Der Parlamentarische Rat in Bonn
Privilegien
Die Vorzugsbehandlung der Abgeordneten blieb nicht unbeachtet, und am stärksten manifestierte sich der Unmut unmittelbar nach den Hungerjahren beim Thema Essen: "Man ist chockiert über alles, was den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates das Leben in Bonn angenehm und begehrenswert macht, man kritisiert die Höhe ihrer Diäten und beneidet sie um die Güte der Gaststätte, die nur ihnen zugänglich ist. Dem politischen Spießer leuchtet's nun endlich ein, weshalb sich die Arbeit des parlamentarischen Rats so in die Länge zieht! Er weiß nun, wo seine Steuergroschen bleiben und schimpft auf die Demokratie, die ihm das kostspielige Parlament bescherte." Die Privilegierten sahen dies nicht so, einige beschwerten sich ausdrücklich über die hohen Preise in ihrem exklusiven Restaurant.[14]Wiederholt unternahmen städtische Dienststellen Anläufe, die Interessen der eingesessenen Bewerber am "Brennpunkt des Wohnbedarfs" Bonn zu verteidigen. Noch existierten 2677 "Notwohnungen" in Bunkern oder Trümmerhäusern. Doch als das Wohnungsamt das Zimmer eines Fahrers der bayerischen Delegation für einen vorgemerkten Bewerber reklamierte, kam umgehend Widerspruch: Bonn "möge von einer anderweitigen Verwendung des (...) Zimmers wenigstens so lange Abstand nehmen, als der Parlamentarische Rat in Bonn tätig" war. Wiederholt gingen Besprechungen "bis tief in die Nacht". Der betreffende Fahrer werde dann "zur Rückfahrt der Herren Abgeordneten" benötigt. Auch das personell verstärkte Sekretariat setzte außergewöhnliche Arbeitszeiten als Argument zur Verteidigung eroberten Wohnraums ein. Da war es zwei Angestellten "nach längerem Bemühen gelungen, in unmittelbarer Nähe des Parlamentarischen Rates (...) eine angemessene Unterkunft zu finden". Nun versuchte das Wohnungsamt, "dieses Zimmer zu Gunsten von irgendwelchen Wohnungssuchenden zu beschlagnahmen". Es wurde "von Seiten des Parlamentarischen Rates gesteigerter Wert darauf gelegt", das Zimmer für die Sekretariatsangehörigen zu erhalten, "da diese praktisch Tag und Nacht aus dienstlichen Gründen erreichbar sein" mussten.[15]
An der nicht zu übersehenden bayerischen Präsenz am Tagungsort scheinen sich einige Gemüter gerieben zu haben. Kein anderes Bundesland trieb einen solchen Aufwand. Zusätzlich zum gemeinsamen Büro der Ministerpräsidenten in Bad Godesberg unterhielt die Münchener Staatskanzlei eine eigene Dienststelle in Bonn; sie hatte "keinerlei Funktionen gegenüber dem Parlamentarischen Rat", wie es beschwichtigend hieß, "lediglich die Aufgabe, die bayerischen Abgeordneten zu betreuen".[16] Untergebracht war sie in der Landwirtschaftskammer, einem der imposantesten unter den unzerstörten Gebäuden im Stadtkreis. Die von Regierungsdirektor Hans Wutzlhofer geleitete Dienststelle stand, ebenso wie seine großzügig bemessenen Repräsentationsräume, den bayerischen Abgeordneten aller Fraktionen offen. Daneben wurde Schreibpersonal vorgehalten, vor allem reichlich Kraftfahrzeuge und Chauffeure für Fahrten zwischen verschiedenen Wohn-, Dienst- und Besprechungsorten. Im noblen Ambiente der Poppelsdorfer Allee traf auch Ministerpräsident Hans Ehard, der ausgesprochen häufig in Bonn war, viele seiner Gesprächspartner.[17]
Bei einer dieser nächtlichen Gelegenheiten, als Politik und Geselligkeit nicht mehr zu trennen waren, müssen es die Bayern wohl etwas zu toll getrieben haben. Am 25. November 1948 gegen 22 Uhr fühlte sich ein Nachbar auf dem Rückweg zu seiner Wohnung durch das Spektakel provoziert: Fünf große, elegante Pkw parkten vor der Hausnummer 79 unbeleuchtet im Schatten der Bäume, zwei von ihnen waren rücksichtslos auf dem Gehweg abgestellt. "Bei den Wagen standen mehrerer Chauffeure und eine Dame mit einer Zigarette im Mund." Sie wehrte die Fragen unwirsch, mit wegwerfender Handbewegung ab. Der Anwohner wartete vergeblich zwanzig Minuten ab, dass die Wagen fortfuhren, klingelte dann, traf als erstes einen Diener, der mit einem Korb voller Weinflaschen ("den er mit beiden Händen tragen musste") aus dem Keller kam, bevor er sich mit dem Hausherrn Wutzlhofer ein hitziges Wortgefecht lieferte. Die ganze Szene habe in ihm "zunächst den Eindruck erweckt, es handelte sich um ein geselliges Zusammensein wohlhabender, aber nicht sehr rücksichtsvoller Leute". Was wiederum den aufgebrachten Wutzlhofer erzürnte, war die Tatsache, dass sich unter den fröhlichen Zechern sein Ministerpräsident befand, angeblich in eine Besprechung mit den bayerischen Abgeordneten vertieft. Und dann erdreistete sich der Anwohner noch, demokratische Prinzipien zu zitieren: "Auch für den Ministerpräsidenten gelten die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung."[18]