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Wandel der Sicherheitskultur | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Die "globale Null" für Atomwaffen - Essay Wandel der Sicherheitskultur Drohnenkrieg: Die konsequente Fortsetzung der westlichen Revolution in Military Affairs Das neue strategische Konzept der NATO Afrikanische Friedens- und Sicherheitsarchitektur: Institutionalisierte Zusammenarbeit in und für Afrika Diplomatischer Erfolg und kommunikatives Desaster: Die Raketenabwehrpläne der USA Friedens- und Sicherheitspolitik braucht Geschlechteranalysen - Essay

Wandel der Sicherheitskultur

Christopher Daase

/ 18 Minuten zu lesen

Die Wahrnehmung dessen, was als Gefahr angesehen wird, wird von einem sich stetig verstärkenden Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und den sich beständig ausweitenden Sicherheitsversprechen des Staates geprägt.

Einleitung

Sicherheit ist der zentrale Wertbegriff unserer Gesellschaft. Das war nicht immer so. Noch vor wenigen Jahren konkurrierten die Begriffe "Sicherheit" und "Frieden" um den Vorrang in Strategiedebatten und Parteiprogrammen. Heute ist "Sicherheit" der Goldstandard nationaler und internationaler Politik, und vom Frieden wird fast nur noch in politischen Sonntagsreden gesprochen. Darin zeigt sich eine veränderte Wahrnehmung politischer Probleme und das, was man den Wandel der Sicherheitskultur nennen kann. Unter "Sicherheitskultur" soll die Summe der Überzeugungen, Werte und Praktiken von Institutionen und Individuen verstanden werden, die darüber entscheiden, was als eine Gefahr anzusehen ist und wie und mit welchen Mitteln dieser Gefahr begegnet werden soll. Dieses Verständnis verbindet zwei Forschungsstränge, nämlich technikwissenschaftliche Ansätze zu safety culture und politikwissenschaftliche Ansätze zu strategic culture.

Ursprünglich geht der Begriff der Sicherheitskultur auf eine Expertengruppe zurück, die im Auftrag der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) 1986 den Reaktorunfall von Tschernobyl untersuchte. Im Anschluss daran werden in der technischen Sicherheitsforschung die institutionellen Grundlagen des Sicherheitsmanagements und das Sicherheitsbewusstsein der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Organisation als "Sicherheitskultur" bezeichnet. In der politikwissenschaftlichen Sicherheitsforschung hat sich demgegenüber der Begriff der "strategischen Kultur" etabliert, um die politischen Überzeugungen, Ansichten und Verhaltensmuster nationaler Eliten im Hinblick auf militärische Sicherheitsbelange zu erfassen. Führt man diese Verständnisse unter konstruktivistischer Perspektive zusammen - das heißt einer Perspektive, die kulturelle und normative Aspekte internationaler Politik ernst nimmt - kann man von Sicherheitskultur als den Überzeugungen, Werten und Praktiken sprechen, die das Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden von Staaten, Gesellschaften und Individuen bestimmen und die Sicherheitspolitik prägen.

Diese Sicherheitskultur, so das zentrale Argument dieses Beitrags, wandelt sich und stellt die Sicherheitspolitik zunehmend vor Aufgaben, die kaum noch zu erfüllen sind. Es besteht gegenwärtig ein Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Sicherheitsbedürfnis und der Fähigkeit staatlicher und internationaler Akteure, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Dabei ist nicht so sehr die absichtsvolle Dramatisierung von politischen Problemen von Seiten politischer Entscheidungsträger, das häufig als die "Versicherheitlichung" (securitization) bezeichnet wird, die treibende Kraft, sondern das Zusammenspiel zwischen den stetig wachsenden Sicherheitsbedürfnissen liberaler Gesellschaften und den bereitwillig gegebenen Sicherheitsversprechen der Staaten. Die Pointe ist, dass der Staat gleichsam zum Opfer seines eigenen Erfolgs wird. Denn in dem Maße, in dem der Staat für elementare Sicherheit sorgt, entwickelt die Gesellschaft weitergehende Sicherheitsbedürfnisse. Obwohl der Staat immer weniger in der Lage ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen, kann er sie nicht zurückweisen, ohne seine Legitimationsgrundlage - die Gewährleistung von Sicherheit - zu unterminieren. Schon Wilhelm von Humboldt hat auf diesen latenten Widerspruch hingewiesen, als er 1792 schrieb: "Diejenigen, deren Sicherheit erhalten werden muss, sind auf der einen Seite alle Bürger in völliger Gleichheit, auf der anderen der Staat selbst." Die These dieses Beitrags ist, dass unter den Bedingungen von Globalisierung und Denationalisierung dieser Widerspruch manifest wird und sich gegenwärtig dramatisch verschärft.

Der Wandel der Sicherheitskultur lässt sich anhand der graduellen Erweiterung des Sicherheitsbegriffs in den vergangenen fünfzig Jahren darstellen. Dabei lassen sich vier Dimensionen unterscheiden. Die erste Dimension betrifft das Referenzobjekt, also die Frage, wessen Sicherheit gewährleistet werden soll. Die zweite Dimension ist die Sachdimension, also die Frage, in welchem Problembereich der Politik Sicherheitsgefahren festgestellt werden. Die dritte Dimension betrifft die Raumdimension, mithin die Frage, für welches geografische Gebiet Sicherheit angestrebt wird. Die vierte Dimension betrifft schließlich die Gefahrendimension, also die Frage, wie das Problem konzeptualisiert wird, auf das Sicherheitspolitik antworten soll (vgl. Abbildung in der PDF-Version).

Von der nationalen zur menschlichen Sicherheit

Zunächst stellt sich die Frage, auf wen sich Sicherheitspolitik - sei es die eines Staates oder einer internationaler Organisation - eigentlich bezieht, oder besser: Wessen Sicherheit soll gewährleistet werden? Historisch ist der Sicherheitsbegriff eng mit der Konsolidierung des Staates als Akteur der internationalen Politik verbunden. In der frühen Neuzeit etablierte sich der Nationalstaat als Garantiemacht für die Sicherheit seiner Untertanen. Ohne eine weltpolitische Zentralmacht blieb die Sicherheit des Staates allerdings prekär. Sicherheit bedeutet deshalb in der Lesart des politischen Realismus der 1950er und 1960er Jahre vor allem die Sicherheit des Staates und die Verteidigung seiner Souveränität gegenüber anderen Staaten.

Diese Vorstellung blieb jedoch nicht unwidersprochen. Liberale Theoretiker wie John Locke betonten, dass der Staat vor allem ein Instrument sei, um die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten und das eigentliche Referenzobjekt folglich die Gesellschaft sein müsse. Gesellschaftliche Sicherheit (social security), wie liberale Theoretiker seit den frühen 1970er Jahren sie im Anschluss an Locke konzipiert haben, zielt demnach auf eine Situation, in der ein Kollektiv von Bürgerinnen und Bürgern in Frieden und Freiheit leben und Produktivität und Wohlstand entwickeln kann. Einen Schritt weiter geht das Konzept der "menschlichen Sicherheit" (human security), das seit den 1990er Jahren diskutiert wird. Hier ist nicht der Staat oder die Gesellschaft als Kollektiv das Referenzobjekt, sondern das menschliche Individuum. Berufen kann sich diese Konzeption der Sicherheit auf Immanuel Kant und einen Kosmopolitismus, der dem Individuum unbedingten Vorrang vor dem Kollektiv einräumt. Menschliche Sicherheit bedeutet deshalb nicht nur den Schutz der Menschen vor Krieg und Gewalt, sondern auch die Gewährleistung derjenigen Funktionen, die ein individuelles Leben in Freiheit und Würde ermöglichen. Mit diesem Perspektivwechsel geraten neue Gefahren für die Sicherheit in den Blick: Kriminalität, soziale Not, Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Migration, illegaler Drogen- und Waffenhandel und vieles mehr.

Trotz der erkennbar "guten Absicht", Sicherheitspolitik stärker in den Dienst menschlicher Bedürfnisse zu stellen, ist diese Erweiterung vielfach kritisiert worden. Der Begriff "menschliche Sicherheit" sei so vage, dass er kaum praktikabel sei und Entscheidungsträgern, die zwischen konkurrierenden politischen Zielen wählen müssten, keine Hilfestellung böte. Dass dieser Begriff trotzdem eine beispiellose Karriere insbesondere in den Vereinten Nationen (VN) gemacht hat und sich Länder wie Kanada, Norwegen und Japan der Verbreitung dieses Konzepts verschrieben haben, zeigt, dass es vor allem darum geht, gewandelten gesellschaftlichen Wertvorstellungen auch politischen Ausdruck zu verleihen. Die Konsequenz ist eine diffuse Forderung, nicht nur den zwischenstaatlichen Frieden zu erhalten, sondern darüber hinaus die Menschen vor den Folgen von Kriegen, Bürgerkriegen, Terroranschlägen und zerfallender Staatlichkeit, vor Naturkatastrophen, Hungersnöten und Krankheiten, vor den Folgen der Umweltzerstörung und Ressourcenknappheit zu schützen. Die Erweiterung der Referenzdimension führt also zu einer dramatischen Vermehrung der Adressaten von Sicherheitspolitik und einer umfassenden Fürsorgepflicht und Schutzverantwortung des Staates und internationaler Organisationen.

In welchem Maße sich diese Verantwortung in konkreten, rechtsverbindlichen Ansprüchen von Individuen völkerrechtlich niederschlagen wird, hängt von der Bereitschaft der sicherheitspolitischen Akteure ab, ihrer Rhetorik Taten folgen zu lassen. Allerdings hat das Völkerrecht in großen Teilen immer schon appellativen Charakter gehabt und gemeinsame Ziele und Werte mehr beschworen als durchgesetzt. Dennoch könnten die immer größeren politischen Versprechen menschlicher Sicherheit und die Deklaration umfassenderer individueller Schutzrechte im Völkerrecht dazu führen, dass die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu einer Legitimationskrise des internationalen Rechts wächst.

Von der militärischen zur ökologischen Sicherheit

Die Ausdehnung des Sicherheitsverständnisses vom Staat über die Gesellschaft auf das Individuum hat auch Auswirkungen auf die Politikbereiche, in denen Gefahren identifiziert und Sicherheit gewährleistet werden soll. Traditionell sind Sicherheitsprobleme als militärische wahrgenommen worden. Der Grund dafür ist, dass für den Staat lange Zeit die größte Gefahr ein militärischer Angriff und der Verlust politischer Selbstbestimmung war. Deshalb bedeutet nationale Sicherheit zunächst Schutz vor militärischen Bedrohungen. Dieser Gedanke setzte sich nicht zufällig mit dem Politischen Realismus zu Beginn des Kalten Kriegs durch, als es galt, die Konsequenzen aus dem Scheitern idealistischer Projekte wie dem Völkerbund und der Beschwichtigungspolitik gegenüber dem "Dritten Reich" zu ziehen. Angesichts des Sicherheitsdilemmas und struktureller Anarchie, so das realistische Credo, sei Machtpolitik das einzig wirksame Mittel und das höchste politische Gut militärische Sicherheit.

Diese Position wurde erst erschüttert, als - vor dem Hintergrund politischer Entspannung - in den 1970er Jahren neue Probleme wahrgenommen wurden. Die Ölkrisen der Jahre 1973 und 1979 machten den Menschen klar, dass ihr Wohlergehen nicht nur von militärischen Bedrohungen, sondern auch durch wirtschaftliche Verwundbarkeit gefährdet war. Der Sicherheitsbegriff wurde folglich erweitert und umfasste fortan auch den Zugang zu Öl oder anderen "strategischen Ressourcen".

Eine weitere Ausdehnung erfuhr der Sicherheitsbegriff durch die Einbeziehung ökologischer Aspekte. 1987 betonte der "Brundtland-Report", dass die Zerstörung der Umwelt dazu führe, "die Sicherheit im globalen Maßstab zu bedrohen". Seither werden unter dem Begriff "ökologische Sicherheit" (environmental security) Umweltprobleme als Sicherheitsprobleme diskutiert, auch wenn die empirischen Belege für einen direkten Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung und Gewaltkonflikten umstritten sind. Wieder schien es vor allem um die Symbolik zu gehen, um der Dringlichkeit der Umweltproblematik politischen Nachdruck zu verleihen.

Die jüngste Erweiterung erfuhr der Sicherheitsbegriffs jedoch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts durch die Forderung nach "humanitärer Sicherheit" (humanitarian security). Damit war nach der Militär-, Wirtschafts- und Umweltpolitik der letzte große Politikbereich - nämlich die Menschenrechtspolitik - in den Bannkreis des Sicherheitsbegriffs gezogen. Humanitäre Sicherheit bezieht sich nicht nur auf die Sicherung von Schutzzonen und Katastrophenhilfe in Krisenregionen, sondern auch auf die Gewährleistung elementarer Menschenrechte im Rahmen einer allgemeinen Schutzverantwortung (responsibility to protect) der internationalen Gemeinschaft. Dabei macht die Nähe zum Konzept der "humanitären Intervention" deutlich, wie leicht durch die begriffliche Verbindung von Menschenrechten und Sicherheit zumindest die Möglichkeit eröffnet wird, auch militärisch humanitär zu handeln oder sogar, wie es während des Irakkriegs hieß, "humanitäre Kriege" zu führen.

Die häufig geäußerte Befürchtung, dass mit der Erweiterung der Sachdimension zwar nicht-militärische Gefahren in das politische Bewusstsein gehoben werden könnten, aber die Möglichkeit bestehe, dass diese vom traditionellen Sicherheitsdenken gleichsam "kontaminiert" und in eine militärische Logik integriert würden, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings hat eine allgemeine "Militarisierung der Außenpolitik" bislang nicht stattgefunden. Tendenziell führt aber die Unterordnung von bislang getrennten Politikbereichen unter den Begriff "Sicherheit" zur Aufhebung traditioneller Unterscheidungen zwischen innerer und äußerer Sicherheit sowie zwischen militärischen und zivilen Sphären der Politik. Das wiederum hat Auswirkungen sowohl auf die institutionelle wie operative Umsetzung von Sicherheitspolitik (innenpolitisch wie außenpolitisch). Die immer wieder aufflammende Diskussion darüber, ob angesichts drohender Terrorgefahren die Bundeswehr auch im Inneren der Bundesrepublik eingesetzt werden dürfe, wird durch die Entdifferenzierung des Sicherheitsbegriffs begünstigt. Zwar liegt die Hilfe von Bundeswehrsoldaten zum Beispiel bei Überschwemmungen wie im April 2006 an der Elbe nahe und erfreut sich großer Beliebtheit. Aber der Einsatz des Militärs bei Großdemonstrationen oder zum Schutz sensibler ziviler Infrastruktur wirft verfassungsrechtliche Fragen auf und würde eine Änderung des Grundgesetzes erfordern.

Auch in der operativen Umsetzung wie etwa in Friedenseinsätzen führt die Vermischung ziviler und militärischer Komponenten zu Schwierigkeiten. Die Übernahme von polizeilichen Aufgaben durch militärische Einheiten der KFOR in Kosovo oder von ISAF in Afghanistan unterminiert die Bemühungen, im Rahmen der Sicherheitssektorreform die Trennung von Polizei und Militär sowie ihre politische Kontrolle in diesen Ländern verfassungsrechtlich zu verankern. Zudem widerspricht es den expliziten Forderungen der so genannten Brahimi-Kommission, die im Jahre 2000 eine klarere Trennung von zivilen und militärischen Aspekten bei internationalen Friedenseinsätzen gefordert hatte.

Von der territorialen zur globalen Sicherheit

Eine dritte Erweiterung des Sicherheitsbegriffs betrifft das geografische Gebiet, für das Sicherheit gewährleistet werden soll, also die Raumdimension. Traditionell bezieht sich Sicherheit auf das nationale Territorium eines Staates. Vertreter des Politischen Realismus betonen, es sei unsinnig nach Sicherheit jenseits des Nationalstaates zu streben, weil es keine Möglichkeit gäbe, globale Probleme auch global zu lösen. In ihrem Verständnis bezieht sich Sicherheit deshalb vor allem auf das eigene Staatsgebiet. Diese Beschränkung wird allerdings schon dann problematisch, wenn sich mehrere Staaten zusammentun, um ihre Sicherheit gemeinsam in einem Bündnis zu gewährleisten. Als die NATO 1949 gegründet wurde, entstand eine Sicherheitsgemeinschaft, der es nicht nur um territoriale Verteidigung, sondern um die regionale Sicherheit des euro-atlantischen Raumes ging - intern und gegenüber einer äußeren Bedrohung. Der Begriff "internationale Sicherheit" geht über diese Begrenzung hinaus und bezieht sich auf zwischenstaatliche Kooperationsanstrengungen mit dem Ziel internationaler Stabilität. Er setzt sich von realistischen Annahmen insofern ab, als er die Möglichkeit der Kooperation konkurrierender Staaten auch ohne die Existenz eines übergeordneten Rahmens annimmt, der die Staaten zur Einhaltung ihrer Kooperationsversprechen zwingen würde. Es geht also nicht länger um die Maximierung der nationalen Sicherheit, sondern um die Herstellung eines internationalen Umfeldes, in dem alle Staaten ein vernünftiges Maß an Sicherheit genießen.

Der Begriff der "globalen Sicherheit" geht auch hier noch einen Schritt weiter. Er bezieht sich nicht länger auf das Staatensystem und die Möglichkeit einer internationalen Staatengesellschaft (international society), sondern auf die Menschheit als Ganzes und die Aussicht auf eine globale Weltgesellschaft (world society) freier Individuen. Insofern ist er eng mit den Begriffen der menschlichen und humanitären Sicherheit verknüpft und unterstreicht, dass das Recht auf menschenwürdige Lebensverhältnisse nicht nur für die Menschen in unserer Nähe, sondern prinzipiell für alle Menschen auf der Welt gilt.

Wenn man das Konzept der globalen Sicherheit ernst nimmt, dann stellt sich die Frage, wer für ihre Gewährleistung verantwortlich ist. Nationale Sicherheit wird vom Nationalstaat garantiert; für regionale Sicherheit zeichnen Regionalorganisationen verantwortlich (seien es Unterorganisationen der VN im Sinne von Kapitel VIII der VN-Charta, Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union (AU), Allianzen zur kollektiven Verteidigung wie die NATO oder regionale Dialogforen wie die ASEAN); internationale Sicherheit ist das Ziel internationaler Organisationen und internationaler Regime; aber globale Sicherheit, so scheint es, hat noch keinen institutionellen Träger gefunden. Zwar liegt es nahe die VN für globale Sicherheit zuständig zu halten, zumal der Begriff auch in ihrem Rahmen propagiert worden ist. Doch sind ihre Ressourcen bekanntermaßen begrenzt, so dass Anspruch und Wirklichkeit deutlich auseinander klaffen.

Der Effekt, der dabei auftritt, kann als Verantwortungsdiffusion beschrieben werden, ein Phänomen, das in der Organisationssoziologie mit Kompetenzüberschneidungen und der Inkongruenz von Rolle und Aufgabe einer Organisation erklärt wird. Dabei kommt es trotz einer im Prinzip hinreichenden Zahl zuständiger Akteure zu Situationen, in denen offensichtlich notwendige Aufgaben und Verantwortlichkeiten nicht wahrgenommen werden. So könnte man die lange Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft angesichts der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien auf den so genannten bystander effect zurückführen, der nicht nur in der interinstitutionellen Konkurrenz zwischen VN, NATO, OSZE und EU, sondern auch dem Missverhältnis von institutioneller Kompetenzbehauptung und Verantwortungsübernahme begründet lag. In dem Maße, in dem sich viele Akteure "im Prinzip" zuständig fühlen, steigt auch die Neigung, kostspielige Entscheidungen auf andere abzuwälzen.

Einen solchen Effekt kann man auch bei internationalen Friedenseinsätzen nachweisen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts war die Zahl der VN-Friedenseinsätze zunächst schlagartig gestiegen. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich die informelle Natur des peacekeeping als flexibel genug erwies, um an die neuen Bedingungen angepasst zu werden. Relativ schnell wurde jedoch deutlich, dass die VN aus finanziellen und organisatorischen Gründen nicht in der Lage sein würde, immer mehr und immer umfangreichere Friedensmissionen durchzuführen. Aus diesem Grund sollten zunehmend Regionalorganisationen in die Verantwortung genommen und in die Lage versetzt werden, Friedensmissionen selbstständig durchzuführen und in einem kosmopolitischen Sinne die Human-security-Agenda der VN zu stärken. Der Erfolg dieser Regionalisierung des peacekeeping ist jedoch zwiespältig. Einerseits ist die Krisenreaktionsfähigkeit einiger Regionalorganisationen gestärkt worden. Andererseits ist die Bereitschaft, diese Fähigkeiten konstruktiv einzusetzen kaum gewachsen, weil institutionelle Zuständigkeiten und geografische Verantwortlichkeiten ungeklärt blieben, wie etwa das Nichteingreifen der ASEAN in Ost-Timor zeigte. Theoretisch böte das Konzept der Subsidiarität hier ein Mittel, die Verantwortlichkeiten räumlich zu differenzieren. Doch solange das Verhältnis von nationaler, regionaler, internationaler und globaler Sicherheit nicht interinstitutionell geklärt ist, droht das Konzept "globaler Sicherheit" an einer institutionalisierten Verantwortungslosigkeit zu scheitern.

Von der Bedrohungsabwehr zur Risikovorsorge

Die vierte und vielleicht folgenreichste Dimension der Ausdehnung des Sicherheitsbegriffs betrifft die Art und Weise, wie Gefahr verstanden und Unsicherheit konzeptualisiert wird. Traditionell werden Sicherheitsprobleme als Bedrohungen wahrgenommen und auf der Grundlage relativ sicheren Wissens über feindliche Akteure, ihre Absichten und ihre Militärpotenziale eingeschätzt. So war es paradigmatisch während des Kalten Kriegs, als sich Ost und West bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden. Dieses Konzept von (Un-)Sicherheit wurde allerdings problematisch, als in den 1970er Jahren diffusere Gefahren für das Wohlergehen der Gesellschaften wahrgenommen wurden. In Zeiten wachsender gesellschaftlicher und ökonomischer Interdependenz musste man feststellen, dass ernsthafte Gefahren nicht notwendigerweise feindliche Akteure und militärische Kapazitäten voraussetzen. Unsicherheit musste dementsprechend anders konzeptionalisiert werden, zum Beispiel als "Verwundbarkeit" gegenber externen Effekten (externalities), was immer ihre Ursachen sein mochten. Damit erweiterte sich der Fokus der Sicherheitsdebatte über die Bekämpfung der Stärken des Gegners hinaus auf die Reduzierung der eigenen vermeintlichen Schwächen.

Ein weiterer Schritt zur Ausweitung des Gefahrenspektrums - und folglich des Sicherheitsbegriffs - ist die Bezeichnung von Sicherheitsproblemen als "Risiken" nach dem Ende des Kalten Kriegs. Die klare und gegenwärtige Bedrohung eines sowjetischen Angriffs ist unklaren und zukünftigen "Risiken und Herausforderungen" gewichen. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, transnationaler Terrorismus, organisierte Kriminalität, Umweltzerstörung und viele andere Probleme werden als nationale, internationale und globale Sicherheitsrisiken diskutiert. Was sie eint, ist ihre relative Unbestimmtheit.

Warum ist dieser Begriffswandel so bedeutsam? Weil mit ihm existenzielle Gefahren in den Blick geraten, die noch gar keine sind, die aber die Möglichkeit haben, welche zu werden. Mit dieser ultimativen Ausdehnung des Unsicherheitsverständnisses auf Ungewisses (uncertainties) verändern sich die Anforderungen an die Sicherheitspolitik abermals. Denn wenn Sicherheitspolitik Risiken begegnen soll, kann sie nicht länger reaktiv bleiben wie während des Kalten Kriegs, sondern muss proaktiv werden und Gefahren identifizieren, bevor sie sich zu Bedrohungen auswachsen.

Proaktive Sicherheitspolitik kann sich dabei entweder auf die Ursachen oder die Effekte von Risiken richten, also vorbeugend oder vorsorgend sein. Vorbeugende - oder präventive - Sicherheitspolitik zielt darauf, dass ein ungewisser Schaden nicht eintritt. Vorsorgende - präkautive - Sicherheitspolitik ist demgegenüber darauf gerichtet, die Auswirkungen des Schadens zu minimieren, falls sich der Schadensfall nicht verhindern lässt. Vorbeugende und vorsorgende Sicherheitspolitik können wiederum mit diplomatischen Mitteln oder mit militärischem Zwang betrieben werden und so ergeben sich vier idealtypische Strategien proaktiver Sicherheits- oder besser: Risikopolitik.

Hier ist nicht der Ort, auf die Möglichkeiten und Grenzen proaktiver Sicherheitspolitik einzugehen. Wichtig ist aber zu betonen, dass mit der Wendung zum Risiko nicht nur der vorläufige Höhepunkt der Erweiterung des Sicherheitsbegriffs erreicht ist, sondern sich auch die liberale Definition von Sicherheit im politischen Diskurs endgültig durchgesetzt hat. Denn Risiken beziehen sich nicht nur wie Bedrohungen auf territorialstaatlich begrenzte Räume oder wie Verwundbarkeit auf kollektive Güter, sondern auf die natürlichen und gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge, in die jedes Individuum existenziell eingebunden ist. Insofern gipfelt hier die säkulare Dissoziation von Staat und Gesellschaft in einem Sicherheitsverständnis, das konzeptionell denationalisiert und ideell globalisiert ist.

Die Erweiterung des Sicherheitsverständnisses auf die Reduzierung internationaler Risiken erfordert eine Politik, die aktiver und offensiver ist als eine Politik, die auf Sicherheitsbedrohungen antwortet und eine, die über die Reduzierung eigener Verwundbarkeit hinausgeht und die Ursachen der Gefahr angreift. Ein gutes Beispiel dafür ist die Antiterrorstrategie der USA. Um das Risiko des Terrorismus - insbesondere des Nuklearterrorismus - zu reduzieren, ist eine proaktive Sicherheitspolitik entwickelt worden, die diplomatische Präventivmaßnahmen ebenso vorsieht wie präventive Kriegführung. In der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2002 hieß es programmatisch: "Die Vereinigten Staaten haben sich seit langem die Option präemptiver Aktionen offen gehalten, um gegen eine hinlängliche Bedrohung vorzugehen. Je größer die Bedrohung, desto größer ist das Risiko der Untätigkeit - und desto zwingender die Notwendigkeit, antizipatorische Maßnahmen zu unserer Verteidigung zu ergreifen, selbst wenn eine Ungewissheit hinsichtlich der Zeit und des Orts des gegnerischen Angriffs bestehen bleibt. Um solche feindlichen Akte durch unsere Gegner zu verhindern oder ihnen zuvorzukommen, werden die Vereinigten Staaten, wenn notwendig, präemptiv handeln". Der Irakkrieg 2003 war in diesem Sinne ein angekündigter Krieg, nur dass es sich nicht um einen präemptiven, sondern um einen präventiven Krieg handelte.

Und genau hier liegt die Problematik proaktiver Sicherheitspolitik, die dadurch, dass sie früher zu einem Eingreifen gezwungen ist als reaktive, die normativen Grundlagen traditioneller Sicherheitspolitik verlässt - national wie international. Denn eine Politik, die auf Risiken fokussiert und vom Abwehr- zum Präventionsparadigma übergeht, erfordert neue politische und rechtliche Rahmenbedingungen mit denen traditionelle Rechte außer Kraft gesetzt werden. Innenpolitische Grundrechte sind zunächst als Freiheits- und Abwehrrechte gegenüber dem Staat konzipiert. Mit dem Übergang zum Präventionsparadigma, so plausibel es zunächst klingt, werden diese Grundrechte jedoch zur Rechtfertigung für das vorbeugende und vorsorgliche Eingreifen auch in bürgerliche Freiheitsrechte. Damit werden Grundfreiheiten und Abwehrrechte gegenüber dem Staat "in primäre Schutzpflichten des Staates und damit in Eingriffsermächtigungen umgedeutet". Die feine Grenze zwischen Rechtsstaat und Präventionsstaat werde überschritten: "Beide gehorchen den Regeln jeweils spezifischer Funktionslogiken, jener denen der Freiheit und der Autonomie, dieser denen der Sicherheitsmaximierung und der instrumentellen Effizienz." Diese Präventionspolitik gegen Individuen findet ihre Entsprechung auf internationaler Ebene im Sicherheitsrat, der mit dem Counter-Terrorism-Committe (CTC) ein Instrument geschaffen hat, das gezielte Sanktionen gegen Individuen aussprechen kann. Das Al-Qaeda/Taliban Sanctions Committee (1267-Ausschuss) hat in diesem Rahmen Finanzmittel von Personen, die Al-Qaida oder der Taliban nahestehen, eingefroren, ohne dass gegen diese Entscheidung Rechtsmittel eingelegt werden könnten. Diese gezielten Sanktionen richten sich folglich nicht mehr gegen Staaten, sondern gegen Individuen und drohen daher, grundlegende Menschenrechte zu unterlaufen, sofern keine Überprüfung und rechtliche Kontrollen vorgesehen sind.

Schließlich wird das Argument, dass zur Vorbeugung vor Risiken traditionelle Freiheitsrechte kontraproduktiv sind, auch in der internationalen Politik verwendet. Angesichts asymmetrischer Kriegführung und des Risikos, dass transnationale Terrororganisationen in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen könnten, sei das bestehende Völkerrecht geradezu dysfunktional. Traditionelle Souveränitätsrechte dürften nicht dazu führen, dass sich Risiken - schon gar nicht die Risiken des Nuklearterrorismus - potenzierten. Unter bestimmten Bedingungen könnte es deshalb notwendig sein, die strikten Grenzen des Völkerrechts zu lockern und den antizipatorischen Gebrauch militärischer Gewalt zu gestatten. Unter der Maßgabe sicherheitspolitischer Risikovorsorge wäre also eine präventive Interventionspolitik nicht nur gestattet, sondern geradezu geboten.

Ansprüche und Ressourcen demokratischer Sicherheitspolitik

Das Argument dieses Beitrags ist nicht, dass es nicht neue, ernstzunehmende Gefahren gäbe, auf welche die Sicherheitspolitik reagieren muss; es ist auch nicht, dass sich die Sicherheitspolitik auf die traditionellen Aufgaben militärischer Verteidigung zurückziehen sollte. Das Argument ist vielmehr, dass die Wahrnehmung dessen, was als Gefahr angesehen wird, von einem sich stetig verstärkenden Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft und dem sich beständig ausweitenden Sicherheitsversprechen des Staates geprägt wird. Daraus ergibt sich ein Wandel der Sicherheitskultur, der sich an der sukzessiven Erweiterung des Sicherheitsbegriffs ablesen lässt. Noch sind die Mechanismen dieses Wandels nicht genau erforscht, aber schon jetzt lässt sich zeigen, dass der Wandel der Sicherheitskultur nicht nur zu institutionellen Veränderungen und rechtlichen Verwerfungen in der Sicherheitspolitik führt, sondern generell staatliche Sicherheitsorgane und internationale Sicherheitsinstitutionen zu überfordern beginnt. Wie zukünftig Ansprüche und Ressourcen der Sicherheitspolitik in ein vertretbares Verhältnis gesetzt werden können, ist eine der großen Zukunftsfragen der Sicherheitsforschung und einer demokratischen Sicherheitspolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Thorsten Büttner/Babette Fahlbruch/Bernhard Wilpert, Sicherheitskultur. Konzepte und Analysemethoden, Kröning 2007.

  2. Vgl. Jack Snyder, The Soviet Strategic Culture: Implementation for Nuclear Options, Santa Monica 1973.

  3. Vgl. Peter Katzenstein (ed.), The Culture of National Security: Norms and Identity in World Politics, New York 1996.

  4. Vgl. Barry Buzan/Ole Weaver/Jaap de Wilde, Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998.

  5. Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen [1792], Stuttgart 1967, S. 118.

  6. Vgl. Hans J. Morgenthau, In Defense of the National Interest, New York 1952.

  7. Vgl. Ole Weaver, Societal Security: The Concept, in: ders. et al. (eds.), Identity, Migration and the New Security Agenda in Europe, London 1993, S. 17-40.

  8. Vgl. Roland Paris, Human Security: Paradigm Shift or Hot Air, in: International Security, 26 (2001) 2, S. 87-102.

  9. Vgl. Martti Koskenniemi, What Is International Law For?, in: Malcom D. Evans (ed.), International Law, Oxford 2006, S. 57-82.

  10. Vgl. Kenneth Waltz, Theory of International Politics, New York 1979, S. 126.

  11. Vgl. Joseph S. Nye, Energy Security Strategy, in: Samuel P. Huntington (ed.), The Strategic Imperative, Cambridge 1982, S. 301-329.

  12. World Commission on Environment and Development, Our Common Future, S. 19, online: http://worldinbalance.net/pdf/1987-brundtland.pdf (22.11.2010).

  13. Vgl. Niels Petter Gleditsch, Armed Conflict and The Environment: A Critique of the Literature, in: Journal of Peace Research, 35 (1998), S. 381-400.

  14. Vgl. Susan L. Woodward, Humanitarian War: A New Consensus?, in: Disasters, 25 (2001) 4, S. 331-344.

  15. Vgl. Cornelius Friesendorf, Gefährliche Gemengelage: Polizei, Militär und Probleme der Sicherheitssektorreform in Afghanistan, HSFK-Standpunkt, Nr. 4/2009, Frankfurt/M. 2009.

  16. Vgl. K. Waltz (Anm. 10), S. 44.

  17. Vgl. Helga Haftendorn/Robert Keohane/Celeste Wallander (eds.), Imperfect Unions. Security Institutions over Time and Space, Oxford 1999.

  18. Vgl. Tom Woodhouse/Oliver Ramsbotham, Cosmopolitan Peacekeeping and the Globalization of Security, in: International Peacekeeping, 12 (2005) 2, S. 139-156.

  19. Vgl. Christopher Daase/Susanne Feske/Ingo Peters (Hrsg.), Internationale Risikopolitik, Baden-Baden 2002, S. 9-35.

  20. Vgl. Christopher Daase/Cornelius Friesendorf (eds.), The Unintended Consequences of Security Governance, London 2010.

  21. The National Security Strategy of the United States of America, Washington DC 2002, S. 15.

  22. Erhard Denninger, Prävention und Freiheit. Von der Ordnung der Freiheit, in: Stefan Huster/Karsten Rudolf (Hrsg.), Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, Frankfurt/M. 2008, S. 95.

  23. Ders., Freiheit durch Sicherheit? Anmerkungen zum Terrorismusbekämpfungsgesetz, in: APuZ, (2002) 10-11, S. 23.

  24. Vgl. Herfried Münkler, Asymmetrie und Kriegsvölkerrecht, in: Die Friedens-Warte, 81 (2006) 2, S. 59-65.

  25. Vgl. ausführlich Michael Doyle, Striking First. Preemption and Prevention in International Conflict, Princeton 2008.

  26. Dieser Frage ist ein Forschungsprojekt an der Goethe-Universität Frankfurt gewidmet, online www.sicherheitskultur.org (22.11.2010).

Dr. phil., geb. 1962; Leiter des Programmbereichs "Internationale Organisationen und Völkerrecht" der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Professor für Internationale Organisationen an der Goethe-Universität Frankfurt/M. im Rahmen des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen"; Senckenberganlage 31, 60325 Frankfurt/M. E-Mail Link: daase@normativeorders.net