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Aus der Krise zum zweiten Wirtschaftswunder?

Karl Brenke

/ 16 Minuten zu lesen

Der deutsche Arbeitsmarkt hat die Wirtschaftskrise überraschend gut überstanden. Durch Arbeitszeitverkürzungen und Produktivitätsverringerungen gelang es vielfach, Personal zu halten und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Einleitung

So plötzlich, wie die jüngste Wirtschaftskrise kam, so unverhofft scheint sie auch wieder überwunden zu sein. Und gewiss nicht geringer als die Schwankungen im Wirtschaftsverlauf waren jene bei den Stimmungen: Wurde vor gerade einmal eineinhalb Jahren noch eine tiefe Depression erwartet, hat sich nunmehr Optimismus breit gemacht, und es ist von einem "zweiten Wunder" oder einem "Super Jobwunder" die Rede.

Wider alle Erwartungen: Krise und Aufschwung

All das lässt sich besonders plastisch anhand der in den Medien viel beachteten Konjunkturprognosen nachzeichnen. So hatte im Sommer 2008 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung noch erklärt, dass trotz deutlicher Abschwächung bei der Produktion von einer Krise wenig zu sehen sei und der Konjunkturaufschwung in eine Verlängerung gehen würde. Kurze Zeit später, nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers und den Kursstürzen auf den Aktienmärkten, hatte sich die Stimmung schon merklich eingetrübt, und man sprach von der Gefahr einer Rezession. Nach der Gemeinschaftsdiagnose führender Wirtschaftsforschungsinstitute vom Oktober 2008 sollte im Jahr 2009 die Wirtschaftsleistung um 0,8 Prozent geringer ausfallen. Das sei aber nur die pessimistische Variante der Prognose; wahrscheinlicher wäre ein leichter Zuwachs bei der Produktion. Als dann die Wirtschaftsleistung immer mehr abnahm, wurden auch die Prognosen immer düsterer. Im April 2009 kam die Gemeinschaftsprognose dann auf einen Produktionsrückgang von sechs Prozent.

Wie sich am Ende jenes Jahres herausstellte, schrumpfte die Wirtschaftsleistung tatsächlich um fünf Prozent. Aber nicht nur der Abschwung wurde falsch eingeschätzt, sondern auch der Aufschwung. Natürlich ließen sich die Prognostiker unter anderem davon leiten, wie sich zur Zeit ihrer Vorhersage die Wirtschaft gerade entwickelte. So wurde im April 2009, als der Abschwung in voller Fahrt war, für das Jahr 2010 ein weiterer Rückgang der Wirtschaftsleistung von 0,5 Prozent prophezeit. Im April 2010, als dann für jedermann sichtbar der Aufschwung bereits im Gange war, wurde ein Wachstum von 1,5 Prozent vorausgesagt. Tatsächlich wird aber wohl die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 3,5 Prozent zulegen. Die deutsche Konjunkturforschung hat sich in der jüngsten Krise also gründlich blamiert.

Aber nicht nur hinsichtlich der Wirtschaftsleistung gingen die Prognosen völlig in die Irre, sondern auch mit Blick auf die Arbeitslosigkeit. Man mag diesen Befund als eine simple Erkenntnis abtun, denn wenn die Entwicklung der Wertschöpfung falsch eingeschätzt wurde, ergibt sich zwangsläufig auch eine Fehlprognose für den Arbeitsmarkt. So einfach lagen die Dinge aber nicht. Zwar ging natürlich mit der Wirtschaftsleistung auch die Zahl der Beschäftigten zurück, und die Arbeitslosigkeit wuchs. Aber es zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsleistung und Beschäftigung längst nicht so eng war wie zuvor angenommen. Als die Produktion einbrach, stieg die Arbeitslosigkeit nur wenig - was die Prognostiker zu der Einschätzung trieb, dass der Arbeitsmarkt erst mit einem Zeitverzug auf die Krise reagieren würde, dann aber heftig. Beispielsweise schloss Anfang Mai 2009 einer Reuters-Meldung zufolge der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit nicht aus, dass die Zahl der Arbeitslosen bis Ende 2010 auf fünf Millionen steigen könne, und mit dieser Prophezeiung stand Frank-Jürgen Weise damals nicht allein. Aber nichts dergleichen geschah. Die Arbeitslosigkeit stieg nach dieser Ankündigung saisonbereinigt überhaupt nicht mehr, und schon drei Monate später folgte eine stetige Abnahme. Statt der angekündigten mehr als fünf Millionen Arbeitslosen werden es Ende dieses Jahres wohl nur etwas mehr als drei Millionen sein. Eine solche Abkopplung der Entwicklungen im Beschäftigungssektor von der Wirtschaftsleistung hatte es in früheren Krisen nicht gegeben.

Damit nicht genug. Seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre bis 2005 hinkte die Bundesrepublik beim Wirtschaftswachstum gegenüber dem Durchschnitt der EU-Staaten und erst recht hinter den USA hinterher. Man sprach vom "kranken Mann in Europa". Erst danach konnte für kurze Zeit der Anschluss gefunden werden. Im Krisenjahr 2009 brach dann in Deutschland die Produktion stärker ein als in der übrigen EU und in Nordamerika. Aber die Bundesrepublik kam rasant wieder aus der Krise heraus und war in den vergangenen Monaten unter den Industriestaaten sogar Spitzenreiter beim Wirtschaftswachstum. So fiel die Wertschöpfung im zweiten Quartal dieses Jahres um fast vier Prozent höher aus als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. In manch anderen Ländern stagniert die Produktion noch - oder ist sogar rückläufig. Auch steht Deutschland mit Blick auf den Arbeitsmarkt besser da als viele andere Staaten.

Anatomie der Krise

Was war geschehen, dass die Wirtschaftsleistung einbrach? Eigentlich nichts Ungewöhnliches, denn es war nur wieder einmal eine Spekulationsblase geplatzt. Solche Ereignisse ziehen sich wie ein roter Faden durch die Wirtschaftsgeschichte. Dieses Mal war es der Immobilienmarkt in den USA, dem viel heiße Luft entwich. Einige Jahre zuvor ging es um Technologieaktien. In den 1990er Jahren gab es Überspekulationskrisen in Russland und in Südostasien, davor in Japan. Was bei der jüngsten Krise allerdings besonders ins Auge fällt, ist ihre rasche Verbreitung über den Erdball. Zum einen war die Blase wohl besonders groß, zum anderen machte sich die immer engere Verzahnung der internationalen Märkte bemerkbar.

Auslöser waren wachsende Probleme bei der Finanzierung von Eigenheimen einkommensschwacher Haushalte in den USA. Um nach dem Platzen der "Internet"- bzw. "dotcom-Blase" um die Jahrtausendwende die Wirtschaft wieder anzukurbeln, senkte die amerikanische Zentralbank kräftig die Leitzinsen und ließ sie lange Zeit auf einem niedrigen Niveau. Das billige Geld zeigte rasch Wirkung. Insbesondere kam es zu einem Bauboom. Dabei wurden auch zunehmend Personen mit einem geringen Einkommen und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen angeregt, sich Wohneigentum zuzulegen. Weil die Immobilienpreise stetig stiegen, schien es für die Kreditgeber risikolos zu sein, das Wohneigentum zu beleihen. Und die steigenden Immobilienpreise verführten nicht wenige US-Bürger dazu, die Hypotheken auf ihre Eigenheime aufzustocken, um auf diese Weise zusätzlichen Konsum zu finanzieren. Der Anteil der Ersparnisse am verfügbaren Einkommen hatte zeitweilig sogar ein negatives Vorzeichen; die privaten Haushalte lebten also im Durchschnitt auf Pump. Angeheizt wurde der Boom durch Finanzmarktinnovationen - die Forderungen wurden gebündelt, tranchiert, neu zusammengestellt und wiederum zu neuen Wertpapieren zusammengestellt. Es entstanden wahre Verbriefungsketten, bis zuletzt nicht mehr überschaubar war, welche Kredite den Verbriefungen überhaupt zugrunde lagen. Auf diese Weise wurde ein Apparat geschaffen, von dem man glaubte, dass er wie ein Perpetuum mobile den Reichtum aus sich selbst heraus vermehren würde.

Als konjunkturelle Überhitzungen immer deutlicher zutage traten, musste die US-Zentralbank die Leitzinsen anheben. Dadurch stiegen die Zinsbelastungen der Hypothekenschuldner, und so kamen zuerst jene in Schwierigkeiten, die schon bei den zuvor geringen Zinssätzen gerade über die Runden kamen. Es mehrten sich die Zwangsverkäufe, und dadurch stieg das Angebot an Immobilien - und die Nachfrage danach wurde durch die anziehenden Zinsen gedrückt. Wenn in einem Segment des Marktes die Preise ins Rutschen kommen, wirkt sich das auch auf andere Segmente aus. Zeitweilig versuchte die US-Regierung mit Konjunkturprogrammen dagegen zu halten, die sich aber als Strohfeuer erweisen mussten. Es wurde immer offenkundiger, dass die gehandelten Verbriefungen, hübsch mit einem Gütestempel der Rating-Agenturen garniert, Wertpapiere ohne Wert waren. Das Desaster kulminierte dann im Bankrott der Lehman-Bank, der zur Folge hatte, dass innerhalb des Finanzsektors das gegenseitige Vertrauen zerbrach, so dass kaum noch jemand bereit war, im Handel unter den Banken Kredite zu vergeben.

Aber nicht nur in den USA hatten sich Blasen gebildet; auch in Ländern wie Spanien, Großbritannien oder Irland haben die Immobilienmärkte übermäßig expandiert. Da die Banken nun vorsichtiger agieren mussten, weil sie selbst unter Druck standen, endete der Boom abrupt und die Preise verfielen. Schlimm traf es auch einige der aufholenden Wirtschaften in Osteuropa, da sich das Wirtschaftswachstum dort vor allem auf den Zustrom ausländischen Kapitals gründete, und sich eine enorme Verschuldung auch im Privatsektor aufgebaut hatte.

Nach der Pleite von Lehman Brothers breitete sich die Krise des Finanzmarktes wie ein Tsunami weltweit aus und erfasste rasch auch die Realwirtschaft. Güternachfrage und -produktion brachen ein. Um einen Zusammenbruch des gesamten Finanzsektors zu verhindern, griffen die Regierungen und Notenbanken der Industrieländer mit massiven Stützungsmaßnahmen ein. Dadurch konnte zwar ein völliger Kollaps vermieden werden, zu einem starken Rückgang der Wirtschaftsleistung in den meisten Industriestaaten kam es aber dennoch. In den Schwellenländern wurde das Produktionswachstum gedämpft.

Die Krise machte sich in den einzelnen Ländern unterschiedlich bemerkbar. In denjenigen Staaten, in denen Immobilienblasen platzten, ging besonders stark die Nachfrage aus dem Inland zurück. Die Bautätigkeit und damit zusammenhängende Produktionen wurden gedrosselt. Hinzu kam, dass sich mit dem Platzen der Immobilienblase auch Vermögensillusionen in Luft auflösten, die zuvor den privaten Konsum kräftig stimuliert hatten. Und weil von der Inlandsnachfrage der größte Teil der Beschäftigung abhängt, kam es zu einem raschen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der zusätzlich die Möglichkeiten und die Bereitschaft zum Konsum einschränkte.

In Deutschland hatte es jedoch keine Immobilienblase gegeben. Auch sind keine Vermögensillusionen in Schall und Rauch aufgegangen, wie es auch hierzulande beim Platzen der "dotcom-Blase" und dem Kursverfall auf den Aktienmärkten in den Jahren 2000 und 2001 der Fall war. In der Bundesrepublik ging die Wirtschaftsleistung deshalb stark zurück, weil die Nachfrage aus dem Ausland einbrach. Denn in Deutschland hängt die Wirtschaftsleistung wie in kaum einem anderen Land maßgeblich vom Export ab. Zeitweilig fielen die Ausfuhren um 20 Prozent, im gesamten Jahr 2009 betrug die Abnahme 14 Prozent. Angesichts der rückläufigen Exporte sank auch die Binnennachfrage nach Ausrüstungsgütern. Denn welcher Unternehmer schafft sich schon neue Maschinen oder Lastkraftwagen an, wenn sich die Absatzaussichten trüben? Die deutsche Wirtschaft wurde also im Wesentlichen indirekt von der Krise getroffen, denn über die Transmission sinkender Nachfrage im Ausland kam es zu Produktionseinschrnkungen. Erste Anzeichen davon waren schon im Frühjahr 2008 zu sehen; scharf bergab ging es aber erst im Herbst jenes Jahres, als weltweit und schlagartig die Güternachfrage einbrach.

Politische Reaktionen auf die Krise

Abgesehen von massiven Interventionen zur Stabilisierung der Kapitalmärkte wurden rund um den Globus Konjunkturprogramme aufgelegt, um den Produktionseinbrüchen entgegenzuwirken. Hinzu kam eine extreme Lockerung der Geldpolitik - dies sollte einerseits den Banken helfen, anderseits sollten durch niedrige Leitzinsen auch die Investitionstätigkeit von Unternehmen und privaten Haushalten sowie der Konsum stimuliert werden.

In der Bundesrepublik wurde im November 2008 das erste Konjunkturprogramm aufgelegt. Weil man zu diesem Zeitpunkt noch einen nur mäßigen Rückgang der Wirtschaftsleistung erwartete, war es vom Mittelvolumen her nicht sehr umfangreich; soweit die Kosten zu beziffern sind, waren es elf bis zwölf Milliarden Euro. Das Paket setzte sich aus einer Palette unterschiedlicher Maßnahmen zusammen: Zu nennen sind etwa die KFZ-Steuerbefreiung bei neuen, schadstoffarmen PKW, die höhere steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen, steuerliche Investitionsanreize für Unternehmen oder erhöhte Investitionsausgaben des Bundes für die Infrastruktur. Hinzu kamen Veränderungen bei den Kurzarbeitsregelungen wie die Verlängerung der Zahlung von Kurzarbeitergeld von zuvor sechs Monaten auf 24 Monate.

Als sich die Krise als viel schwerwiegender erwies, wurde rasch ein zweites Konjunkturpaket mit einem Volumen von 45 bis 50 Milliarden Euro geschnürt. Der größte Posten war ein Programm zur Ausweitung der öffentlichen Investitionen. Hinzu kam die "Abwrackprämie" bei dem Kauf eines neuen PKW, eine Verringerung der Einkommensteuer, die Erhöhung des Bundeszuschusses zur gesetzlichen Krankenversicherung, mit der ein ansonsten fälliger Beitragsanstieg aufgefangen wurde, ein einmaliger Kinderbonus für Familien und Mittel zur Innovationsförderung für Unternehmen. Nicht direkt den Konjunkturpaketen zuzurechnen sind weitere Maßnahmen, die aber die Einkommen und somit wohl auch die Nachfrage gestützt haben. Dazu zählt eine übermäßige Anhebung der Renten, daran gekoppelt war eine entsprechende Anhebung der Leistungen für Hartz-IV-Empfänger. Hinzu kamen Maßnahmen, die ohnehin ergriffen werden mussten, weil sie vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben oder weil sie schon vor der Krise vom Bundestag beschlossen worden waren - wie die Erhöhung des Kinderfreibetrages bzw. des Kindergeldes, die Wiedereinführung der Pendlerpauschale oder die Verringerung der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung. Ob und in welchem Maße die einzelnen Maßnahmen gewirkt haben, ist unbekannt.

Rascher Wechsel von der Krise zum Wachstum

In Deutschland endete der Abschwung Mitte des vergangenen Jahres, und ab Ende 2009 zog die Wirtschaftsleistung mit zunehmender Geschwindigkeit an. Das Produktionsniveau aus der Zeit vor der Krise ist aber noch nicht erreicht - im zweiten Quartal 2010 lag es noch um reichlich zwei Prozent darunter. Die entscheidenden Impulse für den Aufschwung kamen vom Export, sie sind also nicht den deutschen Konjunkturprogrammen zuzurechnen. Wohl aber könnten die weltweiten Maßnahmen zur Konjunkturstabilisierung der deutschen Wirtschaft geholfen haben - wie andererseits die von Deutschland ergriffenen Maßnahmen andere Länder unterstützt haben könnten. Vor allem haben die deutschen Exporteure davon profitiert, dass die Schwellenländer, darunter insbesondere China, vergleichsweise wenig von der Krise betroffen waren. Hier wurde lediglich das Wachstumstempo gemindert, nicht aber die Produktion zurückgefahren. Zudem kamen auch hier Konjunkturprogramme zum Einsatz. China ist inzwischen das siebtwichtigste Land für deutsche Ausfuhren. Und weil sich die deutschen Unternehmen auf dem Markt dort recht gut etablieren konnten, wurden Nachfrageausfälle aus anderen Staaten aufgefangen. Die Globalisierung und der wirtschaftliche Aufholprozess in den Schwellenländern hat das Ausmaß früherer wirtschaftlicher Abhängigkeiten verringert - insbesondere ist es nicht mehr so, dass bei einem Schnupfen der USA alle übrigen Industriestaaten gleich eine Grippe bekommen.

Da sich auf den Wachstumsmärkten die Absatzperspektiven verbessert haben, sind die Unternehmen hierzulande nun auch wieder bereit, vermehrt zu investieren, so dass auch die Inlandsnachfrage die Auftragsbücher der Hersteller von Maschinen und Anlagen füllt. Zugenommen hat ebenfalls die Investitionstätigkeit des Staates, wobei sich zeigt, dass die investiven Konjunkturprogramme erst dann ihre Wirkung entfalten, wenn der Aufschwung bereits im vollen Gange ist. Das war zu erwarten, denn im Wesentlichen ging es um Bauinvestitionen, und diese brauchen einen längeren Vorlauf für die Planung und Umsetzung. Recht gut entwickeln sich auch die staatlichen Konsumausgaben. Schwach ist dagegen der Konsum der privaten Haushalte. In der Krise ist er zwar nicht gesunken und erwies sich somit als ein stabilisierendes Element - zumal von ihm mehr als die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in der Bundesrepublik abhängt -, aber danach entwickelte er sich ebenfalls mehr schlecht als recht. Das liegt vor allem an der schwachen Entwicklung bei den Löhnen. Der private Verbrauch kommt allerdings schon seit Anfang der 2000er Jahre in Deutschland kaum voran.

Im Vergleich zu anderen Ländern, die langsamer aus der Krise herausgekommen sind oder noch immer in ihr stecken, war der Abschwung in Deutschland weitgehend auf den Exportsektor beschränkt. Es gab keine Verwerfungen bei der Inlandsnachfrage etwa durch massive Einbrüche bei der Bauproduktion sowie durch eine Reduzierung der privaten Konsumausgaben. Die Nachfrage in diesen Segmenten war nicht aufgebläht, sondern entwickelte sich schon seit Jahren nur schwach. Es ist deshalb insofern überhaupt kein Wunder, dass die deutsche Wirtschaft rasch aus der Krise kam, als die Exportnachfrage wieder anzog.

Gab es ein "Wunder" auf dem deutschen Arbeitsmarkt?

Auf den ersten Blick scheint der deutsche Arbeitsmarkt kaum von der Krise berührt worden zu sein. Dieses Phänomen soll näher beleuchtet werden. Der Höhepunkt des Aufschwungs vor der Krise wurde im ersten Quartal 2008 erreicht; danach ging es saisonbereinigt mit der Wirtschaftsleistung bergab - wenn auch zunächst nur wenig. Auf dem Arbeitsmarkt war über mehrere Monate von der konjunkturellen Eintrübung nichts zu spüren. Im Gegenteil: Bis Oktober 2008 stieg die Zahl der Erwerbstätigen, und erst danach, also zu Beginn der drastischen Produktionseinschränkungen, sank sie, und die Schere bei der Entwicklung der Erwerbstätigen einerseits und der Arbeitslosen andererseits öffnete sich: Nahezu in gleichem Maße, wie die Zahl der Arbeitsplätze abnahm, nahm die Zahl der Arbeitslosen zu (vgl. Abbildung in der PDF-Version). Groß war die Scherenbildung aber nicht. Es hätte viel schlimmer kommen können, wenn nicht viele Unternehmen auf Kurzarbeit zurückgegriffen hätten. Denn anderenfalls wäre die Zahl der registrierten Arbeitslosen bis etwa Mitte 2009 doppelt so stark gestiegen, wie es tatsächlich der Fall war.

Recht bald schon kam es zur Trendwende. Ab Herbst 2009 nahm die Zahl der Erwerbstätigen saisonbereinigt zu, und inzwischen hat sie schon wieder das Niveau der Zeit erreicht, bevor sich die Krise auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machte. Auch die in Arbeitsplätze umgerechnete Kurzarbeit ist stark auf dem Rückmarsch. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist inzwischen sogar geringer als im Herbst 2008. Dabei ist allerdings eine Umstellung bei der Arbeitslosenstatistik zu beachten, denn seit Anfang 2009 werden Erwerbslose, deren Arbeitsvermittlung in die Hände privater Träger gelegt wurde, nicht mehr als Arbeitslose in den Registern der Bundesagentur für Arbeit geführt. Lässt man diesen Sondereffekt außer Acht, gab es zuletzt noch 150.000 mehr Erwerbslose als im Herbst 2008. Gleichwohl ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt keineswegs schlecht.

Für eine tiefergehende Analyse lohnt sich ein Blick auf den saisonbereinigten Beschäftigungsverlauf in den einzelnen Wirtschaftssektoren. Auch die Veränderungen bei der je Erwerbstätigen geleisteten Arbeitszeit sowie bei der Stundenproduktivität, also bei der je Stunde erbrachten Wirtschaftsleistung, sind aufschlussreich. Die zeitliche Messlatte ist das erste Vierteljahr 2008 - das Quartal, ab dem die Wirtschaftsleistung in Deutschland abnahm.

Ins Auge fällt, dass sich die Beschäftigung in den einzelnen Sektoren sehr unterschiedlich entwickelte. Eine deutliche Zunahme - von etwa einer halben Million Erwerbstätigen - gab es seit dem ersten Vierteljahr 2008 im Sektor "Öffentliche und private Dienstleister" (vgl. Tabelle in der PDF-Version). Dies ist ein recht heterogen zusammengesetzter Bereich; dazu zählen die öffentliche Verwaltung, das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die Kirchen und Verbände, Kultur, Sport, Unterhaltung, aber auch die Abfallwirtschaft. Gewachsen ist die Beschäftigung vor allem in den Bereichen "Erziehung und Bildung" und noch mehr im Gesundheits- und Sozialwesen, wo die Zahl der Arbeitsplätze nicht zuletzt wegen der Nachfrage aufgrund des demografischen Wandels schon seit vielen Jahren stetig zunimmt. Am anderen Ende der Skala steht das verarbeitende Gewerbe (oder salopp formuliert: die Industrie), wo die Zahl der Erwerbstätigen stark geschrumpft ist und der Arbeitsplatzabbau bis zuletzt wenn auch mit gebremstem Tempo - angehalten hat. In anderen Wirtschaftszweigen sind die Entwicklungen weniger auffällig. Im konsumnahen Bereich "Handel, Gastgewerbe und Verkehr" ist erst in diesem Jahr die Beschäftigung etwas gesunken; und bei den Unternehmensdienstleistern stieg in den jüngsten Quartalen die Zahl der Arbeitsplätze, was vor allem an der wieder wachsenden Beschäftigung von Leiharbeitern liegt.

Deutlich ungünstiger sähe die Entwicklung nach dem hier verwendeten Rechenmodell aus, wenn seit dem ersten Vierteljahr 2008 die Arbeitszeit je Erwerbstätigen nicht gesunken wäre. Das gilt vor allem für die Industrie; ohne Arbeitszeitverkürzungen wäre zur Zeit der tiefsten Krise der Personalabbau viermal so hoch ausgefallen wie er tatsächlich war. Die vermehrte Einführung von Kurzarbeit hat aber nur einen Teil zur Verringerung der Arbeitszeit beigetragen; hinzu kamen der Abbau von Überstunden und Arbeitszeitkonten sowie andere Formen der Arbeitszeitverkürzung. In allen Wirtschaftsbereichen wurde die Arbeitszeit ebenfalls vermindert und auf diese Weise die Wirkung der Krise abgepuffert. Im Zuge des Ende 2009 einsetzenden Produktionsaufschwungs wächst die Pro-Kopf-Arbeitszeit aber wieder. Sie ist jedoch immer noch geringer als vor der Krise - der Umfang der Arbeitszeitminderung beläuft sich auf etwa 600.000 Arbeitsplätze.

Neben der Verringerung der Arbeitszeit wurde ein potenzieller Beschäftigungsabbau dadurch vermieden, dass die Stundenproduktivität abnahm. Auch in dieser Hinsicht wurde vor allem in der Industrie Beschäftigung gehalten. In erheblichem Maße sank die Stundenproduktivität auch im Bereich "Handel, Gastgewerbe und Verkehr". Im Sektor "Öffentliche und private Dienstleister" hat sie dagegen zugenommen. Und wie die Arbeitszeit nimmt branchenübergreifend auch die Produktivität seit Beginn des Aufschwungs wieder zu; sie ist aber ebenfalls noch spürbar geringer als vor der Krise.

Alles in allem: Nach der hier vorgestellten Modellrechnung wäre die Zahl der Arbeitsplätze ohne die Reduzierung der Arbeitszeit und ohne die Verringerung der Produktivität Mitte dieses Jahres um etwa 750.000 geringer, als sie es in Wirklichkeit war. Dabei ist zusätzlich eine sektorale Verschiebung der Struktur der Arbeitsplätze in Rechnung zu stellen - wodurch sich das Gewicht von der relativ produktiven Industrie hin zu weniger produktiven Dienstleistungssektoren verschoben hat. Berücksichtigt man auch diesen Effekt, dann ist die Zahl der Arbeitsplätze rechnerisch etwa um eine Million niedriger als vor der Krise.

Fazit

Deutschland kam deshalb glimpflich durch die Krise, weil ihre Auswirkungen weitgehend auf einige Sektoren begrenzt blieben und ein erheblicher Teil der Wirtschaft nicht oder kaum infiziert wurde. Das hat mehrere Ursachen. Anders als in den USA oder manchen EU-Staaten entstand die Krise nicht von innen heraus durch das Platzen von Immobilienblasen und Vermögensillusionen, wodurch rasch über Konsumeinschränkungen und die Reduzierung übermäßiger Produktionskapazitäten insbesondere im Bausektor der gesamte Wirtschaftskreislauf in Mitleidenschaft gezogen wurde. Im Falle Deutschlands wurde die Krise durch den Rückgang der Nachfrage aus dem Ausland importiert. Das traf vor allem die Exportwirtschaft - also große Teile der Industrie, manche Unternehmensdienstleister wie die Zeitarbeit, die in starkem Maße Personal an die Industrie ausleiht, Teile des Verkehrsgewerbes und den Außenhandel.

Dass von diesen Wirtschaftszweigen die Krise nicht auf alle überschwappte, liegt daran, dass die Unternehmen in starkem Maße Personal gehalten haben, so dass die Arbeitslosigkeit nur wenig wuchs und somit die Konsumneigung der Verbraucher nicht mehr gedrückt wurde, als es ohnehin schon seit Jahren der Fall war. Dass sich der Abbau von Personal in Grenzen hielt, ist auch darauf zurückzuführen, dass seitens der Politik die Rahmenbedingungen für die Kurzarbeit attraktiver gestaltet wurden. Mindestens genauso wichtig war es, dass die Tarifpartner sich am bewährten deutschen Modell der kooperativen industriellen Beziehungen orientiert haben und für eine Zeit lang der Arbeitsplatzsicherung Vorrang vor Lohnanhebungen einräumten. Wenn man mag, kann man in dieser Hinsicht von einem "Beschäftigungswunder" sprechen; es ist aber erklärbar. Wahrscheinlich haben auch die Konjunkturpakete und andere Maßnahmen der Politik den Abschwung gedämpft; genau lässt sich das aber nicht umreißen.

Weil das Exportgeschäft angesprungen ist, befindet sich die deutsche Wirtschaft wieder in einem kräftigen Aufschwung. Das rasche Umschalten von der konjunkturellen Talfahrt auf die Bergfahrt wurde gewiss dadurch begünstigt, dass in erheblichem Maße Entlassungen vermieden wurden, so dass nicht erst angesichts der verbesserten Auftragslage Personal gesucht und eingestellt werden musste. Überdies hat sich gezeigt, dass die deutschen Unternehmen auf den internationalen Märkten eine starke Wettbewerbsposition haben und sie offenkundig stärker als andere von einer wachsenden Nachfrage Nutzen ziehen können. Schwäche ist das gewiss nicht, wie das Gerede über den "kranken Mann in Europa" suggeriert. "Exportweltmeister" wird man wohl kaum als Fußkranker. Die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands liegen nicht im Export, sondern auf dem Binnenmarkt. Die große Abhängigkeit von der Auslandsnachfrage ist gewiss nicht beruhigend - zumal sie mit einer im internationalen Vergleich sehr schwachen Lohnentwicklung einhergeht.

Es bleibt abzuwarten, wie lange der Aufschwung anhält. Verfehlt wäre es, nun in Euphorie zu verfallen und ein zweites Wirtschaftswunder auszurufen. Immerhin sind die Krisenfolgen noch nicht bewältigt. Die Wirtschaftsleistung befindet sich immer noch unterhalb des schon mal erreichten Niveaus, dasselbe gilt für die geleistete Arbeitszeit und die Stundenproduktivität. Die Situation auf dem Güter- und auf dem Arbeitsmarkt sieht zwar nicht mehr düster aus, aber sie erscheint besser als sie tatsächlich ist. Vor allem aber: Das erste Wirtschaftswunder der Bundesrepublik basierte auf einer expandierenden Binnennachfrage - und davon ist derzeit wie schon seit vielen Jahren wenig zu sehen. Das aber ist ein anderes Thema.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Spiegel vom 19.7.2010.

  2. Das Handelsblatt vom 28.9.2010.

  3. Vgl. Arbeitskreis Konjunktur, Tendenzen der Wirtschaftsentwicklung 2008/2009: Aufschwung geht in die Verlängerung, in: Wochenbericht des DIW Berlin, (2008) 27-28.

  4. Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, Deutschland am Rande einer Rezession. Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2008, Essen 2008.

  5. Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, Im Sog der Weltrezession. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2009, Essen 2009.

  6. Vgl. ebd.

  7. Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, Die Erholung setzt sich fort. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2010, Essen 2010.

  8. So unter anderem das Wall Street Journal vom 19.9.2005.

  9. Vgl. Karl Brenke/Ulf Rinne/Klaus F. Zimmermann, Kurzarbeit - nützlich in der Krise, nun aber den Ausstieg einleiten, in: Wochenbericht des DIW Berlin, (2010) 16, S. 2-13.

Dipl.-Soz., geb. 1952; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) mit den Forschungsschwerpunkten Arbeitsmarktpolitik sowie Arbeitsmarktentwicklung und Konjunktur, Mohrenstraße 58, 10117 Berlin. E-Mail Link: kbrenke@diw.de