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Das neue strategische Konzept der NATO

Johannes Varwick

/ 16 Minuten zu lesen

Nach intensiven Richtungsdebatten liegt nun eine Blaupause für die NATO vor. Ob diese Blaupause trägt, hängt aber weniger vom Text, sondern mehr vom Willen der Mitgliedstaaten ab, sich aktiv an der Umsetzung der Beschlüsse zu beteiligen.

Einleitung

Die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedstaaten der NATO haben auf ihrem Gipfeltreffen am 19. und 20. November in Lissabon ein neues strategisches Konzept beschlossen. Nach langen Vorarbeiten und intensiven Richtungsdebatten liegt eine Blaupause für die NATO des nächsten Jahrzehnts vor. Ob diese trägt, hängt aber weniger von dem Text, sondern mehr von dem Willen der Mitgliedstaaten ab, sich den erzielten Konsens zu Eigen zu machen und sich aktiv an der Umsetzung zu beteiligen. Der folgende Beitrag stellt das neue Konzept in den Kontext der bisherigen Strategieentwicklung der NATO, fragt nach den Debatten sowie den unterschiedlichen Ansätzen und Interessen der Mitgliedstaaten im Vorfeld des Lissabonner Gipfels, analysiert das neue Konzept und diskutiert schließlich, ob die NATO damit den künftigen Herausforderungen begegnen und ein relevanter sicherheitspolitischer Akteur bleiben kann.

Entwicklung der NATO-Strategie

Das strategische Konzept der NATO ist nicht ein Papier unter vielen, sondern spiegelt den zentralen gemeinsamen Sicherheitsansatz der derzeit 28 Mitgliedstaaten wider. Die jeweils gültige Strategie bildet die Basis für die Entwicklung der Verteidigungspolitik, des operationellen Konzepts, der Struktur der Streitkräfte und der kollektiven Verteidigungsplanung der Allianz. Aus ihr ist folglich die politische und militärpolitische Grundrichtung des Bündnisses abzulesen. Da jede Strategie einstimmig vom NATO-Rat beschlossen werden muss, haben auch kleinere Mitgliedstaaten formal Mitspracherecht bei der Ausformulierung, wenngleich die mächtigen Staaten - und hier insbesondere die USA - sicherlich faktisch eine dominante Rolle spielen.

Die Bewertung der jeweiligen NATO-Strategie ist gleichwohl ein schwieriges Unterfangen. Die erste öffentlich zugängliche Strategie der 1949 gegründeten Allianz war das strategische Konzept aus dem Jahr 1991. Allerdings unterliegen die - für die richtige Interpretation zentralen - detaillierten militärpolitischen Vorgaben stets der Geheimhaltung. In unregelmäßigen Abständen werden so genannte Ministerrichtlinien verabschiedet, die detaillierte, öffentlich nicht zugängliche Weisungen vor allem für die Streitkräfteplanung enthalten. Oftmals gibt es zudem nichtöffentliche Anlagen zu dem offiziellen Dokument, die strategische und operative Aspekte enthalten.

Die erste offizielle NATO-Strategie datierte vom 19. Oktober 1949. Ihre konzeptionellen Vorstellungen orientierten sich an der amerikanischen Globalstrategie des Containments und der Vorneverteidigung auf konventioneller Basis, das heißt einem Angriff der Sowjetunion auf das Bündnisgebiet sollte so weit östlich wie möglich mit nicht-nuklearen Streitkräften begegnet werden. Allerdings war fraglich, wie genau auf eine Aggression zu reagieren war, weil die Europäer in einer ersten Kriegsphase wesentlich auf sich allein gestellt gewesen wären. Westeuropa verfügte kaum über genügend Präsenztruppen, so dass allenfalls so lange Widerstand geleistet werden konnte, bis die Verstärkungen aus den USA und Kanada eintrafen. Seit 1957 praktizierte die Allianz daher die Strategie der massiven Vergeltung (massive retaliation). Sie ging von der Existenz eines strategisch unverwundbaren - amerikanischen - NATO-Nuklearpotenzials aus, das den potenziellen Gegner (die Sowjetunion und ihre Verbündeten) abschrecken sollte. Sollte dies scheitern, würde der Schwerpunkt der asymmetrischen Antworten aber nicht mehr auf der Verteidigung des Territoriums, sondern bei der sofort eingeleiteten atomaren Gegenoffensive liegen. In den operativen Planungen der NATO wurde also von der Absicht des Einsatzes von Atomwaffen mit der Folge ausgegangen, dass die Schwelle vom konventionellen zum nuklearen Krieg frühzeitig hätte überschritten werden können. Die konventionellen Streitkräfte hatten lediglich die Aufgabe, lokale Übergriffe abzuwehren und größere Angriffe für eine begrenzte Zeit zu verzögern. Sie sollten die Schildfunktion der NATO wahrnehmen, während das amerikanische strategische Potenzial als "nukleares Schwert" verwendet werden sollte.

Neben der Fundamentalkritik von Atomwaffengegnern geriet die Strategie der massiven Vergeltung auch von anderen Seiten in die Kritik. Der Abschreckung liegt das Dilemma zugrunde, dass ex ante die Wirkung dann am größten ist, wenn dem Gegner auch im Falle eines begrenzten Angriffes glaubwürdig ein vernichtender Gegenschlag angedroht wird. Ex post, also im Falle eines tatsächlichen Angriffes, ist ein massiver Gegenschlag jedoch irrational, da durch ihn kein vernünftiges politisches Ziel mehr erreicht werden kann und ein weiterer Schlag gegen die eigene Bevölkerung provoziert würde.

Angesichts des Verlustes des amerikanischen Kernwaffenmonopols Anfang der 1960er Jahre waren nukleare Drohungen zur Abschreckung begrenzter Aggressionen zunehmend unglaubwürdig, weil ein Einsatz mit hoher Wahrscheinlichkeit eine nukleare Gegenreaktion hätte auslösen können. Die atomaren Potenziale neutralisierten sich in einem Gleichgewicht des Schreckens. Nachdem die Sowjetunion in der strategischen Waffenentwicklung einen annähernden Gleichstand erreicht hatte, änderten die Amerikaner 1962 ihre Planungen in die Strategie der flexiblen Reaktion (flexible response), die im Januar 1968 offiziell von der NATO übernommen wurde. Insbesondere die USA erwarteten hiervon größeren strategischen Handlungsspielraum, weil sie nicht mehr auf die Option eines Atomkrieges festgelegt waren.

Die Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa, der strategische Rückzug der Sowjetunion aus diesem Gebiet sowie ihre Auflösung im Dezember 1991, die Erfolge im Abrüstungsprozess und der Beginn eines neuen Zeitalters in Europa hatten die bis 1990 gültige Strategie der NATO obsolet werden lassen und zu einer drastischen Veränderung geführt. Auf dem Gipfel der 16 Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitglieder am 7. und 8. November 1991 in Rom wurde das "Strategische Konzept des Bündnisses" verabschiedet. Angesichts der weitreichenden Veränderungen in der europäischen Sicherheitsarchitektur wie auch in der NATO selbst wurde im Verlauf der 1990er Jahre deutlich, dass das Konzept endgültig vom Ballast des Ost-West-Konflikts befreit werden musste. Im Sommer 1997 gaben die Staats- und Regierungschefs der damals 16 Mitgliedstaaten den Auftrag für die Formulierung eines neuen Konzeptes, das nach intensiven Auseinandersetzungen auf dem Gipfeltreffen aus Anlass des 50-jährigen Bestehens am 24. und 25. April 1999 in Washington beschlossen wurde.

Das strategische Konzept vom April 1999 - zeitgleich führte die NATO Krieg gegen Jugoslawien - wurde schließlich zu einem Konsenspapier, in dem die neuen Aufgaben und Instrumente des Bündnisses in allgemeiner Form beschrieben wurden und damit durch ein hohes Maß an Flexibilität und Interpretierbarkeit gekennzeichnet waren. Die neue NATO sollte nach diesem Konzept größer, schlagkräftiger und flexibler werden. Ungeachtet der von der NATO konstatierten positiven Gesamtentwicklung in ihrem Umfeld sowie der Unwahrscheinlichkeit eines Angriffs gegen das Bündnis, so die Annahme, bestehe jedoch auch weiterhin die Möglichkeit, dass sich "eine Bedrohung längerfristig entwickelt". Die Sicherheit des Bündnisses bliebe "einem breiten Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken unterworfen, die aus vielen Richtungen kommen und oft schwer vorherzusagen sind. Zu diesen Risiken gehören Ungewissheit und Instabilität im und um den euro-atlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln können", wie es im Konzept von 1999 in Ziffer 20 heißt.

In diesem Zusammenhang wurde unter anderem auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Flüchtlingsströme infolge von bewaffneten Konflikten wie auch Risiken umfassender Natur wie etwa Terrorakte, Sabotage, organisiertes Verbrechen oder die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen verwiesen. Zur klassischen Kernfunktion der Bündnisverteidigung kam damit die Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum hinzu. In Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen wollte die NATO zudem "Konflikte verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, darunter auch durch die Möglichkeit von nicht unter Artikel 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen", wie es in Ziffer 31 des Konzeptes von 1999 heißt.

Obwohl zahlreiche Grundannahmen dieses Konzeptes weiterhin gültig sind, haben sich die strategischen Rahmenbedingungen für die NATO seitdem erheblich verändert. Die Bedrohung durch internationalen Terrorismus und fragile Staatlichkeit, weltweite Einsätze wie in Afghanistan und am Horn von Afrika, die Verschiebung von Mächtegleichgewichten, Energiesicherheit, Bedrohung der Handelswege und das Risiko von Cyberangriffen, aber auch die Erweiterung auf 28 Mitgliedstaaten stellen die Allianz vor die Notwendigkeit der Strategieanpassung. Zumal sich Schwierigkeiten der NATO offenbart haben, einen Konsens über die wichtigsten strategischen Fragen herzustellen. Für ein Bündnis von demokratischen Staaten ist es zudem erforderlich, sich von Zeit zu Zeit des erreichbaren Konsenses zu versichern und diesen in den nationalen Öffentlichkeiten zur Diskussion zu stellen.

Weg zu einem neuen Konzept

Der Wandel der NATO zu einem Bündnis im Dauereinsatz gegen nicht von allen Alliierten als gleichermaßen existenziell wahrgenommene Risiken und Bedrohungen hatte das Bündnis in den vergangenen Jahren oftmals zu einem Spielball zunehmend divergierender Interessen der Mitgliedstaaten werden lassen. Das Bündnis zerfaserte zusehends in Fraktionen mit teils sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Rolle und Aufgaben der Organisation.

Identifiziert werden kann dabei ein Lager, das die NATO grundlegend in Richtung eines global agierenden Ordnungsfaktors reformieren will. Diese Reformer wurden von den USA angeführt. Dagegen steht eine Gruppe von Staaten, die status-quo-orientiert waren und große Veränderungen ablehnten wie Deutschland und Frankreich. Die osteuropäischen Staaten schließlich wünschten sich gerade nach dem russisch-georgischen Konflikt im Spätsommer 2008 eine Rückbesinnung der Allianz auf die klassische Territorialverteidigung nach Artikel fünf des Nordatlantikvertrags.

Diese sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und Prioritätensetzungen der Mitgliedstaaten gaben bereits früh einen Vorgeschmack auf die Notwendigkeit, Kompromisse zwischen unterschiedlichen Positionen zu finden. Es war und ist dabei eine offene Frage, ob sich die Allianz eher dazu entschließen sollte, Konflikte durch unverbindliche und blumige Kompromissformeln zu überdecken, oder aber in der Sache entscheidet. Auch diese Wahl zwischen Überdecken und Entscheidung ist nicht neu. Denn traditionell finden sich in allen NATO-Strategiedokumenten Kompromissformulierungen, die breiten Raum für Interpretationen bieten. Die inhaltliche Füllung dieser Kompromissformeln wird im Einzelfall immer wieder zu Konflikten zwischen den Mitgliedstaaten führen.

Bereits im November 2006 hatte die NATO auf ihrem Gipfelreffen in Riga ein Schlüsseldokument beschlossen, das als politische Richtungsvorgabe für die Transformation der NATO in den kommenden Jahren konzipiert wurde. Die so genannte umfassende politische Leitlinie (Comprehensive Political Guidance) gibt insbesondere die Prioritäten für alle fähigkeitsbezogenen Fragen, Planungsdisziplinen und das Nachrichtenwesen des Bündnisses vor. Mit diesem Papier waren bereits wichtige Leitplanken für die militärische Transformation der NATO vorgegeben. Diese beziehen sich aber - was bei einem Militärbündnis auch nicht überraschen sollte - vorwiegend auf die militärischen Fähigkeiten. Ein strategisches Konzept muss jedoch mehr leisten: eine Vision für die Allianz.

Daher beschlossen die Staats- und Regierungschefs der NATO auf ihrem Gipfeltreffen 2009, bis spätestens Ende 2010 ein neues Konzept zu erarbeiten. Diese Entscheidung war nicht unumstritten, denn einige Mitgliedstaaten wie Beobachter befürchteten, dass der NATO die Kraft zu einer konzeptionellen Neubestimmung fehlen würde und die Suche nach einem neuen Konsens allenfalls die Bruchstellen offen legen könne.

Streitpunkte zwischen den Mitgliedstaaten bestanden insbesondere in der Frage des Umgangs mit Russland, der Gewichtung von Territorialverteidigung und operativer Tätigkeit, der Bedeutung von Nuklearwaffen und Raketenabwehrsystemen, des Aktionsradius der Allianz, dem Stellenwert von neuen Themen wie Cyberangriffen, der Bedeutung und der Ausgestaltung von Partnerschaften zu anderen internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen (VN) und der Europäischen Union (EU) sowie zu Staaten außerhalb der NATO wie China, Südkorea oder Australien. Hinzu kam die Frage, ob die NATO über eigene Mechanismen und Instrumente verfügen soll, mit der sie "vernetze Sicherheit" gestalten kann.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen beanspruchte von Beginn an eine zentrale Rolle bei der Erarbeitung des neuen Konzeptes. Ihm schwebte ein Drei-Phasen-Ansatz vor:

  • Phase 1 sollte durch einen breiten öffentlichen und zivilgesellschaftlichen politischen Diskurs in den Mitgliedstaaten geprägt sein, auch unter Nutzung moderner Kommunikationsformen wie Internetforen.



  • In Phase 2 sollte sich eine Gruppe von Experten konstituieren, die - von den Regierungen ernannt und die Diskussionen aus Phase 1 aufgreifend - einen Entwurf für ein neues Konzept vorlegen sollte. Die nach ihrer Vorsitzenden, der ehemaligen US-amerikanischen Außenministerin, benannte "Albright-Gruppe" legte ihren Bericht am 17. Mai 2010 vor. Der NATO-Rat und die Regierungen der Mitgliedstaaten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme und Diskussion. Der Bericht sollte herausstellen "was die NATO für jeden einzelnen Alliierten tun könne und was jeder einzelne Alliierte für die NATO tun könne". 15 Themenbereiche werden besonders herausgehoben, dazu zählen die Bekräftigung der kollektiven Verteidigung als zentrale Aufgabe, Schutz gegen unkonventionelle Bedrohungen, Erfolgsbedingungen des Afghanistaneinsatzes, Entwicklung von Kriterien für Operationen außerhalb des Bündnisgebiets, Konsultationen zum Krisenmanagement, eine neue Ära von Partnerschaften, Mitwirkung an einem vernetzten Sicherheitsansatz, Einbindung Russlands, Offenhalten für weitere Beitritte, militärische Transformation, Nuklearwaffen, Raketenabwehr, Cyberattacken, interne Reformen und bessere Öffentlichkeitsarbeit. Daraus wird ein "doppelter Imperativ für die NATO" abgeleitet: "Garantierte Sicherheit für alle Mitgliedstaaten und dynamisches Engagement über das Bündnisgebiet hinaus, um Risiken zu minimieren".



  • In Phase 3 sollte der Generalsekretär die Diskussionen bündeln und einen Entwurf vorlegen. Dies geschah am 27. September 2010, als ein zehnseitiger Textentwurf an die Mitgliedstaaten übermittelt wurde. Dieser Textentwurf war nicht öffentlich zugänglich und selbst damit befasste Parlamentarier durften ihn nicht einsehen. Es wurde befürchtet, dass dies die komplizierte Suche nach Kompromissformulierungen zwischen den Regierungen hätte erschweren können. Nach einem so genannten "Jumbo-Gipfel" der Außen- und Verteidigungsminister Mitte Oktober 2010 in Brüssel und intensiven Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten auf der Ebene der zuständigen Ministerien und des NATO-Generalsekretariats waren die Arbeiten an dem Textentwurf so weit fortgeschritten, dass mit einer Einigung bis zum Gipfelreffen gerechnet werden konnte.

Zentrale Inhalte des neuen Konzepts

Im Vergleich zu den Konzepten von 1991 und 1999 ist das neue strategische Konzept deutlich kürzer und fokussierter. Es knüpft damit an den NATO-Vertrag vom August 1949 an, der mit 14 Artikeln in nicht mehr als 23 Sätzen ein Dokument von bemerkenswerter Klarheit war. Mit ihrer am 19. November 2010 in Lissabon unter dem Titel "Aktives Engagement, Moderne Verteidigung" beschlossenen neuen Strategie versucht die NATO sich effektiv mit neuen Fähigkeiten und neuen Partnern gegen neue Bedrohungen in einer sich wandelnden Welt einzustellen.

Als Kernaufgabe wird die Wahrung der Freiheit und der Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und militärischen Mitteln in den drei Bereichen kollektive Verteidigung (collective defence), Krisenmanagement (crisis management) und kooperative Sicherheit (cooperative security) genannt. Unter Bezug auf Artikel fünf des NATO-Vertrages wird erklärt, dass sich die NATO-Mitglieder einander beistehen und gegen eine Aggression oder gegen aufkommende Sicherheitsherausforderungen gemeinsam verteidigen, wenn diese die fundamentale Sicherheit einzelner Alliierter oder der Allianz als Ganzes berühren.

Auch wenn die Gefahr eines konventionellen Angriffs auf das NATO-Gebiet als gering eingeschätzt wird, halte das Sicherheitsumfeld eine Reihe von Herausforderungen bereit wie die Verbreitung ballistischer Raketen, von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen, Terrorismus einschließlich der Verfügungsgewalt von Terrorgruppen über nukleare, chemische, biologische oder radiologische Kapazitäten, Instabilitäten an den NATO-Grenzen, Angriffen auf die Informationstechnologie einzelner Staaten oder des Bündnisses. Zudem wird ausgeführt, dass alle Staaten in wachsendem Maße auf offene und zuverlässige Kommunikation, Transport und Transit angewiesen seien und der internationale Handel, Energiesicherheit und Wohlstand davon abhinge. Zu allen Bereichen wird zunächst eine kurze Problemanalyse vorangestellt und dann eine Reihe von konkreten Ansatzpunkten und Maßnahmen zur Bearbeitung dieser Probleme genannt.

Verteidigung und Abschreckung

- letztere basierend auf einer Mischung von nuklearen und konventionellen Fähigkeiten - seien dabei Kernelemente der Strategie. Es wird auch unmissverständlich formuliert, dass die NATO, so lange Nuklearwaffen existierten, eine nukleare Allianz bleibe. Sodann werden eine Reihe von Maßnahmen vorgestellt, die sicherstellen sollen, dass die NATO ein breites Spektrum an notwendigen Fähigkeiten zur Verfügung hat, um Bedrohungen der Sicherheit abzuschrecken und zu verteidigen wie die Fähigkeit zur Durchführung von Operationen mit robusten, mobilen und einsetzbaren Truppen sowie die Fähigkeit, dem vollen Spektrum an konventionellen und aufkommenden Sicherheitsrisiken mit Training, Planung und Informationsaustausch zu begegnen. Unter anderem wird dazu auch der Aufbau eines Raketenabwehrsystems, die Fähigkeit zur Verteidigung gegen chemische, biologische, radiologische, nukleare und Cyberangriffe sowie die Fähigkeit zur Terrorismusbekämpfung und dem Schutz von kritischer Energieinfrastruktur angekündigt.

Krisenmanagement.

Aus Krisen und Konflikten außerhalb des Bündnisgebiets könnten nach Einschätzung der NATO direkte Bedrohungen für die Sicherheit der Allianz resultieren. Daher werde sich die Allianz "wenn möglich und erforderlich engagieren, um Krisen zu verhüten und zu managen und um Postkonfliktsituationen zu stabilisieren und Wiederaufbau zu unterstützen". Auch zu diesem Zwecke werden zahlreiche Maßnahmen vorgestellt wie die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten zur Aufstandsbekämpfung und die stärkere Berücksichtigung ziviler Aspekte der Konfliktbearbeitung.

Dies war und ist in der NATO nicht unumstritten. Starke Stimmen befürworteten, dass die NATO zwar keine "Entwicklungshilfeorganisation" werden solle, aber eigene Schnittstellen schaffen müsse, um mit zivilen Akteuren besser zusammenzuarbeiten und notfalls auch eigene Instrumente vorhalten müsse, wenn in einem Krisenumfeld niemand anderes solche Fähigkeiten bereitstellt. Das Konzept formuliert zwar einige Punkte dazu, die jedoch sicher noch der genaueren Interpretation durch die Mitgliedstaaten bedürfen.

Kooperative Sicherheit.

Neben den Bereichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie dem Bekenntnis zur grundsätzlichen Bereitschaft zur Aufnahme neuer Mitglieder wird insbesondere dem Bereich Partnerschaften breiter Raum eingeräumt. Durch eine engere Zusammenarbeit mit der EU, den VN sowie Nichtregierungsorganisationen will die NATO einen vernetzten Sicherheitsansatz (comprehensive approach) fördern, der für die Bewältigung neuer Herausforderungen als unabdingbar betrachtet wird. Zudem findet sich ein Bekenntnis zur Partnerschaft mit Staaten aus aller Welt. Diese werden eingeladen, sich mit der NATO in Sicherheitsfragen abzusprechen und Einfluss auf die Operationen zu nehmen. Konkrete Staaten werden, mit einer Ausnahme, allerdings nicht genannt. Die Tatsache aber, dass inzwischen über 60 Staaten Kooperationsabkommen mit der NATO haben, zeigt die Bedeutung dieser Kooperationen - nicht zuletzt für die Operationen der NATO.

Besondere Erwähnung findet Russland, dem eine echte strategische Partnerschaft sowie die Kooperation bei Fragen des gemeinsamen Interesses wie etwa Raketenabwehr, Terrorismus-, Drogen- und Pirateriebekämpfung angeboten werden. Dies ist zwar auch nicht grundsätzlich neu, aber angesichts der Auseinandersetzungen im Vorfeld zu dieser Frage doch ein deutliches Signal für mehr Kooperation an Moskau. Neu ist zudem, dass eine gemeinsame Bedrohungsanalyse vorgenommen werden soll.

Beim Versuch, die Aussagen aus dem Text in die jahrelange Debatte um die Richtung des Bündnisses einzuordnen, ist festzuhalten, dass die Allianz die klassische Bündnisverteidigung keineswegs aufgibt, sich künftig aber verstärkt um neuere Bedrohungen kümmern will. Bereits vor längerer Zeit hat die NATO in ihrem Brüsseler Hauptquartier dazu eine "Abteilung für aufkommende Sicherheitsrisiken" eingerichtet, die aber mit deutlich unter 100 Personen eher eine Art "Denkfabrik" ist, als dass sie operative Aufgaben hat. Das neue Konzept hat mithin das, was die Allianz faktisch seit Längerem macht, kodifiziert und auf eine allseits akzeptierte Grundlage gestellt. Es spricht einiges dafür, dass dies sogar ein grundsätzlicher Trend des Bündnisses ist: zunehmend lockere Analyseplattform für eine breite Palette an sicherheitspolitischen Themen statt eindimensionales Militärbündnis zur operativen Gestaltung konkreter sicherheitspolitischer Szenarien. Man könnte diese neue NATO auch eine "Sowohl-als-auch-Allianz" nennen.

Denn die neuen Sicherheitsprobleme sind derart vielschichtig, dass eine automatische Reaktion der NATO wie im Falle einer Verletzung der territorialen Integrität des Bündnisgebietes nicht denkbar wäre. In dem neuen Konzept ist daher ausdrücklich und durchaus folgerichtig nicht mehr davon die Rede, dass die Abwehr gegen neue Bedrohungen - wie von etlichen Mitgliedstaaten im Vorfeld vertreten - unter den Artikel fünf des NATO-Vertrags fällt. Vielmehr heißt es deutlich: "Die NATO bleibt das einzigartige und notwendige Forum für Konsultationen in allen Fragen, die die territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit und Sicherheit der Mitglieder betrifft, wie in Artikel 4 des NATO-Vertrags festgelegt ist." Der Bezug zu Artikel vier zeigt aber an, dass der Verbindlichkeitsgrad nicht mit dem des Artikels fünf ("ein bewaffneter Angriff gegen einen wird als Angriff auf alle gesehen") vergleichbar ist.

"NATO 3.0"?

Alles in allem werden sich die hohen Erwartungen an das neue strategische Konzept in der politischen Praxis und das konkrete Handeln der Allianz kaum erfüllen lassen und keine eindeutigen Antworten auf die drängenden Zukunftsfragen bieten. Die konkrete Umsetzung der allgemeinen Richtungsentscheidungen dürfte dann auch in den kommenden Jahren zu anhaltenden Auseinandersetzungen und Interpretationsnuancen zwischen den Mitgliedstaaten führen.

Dies wird die Tatsache reflektieren, dass die "NATO 3.0" von einer hohen Komplexität als multipler Sicherheitsanbieter geprägt ist, die eine eindeutige Festlegung der strategischen Reichweite wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes unmöglich macht. Dies macht die Allianz in gewisser Weise noch stärker zur Projektionsfläche unterschiedlicher Erwartungen und Interessen seitens ihrer Mitglieder. Zugleich bedeutet es auch, dass die NATO künftig noch in viel stärkerem Maße von ihrem tatsächlichen Handeln (oder Nicht-Handeln) geprägt sein wird als von festgelegten, strategischen Leitlinien. Mit anderen Worten: Das Ergebnis des Afghanistan-Einsatzes und die Entscheidung oder auch Nicht-Entscheidung zu anderen konkreten Einsätzen wird weitaus prägender sein für die Zukunft des Bündnisses als das neue strategische Konzept.

Die künftige Strategiefähigkeit der Allianz hängt in erster Linie davon ab, inwieweit es auch in operativen Fragen gelingt, einen Konsens über die künftige Rolle der NATO in einer sich wandelnden internationalen Sicherheitsarchitektur herzustellen. Wichtig für die Relevanz der NATO wird künftig zudem in noch stärkerem Maße sein, dass ein realistischer Abgleich zwischen den sicherheitspolitischen Ambitionen in konkreten Einsätzen mit dem politischen (Durchhalte-)Willen zum Erfolg und den von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Fähigkeiten stattfindet. Die ebenfalls in dem Konzept angekündigte Reform der inneren Strukturen der Allianz kann hier einen Beitrag leisten - sie muss sich aber in der Praxis bewähren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Johannes Varwick, Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?, München 2008, S. 84-96.

  2. Im Falle des Lissabon-Konzeptes soll es ein mehrere hundert Seiten umfassendes Zusatzdokument geben, in welchem dargelegt wird, wie die NATO konkret auf terroristische, konventionelle, nukleare oder sonstige Bedrohungen reagiert. Vgl. Judy Dempsey, NATO Document Addresses Nuclear Disarmament, in: International Herald Tribune vom 30.9.2010.

  3. Vgl. Benjamin Schreer/Johannes Varwick, 60 Jahre NATO: Ein Bündnis im Wandel, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, (2009) 4, S. 403-412.

  4. Vgl. www.nato.int/docu/basictxt/b061129e.htm (15.10.2010).

  5. Vgl. Group of Experts on a New Strategic Concept for NATO, NATO 2020: Assured Security, Dynamic Engagement, Brüssel 2010.

  6. Ebd., S. 12.

  7. Dies ist unter demokratietheoretischen Aspekten überaus fragwürdig, zeigt aber, wie ausgeprägt die Exekutivdominanz bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen ist. Einzelne Passagen wurden gleichwohl der Presse zugespielt und auch der NATO-Generalsekretär skizzierte in öffentlichen Reden zentrale Bausteine.

  8. Vgl. Active Engagement, Modern Defence. Strategic Concept for the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation, Adopted by Heads of State and Government in Lisbon, online: www.nato.int/cps/en/natolive/
    official_texts_68580.htm (20.11.2010).

  9. Insbesondere Deutschland beziehungsweise das Auswärtige Amt hat sich an diesem Punkt nicht durchgesetzt. Dies mag auch daran liegen, dass sowohl im Verteidigungsministerium als auch im Kanzleramt eine Position vertreten wurde, die weiterhin auf die Bedeutung der nuklearen Komponente setzte. Andererseits wird an mehreren Stellen des Dokuments auf die Vision einer nuklearwaffenfreien Welt Bezug genommen.

  10. Strategisches Konzept (Anm. 8), Ziffer 20.

  11. Auch die Tatsache, dass der russische Präsident am Gipfeltreffen teilnahm, zeigt die neue Qualität der Beziehungen an. Wie weit diese neue Partnerschaft trägt und welche Projekte tatsächlich gemeinsam angegangen werden können, bleibt jedoch abzuwarten.

  12. Strategisches Konzept (Anm. 8), Ziffer 5.

Dr. phil., geb. 1968; Professor für Politikwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Regensburger Straße 160, 90478 Nürnberg. E-Mail Link: post@johannes-varwick.de