als Indiz einer latenten Autorität- oder Staatshörigkeit in der deutschen Gesellschaft. Das der Bundesregierung entgegengebrachte Vertrauen war aber auch die emotionale Kehrseite der Angst vor dem Virus: In der Pandemie konstituierte sich die bundesdeutsche Gesellschaft als Angstgemeinschaft.

Diese intensive emotionale Reaktion war in einem historisch spezifischen Gefühlsregime begründet. Dies zeigt sich im Vergleich mit vergangenen Gesundheitskrisen. An der "Asiatischen Grippe" 1957/58 und der "Hongkong Grippe" von 1968 bis 1970 starben in Deutschland nach Schätzungen jeweils zwischen 20.000 und 30.000 Menschen, weltweit eine bis zwei Millionen Menschen. Dennoch verliefen beide Pandemien ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit, ganz im Gegensatz zur derzeitigen Corona-Pandemie. Die vergangenen Grippe-Pandemien standen im Zeichen eines Emotionsregimes, das geprägt war von dem Bemühen, eine Panik zu vermeiden: Es dominierte die "Angst vor der Angst." Seit den 1970er Jahren kam es jedoch zu einer deutlichen kulturellen Aufwertung der Angst. Sowohl die normative Bewertung der Angst als einer grundsätzlich funktionalen Emotion wie auch die emotionale Praxis, Angst in privaten und öffentlichen Zusammenhängen offen auszudrücken, nahm deutlich zu. Die Umwelt- und Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre beruhte auf einem positiven Angstverständnis, das diesem Gefühl eine zentrale Rolle bei der Perzeption gesellschaftlicher Missstände wie der Umweltverschmutzung oder auch dem Wettrüsten beimaß. In der Corona-Krise manifestierte sich diese etablierte Sichtweise, die der Angst eine durchaus nützliche Funktion bei der Eindämmung der Pandemie zuwies. Die Merkelsche Ermahnung, die Gefahr ernst zu nehmen, erwies sich in der Krise als deutlich hilfreicher, als der Appell an Mut und Männlichkeit angesichts des Virus, wie er von Rechtspopulisten wie dem US-Präsidenten Donald Trump oder Brasiliens Staatschef Jair Bolsonaro artikuliert wurde. Die Denunziation der Angst ist nach wie vor insbesondere in der politischen Rechten zu Hause. Das zeigt auch die Beschimpfung von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow durch den AfD-Rechtsaußen Bjorn Höcke als "Ministerpräsident[en] der Angst."

Ein weiterer kultureller Kontext erklärt die unterschiedlichen Reaktionen auf vergangene Grippe-Pandemien und das Corona-Virus: das gewandelte Verhältnis zum vorzeitigen Tod. Die Grippe-Pandemien trafen auf eine Gesellschaft des Nachkrieges, die noch im Bann des massenhaften gewaltsamen Todes während des Zweiten Weltkrieges stand. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag Ende der 1950er Jahren noch unter 70 Jahren, die Kindersterblichkeit war relativ hoch – auf 1.000 Geburten starben 1955 noch knapp über 45 Kinder in den ersten fünf Jahren, 2019 nur noch vier. Der vorzeitige Tod eines Familienmitgliedes war somit noch Teil eines Erfahrungsraumes der deutschen Gesellschaft, die in die Kriegszeit zurückreichte. Leid und Trauer konnten in der Nachkriegsgesellschaft nur schwer artikuliert werden, existenzielle Verlusterfahrungen lagen jenseits des Sagbaren. Diese Gefühle erschienen allenfalls als Teil einer schicksalshaften Welt, der man hilflos ausgeliefert war. Diese Erinnerung an die NS-Zeit als von außen oktroyiertem Schicksal war natürlich zutiefst apologetisch. Sie zementierte den deutschen Opfermythos und minimierte die eigene Verantwortlichkeit. Aber die Erinnerung an die eigene Viktimisierung hatte auch eine vorausschauende Funktion: Sie prägte die Wahrnehmung von Krisensituationen in der Gegenwart und die Imagination möglicher Katastrophen in der Zukunft.

Ganz im Gegensatz dazu traf die Corona-Pandemie auf eine Gesellschaft, für die der vorzeitige Tod generell unakzeptabel war. Im Zuge des medizinischen Fortschritts und steigender Lebenserwartung, aber auch angesichts der fehlenden Erfahrung von Massentod im historischen Bewusstsein, wird jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft das Recht auf ein erfülltes Leben und einen natürlichen Tod zugestanden. Dies ist zu Recht als einer der großen Verdienste der Moderne gewürdigt wurden. Die in Frankreich oder auch den USA schnell mobilisierte Kriegsrhetorik im Kampf gegen das Virus lehnte beispielsweise Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier explizit ab. Tatsächlich funktioniert historische Erinnerung nun in geradezu gegenteiliger Richtung. So bewirkte eine kritische Erinnerung an die NS-Zeit, einschließlich der Erinnerung an die sogenannten Euthanasieprogramme, dass die Rede vom "lebensunwerten Leben" in Deutschland, mehr noch als anderswo, als Skandal gilt. Vielmehr schien ein grundsätzlicher Konsens darüber zu existieren, dass die sogenannten Risikogruppen, also vor allem ältere Menschen, trotz hoher gesamtgesellschaftlicher Kosten zu schützen seien. So fragte der Philosoph Jürgen Habermas, ob nicht der "Kerngehalt des Lebensschutzes vielleicht aufgrund des individualistischen Charakters unserer Rechtsordnung einen Sperrklinkeneffekt [habe], den andere Grundrechte nicht" hätten. Er ging von einer "unbedingte[n] Schutzverpflichtung des Staates" aus, die sich auch "auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie auf die Bewegungs- und Handlungsfreiheit dieser Person selbst" beziehe. Auch wenn diese Position im öffentlichen Diskurs nicht unwidersprochen blieb, so verwies sie doch auf eine historisch gewachsene Hochachtung des individuellen Lebens, die in der Nachkriegskultur der Bundesrepublik noch nicht im gleichen Maße verankert war.

Schließlich unterscheidet sich die Gegenwartskultur von der frühen Bundesrepublik auch durch eine voranschreitende Individualisierung. Die Pandemie traf auf eine Gesellschaft, in der spätestens seit den 1990er Jahren die individuelle Selbstentfaltung zu einer wichtigen kulturellen Norm geworden war. Gerade in der neuen Mittelklasse der urbanen, gebildeten Schichten nahm das Streben nach Selbstverwirklichung eine besondere Bedeutung ein. In einer "Gesellschaft der Singularitäten" definierte sich das "spätmoderne Subjekt" über das "Individuelle, Besondere, Nichtaustauschbare". Die Pandemie konterkarierte diese Sehnsucht nach dem Singulären. Das Virus attackiert den Menschen als Gattungswesen. Die betroffenen Gesellschaften streben genau das Gegenteil des Singulären an, nämlich die sogenannte Herdenimmunität. Um es pointiert zu sagen: Die Pandemie reduziert uns von dem singulären Individuum, als dass wir uns qua Lebensweise definieren, zu einem reinen Gattungswesen in Analogie zur Schafherde. Das sichtbarste äußere Merkmal der Pandemie – das Tragen einer Maske – verhüllt genau jenen Teil unseres Körpers, der wie kein anderer für unsere Individualität steht: das Gesicht.

Moderne Unsicherheiten

Die Corona-Angst war und ist eine dezidiert moderne Angst. Ähnlich wie Radioaktivität ist das Virus (ohne Elektronenmikroskop) weder sichtbar noch anderweitig sinnlich wahrnehmbar. Die Gefahr bedarf somit der Vermittlung durch Experten und Expertinnen. Die Krise wurde zur Stunde der Virologen und Virologinnen. Deren Wissenstand im Hinblick auf Ursprung, Übertragungswege und Gefährlichkeit des Virus entwickelte sich dynamisch und hat bis heute zu keiner endgültigen Sicherheit geführt, reichte aber deutlich weiter als dies während der Grippe-Pandemien der Nachkriegszeit der Fall war. Dennoch stellte sich auch in der Corona-Pandemie das klassische Problem der Risikogesellschaft: Gerade, weil gesellschaftliche Risiken nur noch über Expertinnen und Experten wahrgenommen werden, werden sie Teil des gesellschaftlichen Diskurses und verlieren ihre Monopolstellung. Unterschiedliche politische Positionen werden mit jeweils konfligierenden wissenschaftlichen Positionen begründet und abgesichert. Die politische Diskussion wird auch zur Diskussion um die Geltungsansprüche konträrer wissenschaftlicher Einschätzung, wie dies beispielsweise im Konflikt um die Atomenergie der Fall war. Es kommt zur "Feudalisierung der Erkenntnispraxis". Die breite Verunsicherung resultierte nicht nur aus dem Expertendissens beispielsweise hinsichtlich des Maskentragens oder der Notwendigkeit von Schulschließungen. Expertinnen und Experten sahen sich auch mit der Aufgabe konfrontiert, die Reichweite ihrer Expertise zu definieren. So bemühte sich Christian Drosten von der Berliner Charité beispielsweise dezidiert, die eigene virologische Expertise abzugrenzen von genuin politischen Entscheidungen. Darüber hinaus waren die Virologinnen und Virologen insbesondere in den Sozialen Medien mit einer Art von "Gegenexpertise" konfrontiert, die die gesamte Realität der Pandemie in Frage stellte. Trotz wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Unsicherheit offenbarte die Pandemie jedoch auch die Grenzen der Manipulierbarkeit von Wahrheit. Die biologische Realität des Virus wurde zu einer "Tatsachenwahrheit", die der "Mensch nicht ändern kann". Die eskalierenden Infektionszahlen in den USA, in Brasilien und in Russland, wo rechtspopulistische Regierungen die Pandemie herunterspielen oder gar leugnen, belegen diese Feststellung eindrucksvoll.

Wenngleich die etablierte Gefühls- und Angstkultur der Bundesrepublik vielfältige Anknüpfungspunkte für die spezifische Corona-Angst bot, blieb die politische Bedeutung und potenzielle Funktion dieser Angst zunächst ambivalent. Einerseits führte sie zum Anwachsen von Angst eindämmenden Emotionen, also vor allem Vertrauen in staatliche Handlungs- und Problemlösungskapazität und gesellschaftliche Solidarität. Andererseits begann der anfängliche Vertrauensvorschuss gegenüber den staatlichen Maßnahmen Anfang Mai 2020 zu bröckeln. Allerdings scheinen sich die kurzfristig aufflackernden Corona-Demonstration nicht in eine nachhaltige Protestbewegung zu verstetigen. Rechtspopulistische Bewegungen scheiterten, anders als während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015, mit dem Versuch, ein wachsendes Unzufriedenheitspotenzial zu mobilisieren und politisch zu binden.

Darüber hinaus stand die Angst vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der epidemiologischen Maßnahmen zunehmend in Konkurrenz zur Angst vor dem Virus. Diese emotionale Dynamik konkurrierender Ängste war immer schon Teil der Geschichte der Bundesrepublik. Im Kalten Krieg neutralisierte die Angst vor dem Kommunismus die Angst vor einem neuen Krieg, eine Dialektik linker und rechter Ängste prägte lange die innenpolitische Auseinandersetzung. Allerdings entsprach die im öffentlichen Diskurs oft behauptete Unvereinbarkeit konkurrierender Ängste nicht den Tatsachen: Im Mai 2020 zeigte eine gemeinsame Studie des Ifo-Instituts und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung, dass eine effektive Bekämpfung des Virus auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Studien zu den Erfahrungen unterschiedlicher Städte während der Spanischen Grippe kamen zu einem ähnlichen Ergebnis.

Sowohl bei der Bekämpfung des Virus wie bei der Analyse der historischen Bedeutung der Pandemie ist eine rein nationale Perspektive allerdings unzureichend. Die Pandemie war vielmehr auch Teil einer verstärkten und beschleunigten Krisenhaftigkeit der Globalisierung seit der Jahrtausendwende, die Corona-Angst war mithin auch eine Globalisierungsangst.

Corona-Angst als Globalisierungsangst

Globalisierungsängste zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die in der Geschichte der Bundesrepublik wichtige Unterscheidung von "inneren" und "äußeren" Ängsten überwinden. Anders als den Atom- oder Umweltängsten fehlt ihnen ein konkreter Ort, sie sind entterritorialisiert. Im jährlich neu erstellten Angstindex der R&V Versicherung nehmen solche entterritorialisierten Ängste seit 2011 die Spitzenposition in Deutschland ein. Ängste vor "Kosten für Steuerzahler durch EU-Schuldenkrise" (2011 bis 2015), "Terrorismus" (2016/17), einer "gefährlichere[n] Welt durch Trump-Politik" (2018) oder einer "Überforderung durch Flüchtlinge" (2019) hatten allesamt ihren Ursprung in einer zunehmenden Vernetzung der Welt. Diese Ortlosigkeit bestimmte auch die Corona-Angst. Das Virus kam von außen, veränderte aber massiv das innere Leben der Gesellschaften. Es war potenziell allgegenwärtig in der Welt, drohte aber durch das Einatmen – und damit durch unser lebensnotwendiges Verhältnis zur Welt – in unseren Körper einzudringen und diesen von innen zu vernichten. Gerade die Unmöglichkeit, das Virus zu lokalisieren, war ein Grund für die wachsende Popularität von Verschwörungstheorien. Denn diese behaupteten, den Ursprungsort wie auch die Verantwortlichen für die Pandemie identifizieren zu können: Bill Gates, das Wuhan-Labor, die Pharmaindustrie.

Neue Infektionskrankheiten bilden die perfekte Metapher für die unsichtbaren und ortlosen Gefahren der Globalisierung. Bereits die Aids-Pandemie der 1980er Jahre unterlief den weitverbreiteten epidemiologischen Optimismus der Zeit nach 1945, demzufolge sich die tödlichen Krankheitsursachen von natürlichen auf menschengemachte verschoben hätten. Immunologische Erfolge wie die Polio-Schutzimpfung oder die Ausrottung der Pocken nährten die Vorstellung einer Stabilität der mikrobischen Welt. Neue Krankheitserreger seien nicht zu erwarten, existierende Viren würden zunehmend weniger virulent werden. Aids enthüllte diese Vorstellungen als trügerisch. Denn das HI-Virus war ein neues, bisher unbekanntes Virus, gegen das es weder Therapie noch Impfschutz gab. Allerdings wurde die öffentliche Wirkung von Aids dadurch abgeschwächt, dass die Krankheit lange als spezifische "Homosexuellen-Seuche" denunziert wurde. Selbst als das Übergreifen auch auf Heterosexuelle zunehmend bekannt wurde, haftete der Krankheit dennoch der moralische Makel sexueller Promiskuität an.

Die neu auftauchenden Epidemien und Pandemien seit der Jahrtausendwende haben den epidemiologischen Optimismus des späten 20. Jahrhunderts beendet. Sie transformierten die Krisenhaftigkeit der Globalisierung in sinnlich erfahrbare Körperängste. Mit anderen Worten, die Sars-Pandemie ab 2002, die sogenannte Schweinegrippe ab 2009 oder die Ebola-Epidemie ab 2014 evozierten die Gefahr, die Risiken der Globalisierung am eigenen Körper zu erfahren. In diesen Bedrohungen verband sich das – wenn auch nur vage – Unbehagen an der Globalisierung mit der Angst um die Integrität des eigenen Körpers. Zwar gelang es in diesen Fällen, die Krankheiten relativ schnell lokal zu begrenzen oder sie erwiesen sich, wie im Fall der "Schweinegrippe", als weniger gefährlich als zunächst vermutet, auch aufgrund von bestehenden Immunitäten bei der älteren Bevölkerung. Doch insbesondere in der rechtspopulistischen Imagination vermischte sich die Bedrohung durch grenzüberschreitende Viren mit der durch unregulierte "Migrantenströme".

Vor diesem Hintergrund offenbart sich in der Corona-Krise auch eine "zivilisatorische Kränkung". Im Gegensatz zu vergangenen Pandemien war es nämlich nicht mehr möglich, die Ausbreitung des Virus als Phänomen in einer räumlich und mental weit entfernten und vermeintlich unterentwickelten Welt in Asien oder Afrika zu verorten. Vielmehr wurde der industrielle Westen, also Europa und Nordamerika, schnell zum Epizentrum der Corona-Pandemie. Darin manifestierte sich auch eine globale Aufmerksamkeitsstruktur, die generell den Westen betreffende Ereignisse privilegiert. So war beispielsweise die Ebola-Epidemie 2014 erst dann in den Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt, als Amerikanerinnen und Amerikaner in den USA mit dem Virus diagnostiziert wurden.

In weit größerem Maße als die vorangegangen Globalisierungskrisen wirkte sich die Corona-Pandemie auf das Alltagsleben und das subjektive Empfinden der Menschen aus. Die Pandemie repräsentierte ein kaum zu übertreffendes Beispiel für jene "Unverfügbarkeiten", die laut dem Soziologen Hartmut Rosa für das spätmoderne Subjekt zunehmend schwerer zu ertragen sind. Während das sukzessive Verfügbarmachen der Welt zur Grunderfahrung der Moderne gehört, zwingt uns das Virus zum Zurückweichen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie wie Quarantäne, Schulschließungen, das Herunterfahren des öffentlichen Lebens oder Verbote von Massenansammlungen schränken unseren Weltzugang radikal ein, sie sind rein defensiv und rekurrieren auf Modelle, die schon die Bekämpfung der Pest in der Frühen Neuzeit oder die Epidemiologie des 19. Jahrhunderts prägten.

Im Vergleich mit anderen Globalisierungskrisen unterschieden sich auch die betroffenen Gruppen. Während die Klima-Angst vor allem von der jüngeren Generation, die um ihre Zukunft fürchtet, artikuliert wurde, betrifft die Corona-Angst vor allem ältere Menschen. Und anders als die Klima-Angst als Angst "ohne Ereignis", deren Ursprung gerade in unserer alltäglichen Lebensweise liegt, war die Corona-Krise ein einschneidendes Ereignis, dass gerade diese Alltäglichkeit massiv veränderte. Natürlich akzentuierte die Krise bestehende soziale Unterschiede. Das Virus wirkte keinesfalls demokratisierend. Soziale Distanzierung war und ist immer auch ein Mittelklasseprivileg, die Opferzahlen unter sozial Schwachen und Minderheiten sind um ein Vielfaches höher. Dennoch: Mehr als die vergangenen Krisen, die in vielerlei Hinsicht Eliten- und Medienphänomene waren – wessen Alltag veränderte sich wirklich einschneidend durch die Flüchtlinge? – transformierte das Virus unsere elementare Erfahrung des In-der-Welt-Seins.

Ausblick

Es ist diese subjektive Erfahrung der Corona-Krise, in der möglicherweise ihre Langzeitwirkung begründet liegt. Selten schlug die Krisenhaftigkeit der Globalisierung so massiv auf die Alltagserfahrung der Menschen durch. Zu Beginn der Pandemie offenbarte sich beispielsweise die Abhängigkeit von globalen Lieferketten im Hinblick auf plötzlich essenzielle Güter wie Masken, Schutzkleidung oder Beatmungsgeräte. Historisch bietet sich hier die Analogie zur Erfahrung der ersten Globalisierungskrise nach dem Ersten Weltkrieg an. So führte auch die durch die britische Seeblockade provozierte Hungersnot während des Ersten Weltkrieges in Deutschland zu einer neuen Sehnsucht nach Autarkie und "Lebensraum im Osten". Die Erfahrung der Spanischen Grippe stärkte womöglich ebenso die Tendenzen zur Deglobalisierung in der Zwischenkriegszeit. Auch während der Corona-Krise ließ sich bisher eine neue Wertschätzung des Nationalen beobachten. Dies lag nicht nur an den vielen Grenzschließungen, sondern manifestierte sich auch in nationalen Statistiken der Fall- und Todeszahlen, die – trotz der Unzuverlässigkeit der Daten – die jeweiligen Stärken und Schwächen nationaler Bewältigungsstrategien reflektieren. Andererseits unterstrich die Corona-Krise jedoch auch die Notwendigkeit internationaler Solidarität und Koordination in der Pandemie-Bekämpfung, gerade angesichts der zunehmenden Vernetzung der Welt.

Schließlich wirft die Corona-Pandemie und die damit zusammenhängende Angstwelle auch die Frage nach dem Status des Ereignisses in der globalen Moderne auf. Denn unsere Erwartungen für die Zukunft werden nicht nur durch vergangene Erfahrungen geprägt, sondern auch durch auf einschneidenden Ereignissen basierenden Zukunftsprojektionen. Es mag sein, dass die Resistenz gesellschaftlicher Strukturen letztlich über den durch das Ereignis provozierten Veränderungsdruck triumphieren wird. Dennoch sollte in einer globalen Medienlandschaft das einem Ereignis innewohnende Veränderungspotenzial nicht unterschätzt werden – die durch den Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz ausgelösten Proteste in den USA und in Europa sind dafür das beste Beispiel. Globale Ereignisse wie die Corona-Pandemie unterlaufen selbstzufriedene Fortschrittsnarrative und lassen die Ungewissheit der Welt erscheinen. In der Bundesrepublik war diese Kontingenzwahrnehmung lange eine negative – sie bestand aus einem dezidierten Krisen- und Katastrophenbewusstsein, dass auf die Gewalterfahrung der ersten Hälfte des Jahrhunderts zurückging. Doch die dem Ereignis inhärente Kontingenzerfahrung ermöglicht auch die Zukunftsprojektion einer grundsätzlichen Veränderbarkeit der Welt. Immerhin provozierte die Corona-Krise Reaktionsmuster, die in den vorangegangen Krisen noch explizit ausgeschlossen waren: die temporäre Aussetzung von Grundrechten, wie sie auch in Zeiten der Bedrohung durch den Terrorismus von liberalen Staaten dezidiert abgelehnt wurden; massive Konjunkturprogramme unter Inkaufnahme hoher Staatsverschuldung, einschließlich einer Europäisierung von Schulden, die in der Euro- und Finanzkrise kaum denkbar gewesen wären; umfassende Grenzschließungen, die in der sogenannten Flüchtlingskrise aus gutem Grund unmöglich erschienen.

Wie immer man im Einzelnen diese Maßnahmen bewerten mag, in der Krise offenbaren sich neue Möglichkeitsräume der Politik, die auch für die Zukunft bedeutsam sein könnten. Aus dem Gefühl, einer potenziell allgegenwärtigen und unsichtbaren Gefahr ausgeliefert zu sein, erwuchs somit paradoxerweise ein neues Bewusstsein politischer Handlungsfähigkeit. Die Krise wurde im eigentlichen Sinn des Wortes zu einer Entscheidungssituation. Die bisher relativ erfolgreiche Bewältigung der Pandemie in der Bundesrepublik scheint weitgehend Konsens zu sein, auch wenn ein abschließendes Urteil angesichts wieder steigender Infektionszahlen hier noch nicht möglich ist. Die Diskussion über ihre langfristigen Folgen hier und anderswo hat dagegen gerade erst begonnen.

ist Professor für Europäische Geschichte an der University of California, San Diego. E-Mail Link: fbiess@ucsd.edu