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"... die Hungernden zu speisen" - Zur Entwicklung des Spendenverhaltens in Deutschland

Gabriele Lingelbach

/ 12 Minuten zu lesen

Jedes Jahr spenden deutsche Privathaushalte rund zwei Milliarden Euro. Früher wurde vorwiegend die Armutsbekämpfung im eigenen Land unterstützt – inzwischen hat sich das Spektrum der Spendenzwecke stark erweitert.

Einleitung

Seit einigen Jahren hört man Klagen über eine zu beobachtende gesellschaftliche Entsolidarisierung: Es mache sich in der Bundesrepublik eine egoistische Ellenbogenmentalität breit, im Konkurrenzkampf um Geld, Status oder Einfluss würden die Belange der Armen und Schwachen rücksichtslos beiseite gedrückt. Diese These trifft sicherlich auf viele Gesellschaftsbereiche und Tätigkeitsfelder zu, doch im Hinblick auf das Spendenwesen lassen sich durchaus auch Gegenargumente finden.

Dimensionen des heutigen Spendenwesens

Allein die quantitativen Dimensionen des Spendenmarktes sind beeindruckend: Einer aktuellen Schätzung zufolge spendeten Privatpersonen in Deutschland zuletzt jährlich rund zwei Milliarden Euro. Wenn man die testamentarisch vererbten Spendengelder und die Unternehmensspenden noch hinzurechnen würde, käme man auf etwa vier Milliarden Euro. Je nach Erhebungsgrundlage und Definition des Begriffes "Spende" kommen andere Untersuchungen auf zwei bis fünf Milliarden Euro, die in Deutschland jährlich allein von Privathaushalten gegeben würden, wobei die höheren Zahlen auf der Basis besonders valider statistischer Grundlage errechnet wurden.

Ebenso variieren die statistischen Angaben zur Spenderquote, also zum Anteil der Spenderinnen und Spender an der deutschen Bevölkerung. Während einige Erhebungen davon ausgehen, dass nur jeder fünfte Deutsche regelmäßig spendet, kommen andere Analysen auf bis zu 70 Prozent. Der Charity Scope der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) ermittelte beispielsweise eine Spendenbeteiligung von nur etwa 20 Prozent, der Deutsche Spendenmonitor von TNS Infratest wiederum stellte für die vergangenen zehn Jahre eine zwischen 37 und 50 Prozent schwankende Quote fest. Der sogenannte Freiwilligensurvey im Auftrag des Bundesfamilienministeriums ergab dagegen für das Jahr 2009 eine Quote von 59 Prozent. Am höchsten lagen die Zahlen eines Forschungsprojekts der Humboldt-Universität und des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI), das im Jahr 2008 sogar auf eine Spenderquote von 70 Prozent kam. Sicherlich müssen solche Umfragen mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden - wer sagt schon offen in einem Interview, er spende nicht? Doch ist deutlich, dass von einer gänzlich "entsolidarisierten" Gesellschaft angesichts solcher Zahlen kaum gesprochen werden kann.

Zwar kann eingewendet werden, dass die deutschen Haushalte Schätzungen zufolge durchschnittlich nur 0,33 Prozent ihres Einkommens für Geldspenden aufwenden (bei Steuerpflichtigen liegt der Anteil an den Einkünften, die für Spenden ausgegeben werden, zwischen etwa 0,7 Prozent und etwas über 3 Prozent), aber im internationalen Vergleich zeigt sich, dass die Deutschen insbesondere anlässlich von Katastrophen relativ spendabel sind. Der These von der Entsolidarisierung widerspricht auch die Tatsache, dass die meisten Spendengelder der Hilfe für bedürftige Menschen und damit zu einem bedeutenden Teil auch der Armutsbekämpfung gewidmet sind. Dies legen zumindest die Ergebnisse des GfK Charity Scope nahe (sh. Tabelle in der PDF-Version).

Detailliertere Aussagen stellt der Deutsche Spendenmonitor zur Verfügung, dessen Spenderbefragung für das Jahr 2009 eine Reihenfolge bei den Spendenzwecken ergab. Auf dem ersten Platz stand die Behindertenhilfe, gefolgt von der Kinder- und Jugendhilfe, der Kirche als Spendenzweck, der Entwicklungshilfe, der Sofort- und Nothilfe und dem Spendenzweck "Wohlfahrt, Soziales". Bei den genannten Bereichen hatten jeweils zwischen etwa einem Drittel und einem Viertel der Befragten angegeben, sie hätten für diesen Zweck Geld gegeben. Tier- und Umweltschutz lagen unterhalb dieser Quoten, aber noch im zweistelligen Bereich. Weniger als fünf Prozent der Befragten antworteten dagegen, sie hätten für "Bildung", "Kunst" oder "Politik" einen Obolus geleistet. Zwar ist die definitorische Zuordnung von Spendenzwecken problematisch - ist eine Spende für die Schulausbildung blinder Kinder in Indien nun dem Spendenzweck "Behindertenhilfe", der "Kinder- und Jugendhilfe", der "Entwicklungshilfe" oder der "Bildung" zuzuordnen? -, aber die Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass die meisten Spender "wohltätige" Zwecke im Sinne der mehr oder weniger direkten Hilfe für bedürftige Menschen verfolgen. Die Förderung von "gemeinnützigen" Zwecken wie etwa die Kulturförderung zieht dagegen deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich.

Doch offensichtlich ist auch, dass die Entscheidung für den potenziellen Spender, für welchen Zweck er etwas geben will, heutzutage schwieriger ist als früher. Sollte man den Opfern von Naturkatastrophen in weit entfernten Weltregionen helfen oder über die Spende an eine der "Tafeln" bedürftigen Menschen in der eigenen Region? Sollte man sich für die Rettung der tropischen Regenwälder einsetzen oder vielleicht doch besser für den Artenschutz der heimischen Tierwelt? Möglicherweise wäre auch der Schutz der Menschenrechte in der Welt einer Förderung wert, die Schulausbildung von Mädchen in Afghanistan, der Kirchenbau in Osteuropa, die Aids-Forschung, der örtliche Sportverein oder die städtische Gemäldegalerie? Die Vielfalt an "Brennpunkten" und möglichen Empfängern ist enorm, die Wahl eines Spendenziels ist dadurch häufig mit großem Informationsaufwand verbunden. Oft wird eine Entscheidung aber auch sehr spontan getroffen, etwa wenn man bei einer Straßensammlung um eine Spende gebeten wird, einen Spendenwerbebrief im Briefkasten gefunden hat, durch Bekannte zu einer Gabe animiert oder bei einer Fernseh-Charity-Gala zum Spenden aufgefordert wird.

Die Breite der Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten zur Spendengabe ist allerdings ein aus historischer Perspektive gesehen relativ neues Phänomen. Deshalb wird im Folgenden nachgezeichnet, wie sich die Wahlmöglichkeiten für Spenderinnen und Spender in Deutschland während des 20. Jahrhunderts entwickelt haben und welche Bedeutung dem Kampf gegen Armut und Bedürftigkeit mithilfe von Spendengeldern in den vergangenen Jahrzehnten zukam. Der Schwerpunkt liegt mithin auf dem Spendenwesen, das im Unterschied zum Stiftungssektor dadurch gekennzeichnet ist, dass kleinere Summen unterhalb einer gewissen Erheblichkeitsschwelle gegeben werden. Die Spendentätigkeit wird daher durch große Teile der Bevölkerung praktiziert, ist Teil des Alltagshandelns breiter Gesellschaftsschichten, während das Stiftungswesen und damit die Gabe größerer Summen eher durch eine schmale soziale und wirtschaftliche Elite dominiert wird.

Spendensammlungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Das Geben von kleineren Geldsummen oder Sachspenden für wohltätige Zwecke ist ein jahrhundertealtes Phänomen. Besonders über die Kollekte während des Gottesdienstes haben die Kirchen stets im Sinne der sieben Werke der Barmherzigkeit die Gläubigen aufgefordert, "die Hungernden zu speisen" und "die Nackten zu kleiden". Auch im jüdischen und muslimischen Glauben nimmt die spendende Fürsorge für Bedürftige eine bedeutende Rolle ein. Im säkularen Raum wurde das Spenden über intermediäre Instanzen - im Unterschied zum Geben von Almosen an Bettler - in Deutschland allerdings erst während des Ersten Weltkrieges zu einem alltäglichen Massenphänomen. Denn nun ging es um die Unterstützung von Familien, die durch die Einberufung ihrer männlichen Mitglieder zum Wehrdienst oder deren Tod auf den Schlachtfeldern in Not geraten waren. Wohltätigkeit war somit sicherlich Zweck der während des Krieges von vielen Organisationen initiierten Straßen- und Haussammlungen und der über die Presse verteilten Spendenwerbungen, doch wurde auch an das patriotische Pflichtgefühl der "Heimatfront" appelliert.

In der Weimarer Republik gab es ebenfalls immer wieder groß angelegte Sammlungswochen, bei denen insbesondere die starken Wohlfahrtsverbände wie die Caritas, die Innere Mission und das Rote Kreuz an die Öffentlichkeit traten, um die Bevölkerung um Spenden zu bitten. Ehrenamtliche Sammlerinnen und Sammler standen dann mit Sammelbüchsen in den Innenstädten oder gingen von Haus zu Haus. Besondere Bedeutung erlangte in dieser Phase die 1930/1931 eingeführte gemeinsame Sammlungsaktion für die sogenannte Winterhilfe, deren Einnahmen jenen Menschen zukommen sollten, die durch die Wirtschaftskrise in existenzielle Not geraten waren.

Somit war auch das außerkirchliche Spendenwesen in Deutschland von Anfang an stark auf Wohltätigkeitszwecke, auf die Hilfe für Arme und Bedürftige konzentriert. Dabei gaben die Spender ihr Geld für sehr vage formulierte Zwecke meist an die großen Wohlfahrtsverbände, die dann entschieden, welche Personengruppen und Einrichtungen von den Spendengeldern profitierten. Dieser Entscheidungsspielraum der Spendensammler wurde allerdings während der nationalsozialistischen Herrschaft sukzessive reduziert. Die traditionellen Wohltätigkeitsorganisationen wurden teilweise verboten oder in ihrem Wirkungsradius stark eingeschränkt. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) statteten die neuen Machthaber dagegen mit zahlreichen Privilegien aus, was unter anderem dazu führte, dass diese die weiterhin stattfindenden Haus- und Straßensammlungen zunehmend dominierte.

Zugleich wurde das Spendenwesen von den Nationalsozialisten für die eigenen Zielsetzungen korrumpiert. Während beispielsweise die über die Winterhilfe eingesammelten Gelder nicht mehr an jüdische Bürgerinnen und Bürger verteilt werden durften, wurden die Einrichtungen der NSV und deren Klientel deutlich bevorzugt. Somit instrumentalisierte das Regime das Spendenwesen für seine eigenen propagandistischen und sozialpolitischen Zielsetzungen, wie der NS-Staat auch insgesamt tief in das Spendenwesen eingriff, indem er alle Spendensammlungen einer rigorosen staatlichen Kontrolle unterwarf. Da er seit 1934 alle Spendensammler per Gesetz dazu verpflichtete, eine staatliche Genehmigung einzuholen, bevor sie die Bürger um Geld baten, konnten die Machthaber bestimmen, für welche Zwecke und über welche Organisationen überhaupt noch Geld gegeben werden konnte.

Spendensammlungen in der frühen Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Gaben für arme und bedürftige Bevölkerungsgruppen abermals im Zentrum des Spendenwesens. Denn die Not war überbordend: Den vielfach in Lagern untergebrachten Vertriebenen, Flüchtlingen, Heimkehrern, Evakuierten und displaced persons sowie den beispielsweise durch Ausbombung um ihre Existenzgrundlage gebrachten ortsansässigen Menschen fehlte es ebenso wie den vielen Kriegsversehrten und -hinterbliebenen an Lebensmitteln, Kleidung, Hausrat und häufig auch an einem Dach über dem Kopf. Staatliche Stellen waren angesichts der Notlage überfordert, und die Spendenleistungen aus dem Ausland setzten erst allmählich ein. In dieser Situation trug das meist auf der Ebene der Kommunen und Kirchengemeinden organisierte Spendenwesen erheblich zur materiellen Umverteilung und Linderung akuter sozialer Not bei, wenn auch zu Beginn eher nur im lokalen Rahmen. Rasch aber bauten Wohltätigkeitsorganisationen wieder regionale und dann nationale Strukturen auf und begannen abermals, regelmäßige Haus- und Straßensammlungen auch im überlokalen Maßstab zu veranstalten.

Dass nach 1945 weiterhin die Bekämpfung von inländischer Armut und Bedürftigkeit als Spendenzweck dominierte, lag nicht nur an der allgegenwärtigen Not, sondern auch an der staatlich geschützten Dominanz der fünf großen Wohlfahrtsverbände. Die Caritas, die Innere Mission bzw. das Evangelische Hilfswerk (die sich bald zur Diakonie zusammenschlossen), das Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband engagierten sich fast ausschließlich in diesem Bereich und vernachlässigten dementsprechend gemeinnützige Zwecke wie die Sportförderung, den Denkmalschutz oder die Bildungsförderung. Da aber weiterhin die gesetzliche Verpflichtung bestand, für öffentliche Spendensammlungen eine staatliche Genehmigung einzuholen und diese Genehmigung wiederum nahezu ausschließlich den Wohlfahrtsverbänden und ihren regionalen und lokalen Unterorganisationen erteilt wurde, konnten die Bundesbürger fast nur für solche Zwecke spenden, welche die Wohlfahrtsverbände offerierten. Und weil die Genehmigungspflicht für alle öffentlichen Sammlungsformen galt, also sowohl für die traditionellen Haus- und Straßensammlungen als auch für die Verschickung von Briefen mit Spendenwerbung oder auch die Spendenaufforderung in den Medien, gab es für potenzielle Spender kaum Alternativen zu den Wohlfahrtsverbänden. Lediglich über die staatlicherseits nicht regulierten Kollekten oder über die Mitgliedsbeiträge für einen Verein konnte man andere Ziele unterstützen. Das öffentliche Spendenwesen der frühen Nachkriegszeit war mithin durch Wohltätigkeitszwecke bestimmt.

Doch kann aus der Tatsache, dass die Westdeutschen - in der DDR war das Spendenwesen eine Randerscheinung, die für die sozialen, politischen und propagandistischen Ziele der Staatsführung eingesetzt wurde - in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem für die Bekämpfung von Armut und Bedürftigkeit spendeten, nicht geschlossen werden, dass dies deren Willen widerspiegelte. Denn die Wahlfreiheit der Spender war ebenso eingeschränkt wie die Freiwilligkeit der Gabe. Schließlich konnten die Passanten bei der Straßensammlung etwa des Roten Kreuzes oder des Evangelischen Hilfswerks der Spendenaufforderung kaum (ohne Gesichtsverlust) ausweichen. Und wenn die ehrenamtlichen Sammler mit Namenslisten von Haustür zu Haustür gingen und die gegebenen Beträge für die nachfolgenden Spender sichtbar auf den Sammellisten notierten, konnte ebenfalls kaum einer der Angesprochenen die "freiwillige" Gabe verweigern.

Dass das Spendenwesen der Nachkriegszeit so überdeutlich durch Wohltätigkeitsspenden dominiert war, lag mithin an der rigorosen staatlichen Reglementierung des Spendenmarktes, die zum einen ein Oligopol spendensammelnder Organisationen, deren Aktivitätsradius sich auf die Hilfe für Bedürftige konzentrierte, deutlich bevorzugte und zum anderen die Wahlfreiheit der Spender stark einengte.

Wandel seit den 1960er Jahren

Dies änderte sich jedoch in den 1960er Jahren. Weil die staatlichen Genehmigungs- und Kontrollbehörden mit der Beaufsichtigung des Spendenwesens zunehmend überfordert waren und zudem Gerichtsurteile die gesetzlichen Grundlagen dieser Kontrolle zunächst einschränkten und dann ganz beseitigten, liberalisierte sich die obrigkeitsstaatliche Regulierung des Spendenmarktes deutlich. Spätestens seit Ende der 1960er Jahre durften alle Organisationen, solange sie nicht betrügerische Absichten verfolgten, Spenden für wohltätige oder gemeinnützige Zwecke sammeln. Lediglich die Haus- und Straßensammlungen blieben einer gewissen Kontrolle unterworfen. Infolgedessen vermehrte sich die Zahl von Verbänden, Vereinen, Institutionen, teilweise aber auch von Privatpersonen, die sich mit Spendenwerbebriefen oder Spendenaufrufen in den Medien an die Bevölkerung wandten. Da im Unterschied zu den Haus- und Straßensammlungen die Notwendigkeit entfiel, eine große Zahl ehrenamtlicher Sammlerinnen und Sammler zu rekrutieren, konnten auch kleine Organisationen mit geringem Aufwand beachtliche Spendenerfolge erzielen.

Mit der Vermehrung der spendensammelnden Organisationen fächerte sich auch das Angebot im Hinblick auf die Spendenzwecke auf. In einem ersten Schritt kam es dabei zu einer Internationalisierung: Organisationen wie Misereor, Brot für die Welt oder Adveniat, die zuvor nur bei den Kirchengemeinden hatten sammeln dürfen, konnten nun mit ihren Spendenbitten an die breite Öffentlichkeit herantreten und unerwartet hohe Spendeneinnahmen verzeichnen. Weltliche Entwicklungshilfeinstitutionen sowie Organisationen, die sich der internationalen Katastrophenhilfe widmen, kamen hinzu, so dass sich die Solidaritätsräume zusätzlich erweiterten. Doch noch immer blieb die Armuts- und Bedürftigkeitsbekämpfung im Zentrum des bundesrepublikanischen Spendenwesens.

Erst in den 1980er Jahren erweiterte sich das Spektrum der möglichen Spendenzwecke abermals signifikant. Denn nun konnten vor allem der Umwelt- und Naturschutz Zuwächse bei den Spendeneinnahmen verzeichnen. Inzwischen zeigen sich auch wachsende Erfolge derjenigen Organisationen, die für die Kulturförderung oder den Denkmalschutz Spenden einwerben. Das eindeutige Monopol der Wohltätigkeitsspenden für inländische Empfängergruppen ist mittlerweile aufgebrochen.

Für diese Entwicklung können zahlreiche Gründe angegeben werden. Dazu gehört auf jeden Fall die beschriebene Liberalisierung des Sammlungsrechts, also der Rückzug des Staates aus der Kontrolle und Lenkung des Spendenmarktes. Aber auch gesellschaftliche Wandlungsprozesse müssen zur Erklärung der beschriebenen Entwicklung herangezogen werden. Der mittlerweile zwar gestoppte, doch insgesamt deutliche Ausbau des Sozialstaates führte zu einem Rückgang offensichtlicher Armut und Bedürftigkeit im Inland und lenkte die Spendengaben in Richtung der Hilfesuchenden jenseits der deutschen Staatsgrenzen. Die Erweiterung der Wahrnehmungshorizonte, unter anderem hervorgerufen durch eine Medienberichterstattung, die sich internationalen Themen zunehmend öffnete, zeigte ebenfalls Wirkung. Die mediale Aufmerksamkeit für Natur- und Hungerkatastrophen im Ausland gewann in wachsendem Maße Einfluss auf die Spendenströme. Insbesondere die sich vermehrenden Fernsehbilder über Natur- und Hungerkatastrophen und jedwedes menschliches Leid in den verschiedensten Regionen dieser Welt veranlassten die Deutschen immer wieder zu durchaus großzügigen Spendengaben. Insofern ist die konstatierte Erweiterung der Solidaritätsräume auch als ein Phänomen der Globalisierung zu werten.

Hinzu kommt aber auch der Zuwachs an Wissen über die Ursachen menschlicher Bedürftigkeit. Je deutlicher etwa der Zusammenhang zwischen Klimawandel einerseits und des durch Dürrekatastrophen oder Überschwemmungen verursachten menschlichen Leids andererseits ins Bewusstsein trat und damit die Tatsache, dass auch Naturkatastrophen zum Teil auf menschliches Verhalten zurückzuführen sind, desto eher boten sich Spendenzwecke an, die sich der Bekämpfung der Ursachen widmeten. Insofern können Spenden für den Umweltschutz auch nicht mehr eindeutig von jenen getrennt werden, die sich der Armuts- und Bedürftigkeitsbekämpfung verschreiben. Wenn also in Zukunft der Anteil der Spenden zur direkten Armutsbekämpfung weiter zurückgehen sollte, dann muss dies nicht als Anzeichen einer fortschreitenden Entsolidarisierung gewertet werden: Auch Spenden beispielsweise für den Umweltschutz oder die Bildungsförderung sind Ausweis praktizierter zwischenmenschlicher Solidarität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. etwa Elmar Brähler/Hans-Jürgen Wirth (Hrsg.), Entsolidarisierung. Die Westdeutschen am Vorabend der Wende und danach, Gießen 2000.

  2. Diese und folgende Angaben aus Eric Lämmerzahl, Spendensituation und Spendenverhalten. Charity Scope 2008, in: Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) (Hrsg.), Soziale Arbeit Spezial. Helfersyndrom, Prestigeverlagen oder Gemeinsinn? Untersuchungen zum Spendenverhalten, Dokumentation einer Tagung vom 13.10.2008 in Berlin, Berlin 2009, S. 5.

  3. Diese und die folgenden Angaben finden sich - falls nicht anders angegeben - in Jana Sommerfeld/Rolf Sommerfeld, Die Spender, in: DZI (Hrsg.), Spendenbericht Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 25-92.

  4. Spendenzwecke in Deutschland 2007 bis 2009 laut TNS Infratest-Umfrage, online: http://de.statista.com/statistik/daten/
    studie/2684/umfrage/spendenzwecke-in-deutschland-im-zeitverlauf/(24.11.2010).

  5. Zur Entwicklung der Spendenformen vgl. Gabriele Lingelbach, Vom Opferstock zur Online-Spende, in: DZI (Hrsg.), Spendenbericht Deutschland 2010, Berlin 2010, S. 115-124. Zu TV-Spendengalas vgl. Katja Naße, Charity-TV in Deutschland, Hagen 1999.

  6. Vgl. Gabriele Lingelbach, Spenden und Sammeln. Der westdeutsche Spendenmarkt bis in die frühen 1980er Jahre, Göttingen 2009.

  7. Vgl. Bronislaw Geremek, Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa, München 1991.

  8. Vgl. Rainer Auts, Opferstock und Sammelbüchse. Die Spendenkampagnen der freien Wohlfahrtspflege vom Ersten Weltkrieg bis in die sechziger Jahre, Paderborn 2001, S. 21-33.

  9. Vgl. Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat, Opladen 1999.

  10. Vgl. ders., Wohlfahrtsverbände in der Nachkriegszeit, Weinheim 2005.

  11. Vgl. Gregory R. Witkowski, "Unser Tisch ist besser gedeckt." Ostdeutsche Philanthropie und Wohltätigkeit, 1959-1989, in: Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich, Stuttgart 2009, S. 313-333.

Dr. phil., geb. 1966; Professorin für Globalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Bamberg, Obere Karolinenstraße 8, 96049 Bamberg. E-Mail Link: gabriele.lingelbach@uni-bamberg.de