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Die ARD in der DDR

Michael Meyen

/ 16 Minuten zu lesen

Die Wirkung der ARD auf die DDR-Bevölkerung wird heute gern überschätzt. Viele DDR-Bürger schalteten ihren Fernseher nur ein, um "abzuschalten" – also, um sich unterhalten zu lassen.

Einleitung

Wer diese Überschrift liest, erwartet eine Erfolgsgeschichte. "Abends kommt der Klassenfeind", hat das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" 1977 eine Serie über den Alltag des ARD-Korrespondenten Lothar Loewe genannt und damit eine Interpretationslinie vorgegeben, die sich bis in die Gegenwart zieht. "Die Einheit, sie hat sich zuerst auf dem Bildschirm vollzogen", sagte der ehemalige ARD-Vorsitzende Fritz Pleitgen 50 Jahre nach dem Fernsehneustart in beiden deutschen Staaten. Die ARD habe ihre Berichte "fast in jeden Winkel der DDR" gestrahlt, so dafür gesorgt, dass "die ganze Republik Abend für Abend" in den Westen übergelaufen sei, und damit "die Autorität des Ost-Berliner Regimes" ausgehöhlt. Zur Feier des Tages erlaubte sich Pleitgen sogar ein "Gedankenspiel": Wer weiß, wie schnell die Einheit gekommen wäre, wenn schon "die Helden des 17. Juni" von TV-Bildern aus dem Westen unterstützt worden wären? Dass die "Lampen des Westfernsehens" den Bürgern im November 1989 den Weg in die Leipziger Stasi-Zentrale zeigten, habe ja am Ende selbst die "dunkelsten Ahnungen" von Stasi-Chef Erich Mielke bestätigt.

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass solche Sonntagsreden die Wirkung der ARD in der DDR überschätzen - weil das Bild der vereinten Fernsehnation westdeutschen Journalisten schmeichelt und ihren deutschlandpolitischen Auftrag legitimiert, weil gar nicht vorstellbar scheint, dass DDR-Bürger nicht an Informationen aus der "freien Welt" interessiert gewesen sein könnten, und weil übersehen wird, dass die meisten Menschen auf dem Bildschirm nicht nach Politik suchen. Das Fernsehen der DDR hat im Dezember 1982 die "alternative Programmgestaltung" eingeführt und fortan um 20 Uhr, zur Hauptsehzeit, in beiden Programmen das gesendet, was die große Mehrheit der Zuschauer überall auf der Welt in erster Linie sehen will: Spielfilme, Serien und große Shows, Quiz, Talk und Humor. Die Publizistik wurde auf spätere Sendeplätze verbannt. Dieser Verzicht hatte Folgen: Nachdem die Sehbeteiligung Ende der 1970er Jahre auf einem Tiefpunkt angekommen war, erreichten die DDR-Programme zumindest bis Ende 1988 im Jahresdurchschnitt stets mehr ostdeutsche Zuschauer als die Sendungen aus dem Westen (Vgl. Tabelle in der PDF-Version).

Um diesen Befund erklären zu können, gehe ich zunächst den Fragen nach den Empfangsbedingungen und der Glaubwürdigkeit der ARD in der DDR nach. Anschließend wird eine Mediennutzer-Typologie präsentiert, welche die Idee von der allabendlichen "kollektiven Ausreise" differenziert und zeigt, in welchen Milieus der Klassenfeind tatsächlich jeden Abend zu Hause war und wo die Türen verschlossen blieben. Beide Abschnitte stützen sich neben den Überlieferungen der DDR-Zuschauerforschung auf eine Studie, bei der zwischen 2000 und 2002 etwas mehr als hundert DDR-Bürger ausführlich zu ihren Medienbiografien interviewt wurden. Die Befragten sind dabei nach dem Prinzip der "theoretischen Sättigung" ausgewählt worden - ein Verfahren, das den Anspruch hat, alle Nutzungsmuster zu erfassen, allerdings keine Aussagen über zahlenmäßige Verteilungen erlaubt. Im letzten Teil schließlich schaue ich mit Hilfe von Akten aus dem Bundesarchiv auf ein ARD-Publikum, das Lothar Loewe und Fritz Pleitgen offenbar vergessen haben: auf die SED-Führung. Öffentlich-rechtliche TV-Programme aus der Bundesrepublik haben die DDR-Spitze nicht nur gezwungen, das Hauptabendprogramm weitgehend von Ideologie zu befreien, sondern auch die Informationspolitik diktiert. Genau wie Loewe und Pleitgen gingen die Genossen um Erich Honecker davon aus, dass die eigenen Bürgerinnen und Bürger im Zweifel eher dem Gegner glauben, und haben die Sendungen aus dem Westen deshalb gebannt verfolgt.

Westempfang in der DDR

Die ARD konnte nicht alle DDR-Bürger erreichen. Der Deutsche Fernsehfunk stellte bei seinen ersten repräsentativen Umfragen Mitte der 1960er Jahre fest, dass 85 Prozent der Zuschauer Westsendungen sehen konnten, und bestätigte damit Empfangsmessungen der Deutschen Post. 1977 lag der entsprechende Wert bei 90 Prozent. Allerdings hatten viele Haushalte nur ein Westprogramm, und die Bildqualität war nicht überall so gut wie im Grenzgebiet oder rund um Berlin und hing teilweise vom Wetter ab. In Leipzig oder Halle an der Saale beispielsweise hatten viele Haushalte keinen Zugang zum ZDF. Eine Chemnitzer Lehrerin, Jahrgang 1938, konnte sich in einem der biografischen Interviews nicht erinnern, je "im Westen einen ganzen Film angesehen zu haben". Bei dem schlechten Bild habe das viel zu sehr angestrengt. Fast gar nicht zu empfangen waren die Westprogramme in weiten Teilen der Bezirke Dresden und Neubrandenburg sowie im Ostteil des Bezirks Rostock.

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verbesserte sich der Zugang zu Westprogrammen allerdings deutlich. Die Ausstrahlung über Satellit öffnete das Tor zu Antennen- und Kabelgemeinschaften, und selbst in einigen Dresdner Neubauvierteln gab es 1988/89 Westfernsehen. Ein Betriebsleiter aus dem Erzgebirge, Jahrgang 1949, der vorher auf seine Eigenbau-Antenne stolz war, auch wenn sie mehr "Gries" lieferte als Fernsehen, hat von einer "Massenaktion" gesprochen, bei der "blitzschnell" Empfangsanlagen gebaut worden seien. "Da wurden Gräben geschachtet und da wurden Leitungen gezogen, da wurden Hausanschlüsse gelegt und Masten gesetzt und Geld investiert, um schnell internationales Fernsehen zu bekommen."

30 Jahre vorher wäre an eine solche "Massenaktion" nicht zu denken gewesen. 1959 forderte eine Leserin im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland", man solle sich nicht weiter um die Westseher kümmern. "Diese Menschen werden den Regen im Westen immer nasser, die Sonne immer wärmer und den Schnee immer weißer finden als bei uns." Dass man sich dann nach dem Mauerbau 1961 doch einige Monate sehr intensiv um die Westseher kümmerte, hat das DDR-Bild in der Bundesrepublik geprägt. Mitte der 1960er Jahre glaubten fast zwei Drittel der Westdeutschen, dass der Empfang westlicher Programme in der DDR verboten sei und bestraft werde. Die "Aktion Ochsenkopf", bei der FDJ-Trupps TV-Antennen von den Dächern holten, blieb aber eine Episode, weil das Westfernsehen rund um Berlin und an der Grenze per Zimmerantenne zu empfangen war, weil die Demontierer das Basteltalent der DDR-Bürger unterschätzten und weil die Übergriffe die Stimmung im Land verschlechterten. 1966 stellte die Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees fest, dass viele Leute die Westantennen abends auf dem Balkon anbringen und nach Sendeschluss wieder abmontieren würden. Am Arbeitsplatz, am Biertisch und besonders in der Eisenbahn spreche man ohne Scheu über das Programm, das zum Teil auch schriftlich verbreitet werde. Obwohl Erich Honecker die Bürger dann auf einer ZK-Tagung im Mai 1973 ausdrücklich zum genaueren Hinschauen ermunterte, gab es auch in den 1980er Jahren Genossen, die Westmedien strikt ablehnten, Lehrer, die einen solchen Standpunkt vor der Klasse vertraten, und Offiziere, die in den NVA-Kasernen Radiogeräte einzogen, wenn sie Soldaten beim Hören eines ARD-Programms ertappten.

Glaubwürdigkeit der Westmedien

An dieser Stelle soll gar nicht bestritten werden, dass die offene Rundfunkgrenze das Denken der Ostdeutschen geprägt hat, dass die Westprogramme in der DDR zum Alltag gehörten und im Spätsommer und Frühherbst 1989 auch mediale Öffentlichkeit hergestellt haben - mit Berichten über Demonstrationen und Fluchtmöglichkeiten und indem sie diejenigen zu Wort kommen ließen, die sich zur Opposition formierten. Vorher aber, in den "normalen Zeiten", waren die Sendungen von ARD und ZDF für die allermeisten DDR-Bürger kein vollwertiger Ersatz. Die Ratgebersendungen ließen sich für das Leben im Osten nicht anwenden, und Nachrichten und Politik-Magazine konnten nur sehr bedingt bei der Orientierung im Alltag helfen.

Eine Arbeiterin aus Leipzig, Jahrgang 1938, die die DDR-Medien als "grausam" beschrieb und heute den MDR meidet, weil sie sich dort in alte Zeiten zurückversetzt fühle, meinte, der Westen habe über den Osten nichts gewusst, und in den Nachrichten sei es manchmal so gewesen, "als wenn wir für die gar nicht da sind". Sie habe die "Aktuelle Kamera", die Hauptnachrichtensendung im DDR-Fernsehen, gesehen, weil sie in einer ganz anderen Welt zurechtkommen musste. Natürlich ist diese Frau eine Ausnahme. Im Regelfall diente die "Tagesschau" dazu, die Berichterstattung der eigenen Medien zu überprüfen oder Lücken festzustellen, und manche Zuschauer haben sich ausschließlich in den Westmedien orientiert. Ein Leipziger Schriftsteller, Jahrgang 1953, hat die 20-Uhr-Nachrichten im Ersten als "absolutes Muss" beschrieben, als einen Fixpunkt im Tagesablauf, als erstrangige Informationsquelle und "als Ersatz auch für Tageszeitungen". Er habe nicht erwartet, dass dort die Realität in der DDR widergespiegelt werde. "Wir wussten ja, wie sie ist, oder meinten es zu wissen." Erwartet habe er vielmehr "eine andere Sicht", "einen anderen Blickwinkel".

In vielen Interviews ist bezweifelt worden, dass man überhaupt objektive Informationen bekommen könne. Eine Angestellte aus Weimar, Jahrgang 1951, sagte, die Medien seien überall auf der Welt "gefärbt". Es gebe in "jedem Land" eine Zensur, "aus welchen Gründen auch immer" und wenn es der Sex sei. Auch wenn heute "manchmal der Ton ausfällt" bei der ARD, habe das sicher "seine Hintergründe". Die allermeisten Befragten gaben an, "die Wahrheit in der Mitte" gesucht zu haben: beide Seiten hören, mit Bekannten sprechen und sich dann selbst eine Meinung bilden.

Für die Zweifel an der ARD-Berichterstattung gibt es mehrere Gründe. Wenn die Medien im eigenen Land einseitig und von Interessen geleitet sind, kann man dann annehmen, dass dies anderswo nicht so ist, erst recht in Zeiten des Kalten Kriegs? Was die ARD-Korrespondenten in ihre Heimat funken konnten, war außerdem selbst bei bestem Willen nur ein kleiner Ausschnitt und oft ein ganz bestimmter. Eine Dolmetscherin, Jahrgang 1952, hat von "Propaganda über den Osten" gesprochen. "DDR-Befindlichkeiten haben sie nicht recherchiert" - hätten sie auch gar nicht können, "weil sie ja gar nicht wussten, wie das war". Eine Buchhalterin, Jahrgang 1954, sagte, je kleiner der Osten über bestimmte Schwierigkeiten berichtet habe, desto größer sei dies im Westfernsehen gebracht worden. "Die haben es aufgebauscht, und unsere haben es weggelassen."

Nicht wenige DDR-Bürger fühlten sich von den Berichten aus dem Westen in ihrem Stolz getroffen. "Der Westen hat uns primitiver hingestellt, als wir wirklich waren", sagte eine Dresdnerin, Jahrgang 1930, die in einer Großküche gearbeitet hat. "Die drüben" hätten es mit allem leichter gehabt. "Du brauchst Dir bloß mal vorzustellen, die kriegen alles abgepackt, vorgekocht und alles. Und wir mussten uns selber kümmern." Eine Leipziger Kindergärtnerin, Jahrgang 1944, hat hier differenziert zwischen Bayerischem Rundfunk und Deutschlandfunk auf der einen Seite ("zu hetzig") und dem NDR auf der anderen, wegen der "seriösen Berichterstattung" und der "Art der Norddeutschen". Auch "Panorama" und "Report" hätten ihr gefallen, weil man dort gesehen habe, dass auch im Westen "nicht alles Sonnenschein" sei.

Dieses letzte Beispiel zeigt, welche Bedeutung die Westprogramme allen Zweifeln zum Trotz hatten: Es gab einen Gegenpol, und allein das hat die Menschen zum Nachdenken gebracht. Kann man einer Sache bedingungslos glauben, wenn einem der Zweifel ständig vor Augen geführt wird? Wo der Empfang schlecht war, hat dies extreme Reaktionen auf die DDR-Medienpolitik begünstigt. In Dresden wurden mehr Ausreiseanträge gestellt als in den anderen Bezirken der Republik. Dass die Menschen hier unzufriedener waren, lag allein schon deshalb auch am Westfernsehen, weil ein Stück Lebensqualität fehlte. Ein Pfarrer aus dem Raum Görlitz, Jahrgang 1938, sagte, es sei schwer gewesen, freie Stellen mit Bewerbern aus Berlin-Brandenburg zu besetzen, und als er einmal im Vogtland Urlaub gemacht und erzählt habe, woher er komme, hätten ihn die Menschen ganz entsetzt gefragt, wie er denn ohne Westfernsehen leben könne. Und ein Leipziger Briefträger, Jahrgang 1962, meinte, er habe die Einseitigkeit der einheimischen Kanäle gar nicht so wahrgenommen und sich auch nicht schlecht informiert gefühlt, weil die Gegenseite ja ständig zur Verfügung gestanden habe.

Mediennutzertypologie

Eine Typologie soll Ordnung in eine unüberschaubare Vielfalt bringen und schlaglichtartig Unterschiede zwischen den einzelnen Elementen erhellen. Ein Typus steht dabei für eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Merkmale gemeinsam haben - hier erstens die generelle Erwartung an Medien (informations- und bildungsorientiert versus unterhaltungsorientiert) sowie zweitens die Westorientierung. Mit diesen beiden Kriterien lassen sich in der späten DDR sechs Formen des Umgangs mit den Angeboten der Massenmedien unterscheiden (Vgl. Abbildung in der PDF-Version). Die Einschränkung "späte DDR" ist notwendig, da sich die biografischen Interviews auf die zweite Hälfte der 1980er Jahre konzentriert haben.

Die Zufriedenen. Diesem Typ wurde jeder dritte Befragte zugeordnet - vor allem Frauen ohne Parteibuch, geboren zwischen 1930 und 1960; Frauen, die neben ihrer Arbeit in der Produktion oder im Büro Kinder und Haushalt versorgen mussten und deshalb wenig Zeit für Mediennutzung hatten. Der Fernsehapparat bot ihnen die Möglichkeit, in eine andere Welt abzutauchen. Nachrichtensendungen aus Ost und West ließen sich zwar oft nicht vermeiden, waren für sie aber nicht wirklich wichtig. Über Medienpolitik haben die Zufriedenen nicht weiter nachgedacht, vielleicht weil die Meldungen mit den täglichen Notwendigkeiten nur wenig zu tun hatten, vielleicht weil die Zeit, die Kraft und manchmal auch die Fähigkeiten fehlten, alles verstehen zu können, was auf der großen Bühne läuft. Heute sagen die Zufriedenen, dass die DDR ihre Heimat gewesen sei und dass sie damals auch den Nachrichten aus der Bundesrepublik nicht geglaubt hätten.

Auch die Überzeugten waren durch den Alltag voll ausgelastet, haben Medien wenig genutzt und Unterhaltung bevorzugt. Sie haben sich aber eher in den DDR-Programmen orientiert, hier auch die Wahrheit vermutet und das Westfernsehen entweder ganz abgelehnt oder wenigstens ihre Kinder daran gehindert, umzuschalten. Dieser Typ ist vor allem in gehobenen Positionen zu finden - in Bereichen, die von der Partei- und Staatsführung als "wichtig" propagiert wurden (Armee, Volksbildung, Journalismus, Parteiapparat).

Die Engagierten haben in der DDR Karriere gemacht (in der Wirtschaft und in Bildungseinrichtungen, aber auch in Staat und Partei). Position und intellektuelle Fähigkeiten erklären die beiden Unterschiede zu den Überzeugten. Die Engagierten hatten eine kritische Einstellung zur DDR, an die sie dennoch durch ihren sozialen Aufstieg gebunden waren, und ein weit größeres Informationsbedürfnis, das auch von der ARD bedient wurde. Obwohl dieser Typ etwas mehr Ostfernsehen einschaltete und außerdem annahm, dass politische Sendungen auf beiden Seiten gefärbt sind, ärgerten sich die Engagierten über die Medien im eigenen Land, über "politische Engstirnigkeit", über fehlende Informationen und über "Jubeln bis zum Abwinken" (Kindergärtnerin, Jahrgang 1944).

Die Frustrierten haben in der DDR nicht gelitten, lehnten aber die "Phrasendrescherei" in den Medien ab und fanden im Extremfall selbst die Fußballreporter "peinlich" (Briefträger, Jahrgang 1962). Wie die Engagierten haben sie sich für Politik interessiert, dieses Bedürfnis aber vor allem in westlichen Funkmedien befriedigt. Diesem Typ wurden nur Männer zugeordnet (aus der technischen Intelligenz und aus Angestelltenberufen) - Männer, die nicht in der SED waren, keine Aufstiegserfahrung hatten und damit auch keine Bindung an die DDR. Einige kamen aus einem kirchlichen oder antikommunistischen Umfeld, andere durften nicht studieren und fühlten sich bei der Bezahlung benachteiligt oder durch den allgemeinen Mangel.

Die Distanzierten haben das System zwar ebenfalls abgelehnt, diesem Typ ist es aber besser gelungen, eine Nische zu finden und so ein einigermaßen erfülltes Leben zu führen. Fast alle Distanzierten hatten Kontakt zur Kirche, oft sogar beruflich. Nischen konnten auch Künstlermilieus bieten, die Familie oder kleine Firmen, in denen man ohne politische Bekenntnisse über die Runden kam. Die Distanzierten nutzten ein ähnliches (unterhaltungsbetontes) Medienmenü wie die Zufriedenen. Der Unterschied: eine dezidierte (ablehnende) Einstellung zur DDR-Medienpolitik. Wer von den Distanzierten die Möglichkeit hatte, sah die "Tagesschau" und glaubte den Westmedien.

Die Souveränen haben den DDR-Medien zwar genauso wenig getraut, das hat sie aber nicht daran gehindert, dort intensiv nach Informationen "aus erster Hand" zu suchen, nach der "Sicht der Macht" (Pfarrer, Jahrgang 1938). Dieser Typ hat die DDR abgelehnt und konnte deshalb nicht aufsteigen. Er wurde entweder von der Kirche bezahlt, war Künstler oder sonst relativ frei (wie ein Museumsarbeiter, Jahrgang 1950). Da es für die Souveränen ein Wert an sich war, informiert zu sein, haben sie sich über Unterhaltungssendungen eher abwertend geäußert, auch über die Angebote aus der Bundesrepublik.

Die Typologie zeigt, dass die ARD in der DDR auf ganz unterschiedliche Erwartungen getroffen ist. Wer abhängig beschäftigt war, in der Berufshierarchie eine der unteren Positionen einnahm und durch die vielen Anforderungen des Alltags ausgelastet war, hat die Medien vor allem als Mittel zur Ablenkung und Entspannung genutzt und sich in der Regel wenig Gedanken über die politischen Inhalte gemacht. Viele Frauen hatten nicht einmal für die Nachrichtensendungen Zeit und folglich erst recht nicht für Magazine wie "Report" oder "Panorama". Generell wurde nicht unbedingt umgeschaltet, um Informationen zu suchen. Entsprechende Sendungen wurden mitgenommen, in erster Linie aber ging es um Unterhaltung und Entspannung.

Anders als oft angenommen, ist die ARD außerdem keineswegs mit einem Glaubwürdigkeitsbonus in die deutsche Einheit gestartet. In der DDR hat, darauf deuten zumindest die Rekonstruktionen aus der Erinnerung hin, nur eine Minderheit ohne Einschränkungen den Nachrichtensendungen aus der Bundesrepublik vertraut, vor allem die Frustrierten, die Souveränen und die Distanzierten. Selbst diese drei Mediennutzertypen, die die SED-Medienpolitik ablehnten und sich vor allem am Westen orientierten, haben auch hinter den Informationen von der anderen Seite bestimmte Interessen vermutet und folglich mit Vorsicht und Skepsis reagiert. Für die Stärke der Westorientierung waren neben dem Meinungsklima im privaten Umfeld, neben der Bindung an den anderen Teil Deutschlands und den persönlichen (auch intellektuellen) Voraussetzungen die Erfahrungen entscheidend, die man mit dem System gemacht hat.

Zuschauer in der ersten Reihe

Die SED-Führung hat die Kritikfähigkeit der DDR-Bürger unter- und die Wirkung der ARD damit überschätzt. Diese These zielt nicht nur auf die "Aktion Ochsenkopf", auf den moralischen Druck in Sachen Westfernsehen oder auf den (inzwischen gut dokumentierten) Umgang mit den ARD-Korrespondenten, die auch von der Staatssicherheit beobachtet wurden, sondern auf die Informationspolitik insgesamt. Die Medienlenkung in der DDR ist am besten als politische PR zu verstehen. Der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten hat Public Relations als "Differenzmanagement zwischen Fakt und Fiktion" definiert und PR-Fachleute als "professionelle Konstrukteure fiktionaler Wirklichkeiten" beschrieben, die danach streben, "Sachverhalte stets in positiver Tönung" darzustellen - letztlich mit dem Ziel, "die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu manipulieren". Was in die DDR-Medien kam, sollte die Interessen der Herrschenden unterstützen - in der Auseinandersetzung mit dem Westen und im Kampf um die Köpfe der eigenen Bürger.

Die konkreten Anweisungen der Medienlenker sind deshalb nur zu verstehen, wenn man die jeweilige politische Situation berücksichtigt und weiß, dass sich die Parteispitze manchmal im Wortsinn vor dem Bildschirm versammelte und anschließend Meldungen und Kommentare schrieb. Hans Modrow, von 1971 bis 1973 Leiter der Abteilung Agitation des ZK der SED, sagte in einem Interview, das Fernsehen sei für Erich Honecker "am allerwichtigsten" gewesen. Agitationssekretär Werner Lamberz habe jeden Abend vor einem Gerät gesessen, auf dem alle vier Programme aus Ost und West simultan liefen. Auf einer Konferenz zur "politischen Massenarbeit der Partei" im Mai 1977, bei der das Fernsehen als "wichtigster gegnerischer Ideologieträger" bezeichnet wurde, klagte eine Arbeitsgruppe über das "uneffektive Nebeneinanderarbeiten" der Stellen, die die "feindlichen elektronischen Medien" analysieren (unter anderem die Nachrichtenagentur ADN, das Außenministerium und das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft). Bei der Hauptabteilung Monitor des Staatlichen Komitees für Rundfunk erlaube die "Kadersituation" weder, die "Feindtätigkeit" zu differenzieren, noch die Unterhaltungssendungen einzubeziehen.

Die Mitschriften dieser Abteilung Monitor stapeln sich heute im Archiv - oft versehen mit Anmerkungen von Joachim Herrmann, der 1978 Nachfolger von Lamberz wurde. Herrmann bearbeitete die Papiere mit Rotstift und Kommentaren, lief damit oft genug zu Honecker und schlug vor, wie man reagieren könne. Nicht wenige Texte wurden dabei vom Parteichef selbst in Auftrag gegeben und redigiert. Die SED-Spitze hielt die ARD für so wichtig, dass sie in der innenpolitischen Berichterstattung alles zu unterdrücken versuchte, was der Gegner für seine Interessen nutzen könnte, und Redaktionen vor allem dann kritisierte, wenn ein Beitrag trotzdem im Westen aufgegriffen wurde. Die DDR-Bürger konnten manche Meldungen nur verstehen, wenn sie sich auch im Westen informiert hatten.

In einem Leserbrief, den Herrmann im Juli 1988 aus Jena bekam, wurden gleich zwei Beispiele genannt: die Pressekampagne gegen den sowjetischen Film "Die Reue" (von Tengis Abuladse, 1984), der mit dem Stalinismus abrechnete (Erstaufführung im ZDF), und das Verschweigen des Skinheadüberfalls auf die Berliner Zionskirche am 17. Oktober 1987. Der Schreiber beklagte, "dass eine Reihe von Nachrichten wie selbstverständlich den Empfang entsprechender Sendungen westlicher Medien" voraussetze und dass "die Bevölkerung unseres Landes" in manchen Fällen verspätet oder gar nicht informiert werde. Ralf Bachmann, der von 1981 bis 1986 für ADN in Bonn war, bekam auf die gleiche Kritik von seinen Vorgesetzten "zwei Antworten". Man wolle "Unruhe und Unsicherheit" vermeiden, und außerdem genüge es ja, "wenn das vom Westfernsehen gebracht wird, damit erfahren es doch alle". Sein Bericht über eine der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten (1983) sei in Ost-Berlin auf Skepsis gestoßen. Honecker habe die Direktübertragung im Westfernsehen verfolgt, nachgezählt und gezweifelt, dass man eine halbe Million Teilnehmer melden könne. "Bei dieser Vorsicht blieb es. Von unserer Berichterstattung wurde nichts übernommen, was man nicht selbst am Bildschirm gesehen hatte."

Auf diese Weise kam der Klassenfeind am Ende selbst zu den DDR-Bürgern, die ARD-Sendungen aus Überzeugung mieden oder im Westfernsehen eher auf Unterhaltung aus waren. Da man die Ziele und Mechanismen der Medienlenkung kannte, konnte jeder politisch Interessierte auch aus der SED-Presse oder der "Aktuellen Kamera" auf die Haltung der Gegenseite schließen, auf außen- und innenpolitische Konfliktherde sowie auf wirtschaftliche Probleme - erst recht, wenn er intensiv die Berichterstattung aus der Bundesrepublik verfolgte. Für den Leipziger Schriftsteller war nicht nur die "Tagesschau" ein "absolutes Muss", sondern auch das "Neue Deutschland" ("Ich habe bestimmt jeden Tag eine Stunde gelesen"). Da die Zeitung etwa zur gleichen Zeit Redaktionsschluss hatte, habe er "schon am nächsten Vormittag sehen" können, wie die SED mit den Meldungen aus dem Westen "umgegangen" ist. Die DDR-Bürger fanden so selbst in der politisch inszenierten Öffentlichkeit genügend Indizien für die Agonie des Systems - auch dank der ARD.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Lothar Loewe, Abends kommt der Klassenfeind. Fünf Teile, in: Der Spiegel, Nr. 33-37 1977; Kurt R. Hesse, Westmedien in der DDR, Köln 1988; Gunter Holzweißig, Zensur ohne Zensor, Bonn 1997, S. 168f.; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989, Bonn 1998, S. 71; Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz 1999, S. 177f.

  2. Fritz Pleitgen, Impressionen zur deutsch-deutschen Fernsehgeschichte, in: Deutsches Rundfunkarchiv (Hrsg.), In geteilter Sicht. Dokumentation eines Symposiums, Potsdam 2004, S. 17-24.

  3. Vgl. Rüdiger Steinmetz/Reinhold Viehoff (Hrsg.), Deutsches Fernsehen Ost, Berlin 2008.

  4. Vgl. Michael Meyen, Kollektive Ausreise? Zur Reichweite ost- und westdeutscher Fernsehprogramme in der DDR, in: Publizistik, 47 (2002) 2, S. 200-220.

  5. Vgl. ders., Denver Clan und Neues Deutschland. Mediennutzung in der DDR, Berlin 2003, S. 15-35.

  6. Vgl. ders., Hauptsache Unterhaltung, Münster 2001, S. 218.

  7. Vgl. ebd., S. 217 ff.

  8. Vgl. Jochen Staadt/Tobias Voigt/Stefan Wolle, Operation Fernsehen. Die Stasi und die Medien in Ost und West, Göttingen 2008; Rolf Geserick/Arnulf Kutsch, Möglichkeiten und Behinderungen des Informationszugangs für westdeutsche Korrespondenten in der DDR seit 1972, in: Publizistik, 29 (1984) 4, S. 455-491.

  9. Klaus Merten, Zur Definition von Public Relations, in: Medien & Kommunikationswissenschaft,56 (2008) 1, S. 42-59.

  10. Gespräch mit dem Autor und Anke Fiedler am 8. Dezember 2009 in Berlin.

  11. Konferenz "Die weiteren Aufgaben der politischen Massenarbeit", 25. bis 26.5.1977 (Abteilung Agitation), in: SAPMO-BArch, DY 30/vorl. SED 33906, nicht paginiert.

  12. Brief an Herrmann vom 3.7.1988 (Büro Joachim Herrmann), in: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/2.037/36, Bl. 106 ff., hier 107.

  13. Ralf Bachmann, Ich bin der Herr. Und wer bist du?, Berlin 1995, S. 249f.

Dr. phil., geb. 1967; Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Schellingstraße 3, 80799 München. E-Mail Link: meyen@ifkw.lmu.de