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Kranke als Ressource, Gesundheit als Ware - Essay | Gesundheit | bpb.de

Gesundheit Editorial Kranke als Ressource, Gesundheit als Ware - Essay Reform(un)möglichkeiten in der Gesundheitspolitik Ökonomie des Gesundheitswesens: Genese und Optimierung Gesundheitspolitik in internationaler Perspektive Gesundheitliche Ungleichheit. Plädoyer für eine ethnologische Perspektive Gesundheitliche Entwicklungen und Trends in Ost- und Westdeutschland Was ist "gesunde Ernährung"?

Kranke als Ressource, Gesundheit als Ware - Essay

Paul U. Unschuld

/ 8 Minuten zu lesen

Erstmals ist Kranksein volkswirtschaftlich mindestens so wertvoll wie die Gesundheit der Bevölkerung. Der Druck auf die Politik, Gesundheit für alle zu gewährleisten, ist gesunken.

Einleitung

Die Botschaft ist unmissverständlich: Das bisherige Gesundheitswesen war eine unscheinbare, hässliche Raupe. Aus ihr hat sich in natürlichem Wandel ein wunderschöner Schmetterling entpuppt, welcher der Sonne entgegenfliegt. Aussagekräftiger hätten sich die Gestalter das Titelblatt der Zeitschrift "Gesundheitswirtschaft" im April/Mai 2007 kaum denken können. "Metamorphose. Aus dem Gesundheitswesen erwächst die Gesundheitswirtschaft" lautete die Unterschrift. Nicht in einer Zeichnung, sondern mit Worten hat der "Trendreport Gesundheitswirtschaft" im April 2010 die Richtung der neuen Dynamik formuliert: "Im expertendominierten Gesundheitsmarkt wird aus Sicht der Akteure gedacht und gehandelt. Zuerst kommt deshalb zunächst einmal immer die eigene Institution. Meine Praxis, mein Krankenhaus, meine Apotheke lautet das Maß aller Dinge."

Die Alternative kann nur lauten: In Zukunft dürfen im Gesundheitsmarkt weder die Experten noch die Akteure im Zentrum der Entscheidung stehen. Ärzte sind nicht mehr die "Halbgötter in Weiß", sondern unansehnliche Raupen, die alles in sich selbst hineinfressen. Der Schmetterling, der sich aus der Raupe befreit hat, wird das ändern. Er ist der Investor, der sich aus der Eigensucht der Ärzte und Apotheker befreit und eine sonnige Zukunft verheißt.

Ist das Satire? Kaum. Schon an diesen beiden Mosaiksteinchen wird ein Wandel sichtbar, der sich vor Jahrzehnten andeutete und der nun seine ganze Kraft entfaltet. Es geht um die Reform eines Gesundheitswesens, das den Gesunden als Maß aller Dinge ansah und Krankheit als einen Zustand, den es zu verhindern, oder doch so schnell wie möglich in Gesundheit zurückzuführen trachtete. Mit der Einführung einer "Gesundheitswirtschaft" haben wir eine historisch neue Dimension des gesamtgesellschaftlichen Umgangs mit Kranksein und Gesundheit erreicht. Erstmals in der Zivilisationsgeschichte ist der Kranke volkswirtschaftlich mindestens so wertvoll wie der Gesunde. Der Kranke stellt in der Gesundheitswirtschaft einen Wert dar, eine Ressource, und die Frage, wie man damit umgeht, beantwortet sich fast von selbst. Gesunde oder Leichtkranke müssen, so ein krankenkasseninterner Ausdruck, "zielgerichtet verkrankt" werden, der "HIV-Patient ist", so ein prominentes Aufsichtsratsmitglied einer privaten Betreibergesellschaft von Krankenhäusern, "ein unheimlich lukrativer Kunde". Da fragt man sich, wer, außer den Betroffenen selbst, ein Interesse daran haben könnte, dass dieser "lukrative Kunde" aus dem Gesundheitsmarkt verschwindet.

Gesundheit als Mittel zum Zweck

Es lohnt sich, zurückzublicken. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein war Gesundheit Selbstzweck. Wenige Ärzte wurden an Universitäten ausgebildet und waren vor allem für die Oberschicht verfügbar. Die Obrigkeit beaufsichtigte die Apotheken; vereinzelte amtliche Arzneibücher schrieben Standards in der Zubereitung von Arzneimitteln vor. Gesundheitspolitik im heutigen Sinne existierte nicht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich die Situation. Hatte noch 1741 der Statistiker Johann Peter Süßmilch aus seinen Erhebungen zu Geburt, Krankheit und Tod eine von Gott gegebene Ordnung herauslesen können, so sah der Arzt Johann Peter Frank die Dinge wenige Jahrzehnte später schon ganz anders. Sein mehrbändiges Werk über die "Medizinische Policey" war nichts anderes als eine erste Forderung nach einer staatlichen Gesundheitspolitik. Nicht Gott, so Frank, sondern der Mensch selbst sei für die Güte und die Länge seines Lebens weitgehend verantwortlich. Das hatten Ärzte schon in der Antike behauptet und damit nicht selten den Konflikt mit der Kirche und der Theologie riskiert.

Im späten 18. Jahrhundert nun schenkten die Regierenden erstmals den Ärzten ihre Aufmerksamkeit. Franks "Medizinische Policey" und andere Werke ähnlicher Stoßrichtung hatten direkten Einfluss auf staatliche Politik. Das kam nicht von ungefähr. Fürsten, Könige und Kaiser waren keineswegs unvermittelt von einem humanitären Virus befallen. Die Ursache für den Sinneswandel lag in der Herausbildung der Nationalstaaten in Europa, deren Grenzen sich zunehmend weniger durch fürstliche Heiraten und Erbschaften veränderten. Allmählich bildeten sich feste politische Gebilde heraus, die ihre Stärke einerseits einer schlagkräftigen Armee und andererseits einer produktiven Industrie verdankten. Nicht mehr multinationale Söldnerarmeen bestimmten fortan die Schlachtfelder. Seit der Französischen Revolution war allen militärischen Strategen der Wert der nationalen Begeisterung der jungen Menschen, die sie in den Kampf schickten, bekannt. Diese Menschen konnte man nur aus dem eigenen Land holen - und sie mussten kräftig und gesund sein, um ihren Zweck zu erfüllen. Das war der erste Anreiz für die neue Gesundheitspolitik.

Der Wettbewerb in friedlicheren Zeiten lief über die Produktion der Manufakturen. Die Hierarchie glich einer Pyramide: ganz unten die breite Masse der Arbeiter, darüber mit abnehmender Zahl die Vorarbeiter und leitenden Angestellten und schließlich an der Spitze der Eigner. Rasch erkannten die Mächtigen, dass die Gesundheit der Arbeiter der Grundstein für eine starke Industrie sei. Die bislang dominierende Individualmedizin erfuhr die erforderliche Ergänzung durch den Blick auf die Volksgesundheit. Die Mächtigen sahen einen Sinn darin, der Medizin ein Privileg einzuräumen, das die Heilkundigen nie zuvor gekannt hatten: das Privileg, Fragen an die Herrschenden und an die Besitzenden richten zu dürfen. Es waren unangenehme Fragen, wenn die Ärzte erkannten, dass Lebens-, Arbeits-, Wohn- und Umweltbedingungen die Gesundheit der Allgemeinheit gefährdeten. Dieses Privileg kam einem Mandat an die Ärzteschaft gleich, sich für die gesundheitlichen Belange aller Bevölkerungsschichten einzusetzen, weil für die militärische wie die ökonomische Konkurrenz der europäischen Staaten die Gesundheit aller, ungeachtet der sozialen Schichtzugehörigkeit, von Bedeutung war. Gesundheit war nicht mehr Selbstzweck; Gesundheit wurde für die Politik Mittel zum Zweck eines starken Nationalstaats.

Aus diesen Zusammenhängen haben die europäische Medizin und das Gesundheitswesen, in dem sie sich entfalten konnte, ihre Kraft gewonnen. Sie waren freilich auch mitverantwortlich dafür, dass das Konzept der Volksgesundheit in Deutschland mit der Vernichtung schließlich ganzer Bevölkerungsteile, die als "Volksschädlinge" identifiziert worden waren, langfristig desavouiert wurde. Als die wissenschaftliche Beschäftigung mit Risiken, welche die Gesundheit der gesamten Bevölkerung oder größerer Teilgruppen gefährden, wieder aufgenommen wurde, stand nur noch die englische Bezeichnung public health zur Auswahl. Verglichen mit etwa den USA freilich, hat sich Public Health in Deutschland ungeachtet des Einsatzes höchst engagierter und auch international anerkannter Wissenschaftler nie aus einer marginalen Bedeutung lösen können. Die so genannten Schools of Public Health fristen ein Schattendasein am Rande der Medizinischen Fakultäten. Die Individualmedizin nutzte nach dem Krieg in Westdeutschland die Gunst der Stunde und überführte viele der Maßnahmen, die zuvor in Gesundheitsämtern zur Anwendung kamen, in die private ärztliche Praxis. Der Blick in die DDR, wo der Sozialismus weniger Probleme mit der Fortführung von Gesundheitsaktionen unter staatlicher Anleitung hatte, konnte nie einen Anreiz in der Bundesrepublik entfalten; die Individualmedizin verknüpfte sich im öffentlichen Bewusstsein erfolgreich mit dem Grundwert einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung.

Die eigentliche Ursache für die Unfähigkeit der Idee einer Public Health, in Deutschland eine starke Position zu erlangen, liegt freilich tiefer. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die Beweggründe entfallen, die in den mehr als 150 Jahren zuvor die Gesundheitspolitik bestimmt und das deutsche Gesundheitswesen zu einem weltweit bewunderten Vorbild gemacht hatten. Alle großen europäischen Staaten hatten diese Entwicklung mehr oder weniger modifiziert mitgetragen. Doch die Staaten benötigen nicht mehr Millionen kräftiger junger Männer, um sie in Angriffs- oder Verteidigungskriege zu schicken; kleine militärische Einheiten werden heute hier oder dort, in Europa oder am Hindukusch, eingesetzt, um die Interessen der Politik zu verfolgen. Und auch das Ziel, der Industrie eine kräftige Arbeitnehmerschaft zur Verfügung zu stellen, hat für die Politik ihren Reiz verloren. Die Staaten haben nicht zu wenige, sondern, so zynisch das klingen mag, zu viele gesunde Männer und Frauen, die nach Arbeit suchen, aber keinen Platz mehr in den herkömmlichen Produktionsstätten finden, da diese gar nicht mehr existieren.

Gesundheit als Ware

Wer also glaubt, die Gesundheit der Bevölkerung müsse weiterhin im Zentrum politischer Bestrebungen stehen, ist naiv. Der Druck auf die Politik, die Gesundheit aller zu gewährleisten, wenn nicht sogar zu erzwingen, ist gesunken und hält sich bestenfalls dort, wo es darum geht, die Gesunden, etwa beim Nichtraucherschutz, vor gesundheitsgefährdenden Handlungsweisen anderer zu schützen. Doch die etwa HIV-Infizierten eingeräumte Freiheit, selbstverantwortlich mit dem Virus umzugehen, zeigt, dass der in solchen Situationen in früheren Zeiten angewandte autoritäre Zwang heute ungeachtet der Mahnung von Virologen keine Anwendung mehr finden kann. Das gesundheitsfördernde Verhalten wird zunehmend in die Hände des Individuums zurückgeführt, und da der einzelne Bürger meist nicht die Kompetenz besitzt, sich gesundheitsbewusst zu verhalten, wären Ärzte und Apotheker die beiden zentralen Expertengruppen für die Beratung, Betreuung und Behandlung der Kranken sowie derer, die gar nicht erst krank werden möchten.

Aber so läuft es nicht. Gesundheit als Mittel zum Zweck des starken Nationalstaats ist heute politisch irrelevant. Gesundheit wird wieder Selbstzweck, und es steht jedem frei, seinen privaten Mitteln entsprechend diese Gesundheit zu erwerben. Hier liegt der Kern der neuen Zeit: Gesundheit wird zur Ware, die ein Gesundheitsmarkt feilhält. Es zeigt sich, dass dieser Markt seine eigenen Strukturen und Prioritäten schafft. Wie in jedem anderen Markt sind Umsatz und Rendite auch im Gesundheitsmarkt durch Absatz fördernde Maßnahmen stetig auszuweiten.

Die Industrie, die mit diagnostischen und therapeutischen Verfahren den Markt beschickt, sieht das nicht ungern. Störend wirken hier freilich die im alten System zentralen Gesprächspartner der Patienten oder Ratsuchenden, das sind Ärzte und Apotheker. Folglich kann man eine kontinuierliche Verdrängung, deutlicher gesagt: Entmündigung dieser beiden Berufsgruppen beobachten. Sie stören, weil sie ausgebildet wurden, ihre medizinisch-fachliche und ethische Kompetenz an vorderster Stelle in den Dienst des Patienten zu stellen, nicht aber die Investorenrendite. Indem die Vorkämpfer einer Gesundheitswirtschaft für sich beanspruchen, erstmals die "Patientensouveränität" ernst zu nehmen, schaffen sie sich den Rahmen, an Ärzten und Apothekern vorbei direkt auf die Kunden einzuwirken. Die Zerstörung der traditionellen deutschen Apothekenstruktur folgt diesem Prinzip. Mit der Einführung der Kettenapotheken wird die Autorität über die Beratung der Kunden und die Abgabe von Arzneimitteln der Entscheidung des einzelnen Apothekers entzogen und den Renditezielen der Investoren untergeordnet.

Die Ärzteschaft geht diesem Status der Abhängigkeit mit derselben Geschwindigkeit entgegen. Die Werbung für rezeptpflichtige Arzneimittel ist folgerichtig nun auch in der Laienpresse erlaubt. Der so beeinflusste Laie kann Druck auf die Ärzte ausüben. Der Zwang in Chefarztverträgen, jährlich vier bis fünf Prozent zur Umsatzsteigerung beizutragen, die Vorgaben des Fallpauschalensystems nach DRG (Diagnosis Related Groups) und viele andere Neuerungen mehr treiben die Ärzteschaft zunehmend in die professionelle Unfreiheit. Die wichtigen Entscheidungen werden von anderen getroffen - von einer Koalition von Kräften, die kein Interesse daran haben, alte Strukturen zu erhalten, und stattdessen das Heil in der Gesundheitsmarktwirtschaft sehen.

Das in der Vergangenheit mühsam erworbene Vertrauen des Patienten, dass ein Eingriff zur Vorbeugung oder Therapie aus seinem besten medizinischen Interesse und nicht aus kommerziellen Erwägungen vorgenommen wird, geht im Gesundheitsmarkt zunehmend verloren, und es gibt keine politische Instanz, die dem Einhalt gebieten möchte. Die vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung mag in ökonomisch irrelevanten Nischen weiter existieren - das System als Ganzes kennzeichnet sie nicht mehr. Die Nichtbeachtung der Aufrufe zu einer Impfung gegen die "Schweinegrippe" zeigt, wie schnell es weite Teile der Bevölkerung gelernt haben, staatlichen Vorgaben zu misstrauen. Der Schmetterling, so steht zu erwarten, wird eher zu einer hässlichen Raupe werden als umgekehrt.

Dr. phil., Master of Public Health (M.P.H.), geb. 1943; Medizinhistoriker und Sinologe; Direktor des Horst-Görtz-Stiftungsinstituts für Theorie, Geschichte, Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften an der Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Mitte, 10098 Berlin. E-Mail Link: unschuld@charite.de