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Auf Angst gebaut | Stadtentwicklung | bpb.de

Stadtentwicklung Editorial Die Zukunft der Städte Stadt, Solidarität und Toleranz Heimischsein, Übernachten und Residieren - wie das Wohnen die Stadt verändert Rekonstruktion! Warum? Gentrifizierung im 21. Jahrhundert Auf Angst gebaut

Auf Angst gebaut

Michael Zinganel

/ 15 Minuten zu lesen

Die Stadtbewohner finden sich in ihrem Alltag zunehmend in einem Kontinuum wechselnder Kontrollmilieus wieder, die sich mehr oder weniger hermetisch voneinander abschließen können. Jedoch zeigt sich tagtäglich die Durchlässigkeit der Grenzen durch eine Vielzahl von Grenzüberschreitungen.

Einleitung

Sowohl die Errichtung der Urhütte als auch die Gründung der allerersten Städte stehen in ursächlichem Zusammenhang mit den Sicherheitsbedürfnissen ihrer Bewohner. Sie sind gewissermaßen Gründungen der Angst: Angst vor Unwettern, Umweltkatastrophen, vor wilden Tieren oder vor gefährlichen oder als gefährlich imaginierten menschlichen Subjekten. Denn die mit der Einführung des Ackerbaus dem kargen Boden mühevoll abgerungenen Früchte sollten natürlich nicht anderen zufallen, die sich illegitimen Zugang zu den Lagern verschafften. Und auch die mit dem Aufkommen des Handels entstehenden Städte schützten sich und ihre Güter mithilfe von Mauern vor Eindringlingen aus dem Außen.

Mauern schließen aber nicht nur aus sondern auch ein. Schutz bedeutet immer auch die Kontrolle der Schutzbedürftigen. Und tatsächlich lauern die Gefahren nicht nur im Außen - die Gefahren lauern auch in der eigenen Wohnung, in der eigenen Festung, in der eigenen Stadt. Sie sind im vermeintlich Sicheren mit eingeschlossen und werden daher zu ihrer Bewältigung auf das Außen - auf das Andere, das Fremde - projiziert. Diese Bedrohungen aus dem Außen sind zum Anderen aber auch essentiell für die Konstitution und Selbstversicherung von Gemeinschaften: denn die eigene "Normalität" stellt sich vorrangig durch die Abgrenzung von den Anderen - und dabei sehr häufig durch deren Denunzierung oder Diabolisierung - her.

Gegen die Feinde von Außen wurden einst bekanntlich Wälle und Gräben errichtet, die in einem ständigen Hochrüstungsprozess gegen die immer weiter reichenden Angriffswaffen ausgebaut werden mussten. Es entstanden komplexe Bastionen mit Grüngürteln, die bebauungsfrei gehalten wurden, um sich nähernde Angreifer sofort erkennen und unter Beschuss nehmen zu können. Nach 1800 erreichten die Waffen der Artillerie schließlich eine so hohe Reichweite und Schlagkraft, dass Angreifer aus ihren Verdecken in und hinter den Vororten schießen konnten und die Stadtbefestigungen daher aus wehrtechnischen Gründen obsolet wurden. Danach wuchsen die Städte rasant an, inkorporierten ihre Vorstädte und schlossen mit ein, was vormals ausgegrenzt oder ausgelagert wurde. Dadurch wechselte der potentielle Feind vom Außen ins Innere der Städte. Denn die Machthaber begannen nun die eigene Bevölkerung zu fürchten: zuerst die Aristokratie die bürgerlichen Revolutionäre und dann die Bürger die proletarischen Massen der Vorstadt. Gegen diese "neuen" Feinde von Innen wird nun vorrangig präventiv vorgegangen: durch die Präsenz von Polizei, den Ausbau der städtischen Beleuchtung (die im 20. Jahrhundert durch die Videoüberwachung ergänzt werden wird) und durch städtebauliche Baumaßnahmen, die der Übersichtlichkeit des Stadtgefüges dienen und den raschen Einsatz der Sicherheitseinheiten ermöglichen.

Kontrollgesellschaft im Wandel

Der Philosoph Michel Foucault bediente sich in seiner Analyse dieser Kontrollgesellschaft einer bildmächtigen Metapher: Ihr Prinzip, "das alles durchziehende Kerkergewebe der Gesellschaft", repräsentiere sich ihm zufolge paradigmatisch im Panopticon, jenem 1787 von Jeremy Bentham entworfenen Modell eines idealen Gefängnisses, in dem sich in einem kreisförmigen Gebäude einsichtige Zellen radial um einen uneinsichtigen zentralen Überwachungsturm anordnen. Den Gefangenen soll bewusst gemacht werden, dass sie immer gesehen werden ohne ihrerseits ihre Überwacher sehen zu können. Dadurch würde "das automatische Funktionieren der Macht sichergestellt". Die Macht würde automatisiert und entindividualisiert, die Überwachung von der Architektur selbst übernommen.

Das Individuum durchläuft heute aber die großen Kontrollmilieus der Gesellschaft nicht mehr allein in chronologischer Reihenfolge als Teil seiner Lebensbiografie, zuerst als Kind "eingeschlossen" in der eigenen Familie, dann in der Schule, auf der Universität, beim Militär, in der Fabrik, im Krankenhaus usw., wie sie sich Foucault vorgestellt hatte, sondern es wechselt täglich zwischen den unterschiedlichsten Kontrollmilieus, die zunehmend von privaten Unternehmen verwaltet werden, und deren Zugang daher vorrangig nach ökonomischen Regulativen organisiert wird.

Die zunehmende Privatisierung der vormals öffentlichen Räume und ihre Bewirtschaftung haben zu einer Segmentierung der Territorien und ihrer Kontrolle geführt. Aber auch das Individuum selbst sieht sich zunehmend mit der eigenen fragmentierten Identität konfrontiert. Patchwork-Familie und patchwork-Einkommen werden seine Existenz in der deregulierten Wirtschaft in zunehmendem Maße kennzeichnen.

Gleichzeitig wurden in den westlichen Ländern generalisierte und konsensfähige Werteordnungen für alle von unzähligen Subkulturen abgelöst. Was früher als exzentrisches oder auffälliges Verhalten misstrauisch beobachtet und mitunter als Überschreitung geahndet wurde, wird heute womöglich als Freizeittrend für kaufkräftige Schichten vermarktet. Wie die Marketingkonzepte der Unternehmen wird auch das Handeln der Ordnungsmacht reorganisiert: "In der Kontrollgesellschaft begegnet der Staat dem Niedergang einer universalen Moral daher mit einer ,Entmoralisierung' der Kontrolle. Die Ideen der Resozialisierung, der Besserung und der Behandlung verlieren ihr Gewicht und werden durch das ,moralferne' technokratische Konzept der Sicherheit ersetzt." Paradigmatisch für diese Entwicklung ist die hohe Akzeptanz einer geradezu flächendeckenden Ausbreitung der Videoüberwachung.

"Die alles durchdringende und zunehmend technisch vermittelte Überwachung bezieht sich in instrumenteller Reinheit auf die Interessen der jeweiligen Raumbesitzer. Anstelle des von Foucault beschworenen alles durchziehende Kerkergewebe der Gesellschaft stellt sich das neue Bild als Bienenstock verschiedenster Kontrollräume der unterschiedlichen privaten Regierungen dar, ,du kannst tun was du möchtest, aber tue es in dem dafür vorgesehenen Raum in der dafür vorgesehenen Weise - das gewährt dir Sicherheit vor uns und uns Sicherheit vor dir'."

Der Bedarf nach "Sicherheiten" geht aber auch von den Subjekten selbst aus. Und die Akzeptanz für Überwachung und Kontrolle steigt mit dem Maß anderer sozialer Verunsicherungen, wie sie vor allem in signifikanten gesellschaftlichen Umbruchsphasen zu Tage treten: Das betrifft nun auch uns. Denn seit den vergangenen Jahrzehnten kündigt sich in den von Globalisierung, Deindustrialisierung und Flexibilisierung sowie von neuen Migrationsströmen gekennzeichneten spätmodernen Gesellschaften eine "Prekarisierung" der Lebensumstände an, die breite Teile der Bevölkerung erfassen wird und diese daher auch für Verunsicherungen aller Art in besonderem Maße anfällig macht.

Die englische Sprache hält drei semantisch klar differenzierte Begriffe bereit, um diese sich gegenseitig verstärkenden Formen der Verunsicherung zu beschreiben: "Security", "Certainty" und "Safety". Zygmunt Bauman beschreibt den Zusammenhang einer zunehmenden sozialen Unsicherheit, einer schwindenden Verlässlichkeit bezüglich existenz- und familiensichernder Erwerbspositionen und einer Angst vor Kriminalität, die eine erhöhte Erwartungshaltung gegenüber dem Staat produzieren, die dieser nicht mehr einzulösen im Stande ist. Die Akteure reagieren daher in zunehmendem Maße frustriert mit sozialen und räumlichen Rückzugs- und Einschlussstrategien ins Private, in die jeweilige eigene Subkultur, in den eigenen Stadtteil.

Zum anderen war und ist "Sicherheit" seit jeher auch immer ein zur Schau gestelltes Statussymbol jener, die sie sich leisten konnten. So entstand auf Basis unterschiedlichster diffuser "Verunsicherungen" ein äußerst veritabler ausdifferenzierter Markt an ebenso diffusen "Sicherheitsversprechen": Besonders produktiv sollte sich dabei die Erfindung des volatilen Begriffs der gefühlten, subjektiven Sicherheit in den frühen 1980er Jahren erweisen, der zur Instrumentalisierung durch die neoliberale Sicherheits- und Wirtschaftspolitik geradezu einlud. Nutznießer dieser "Verunsicherungen" sind daher nicht nur die Massen-Presse, die Polizei und populistische Politiker, sondern vor allem auch eine boomende private Sicherheits- und Versicherungsindustrie. Aber auch für Architekten, Stadt- und Landschaftsplaner eröffneten sich neue Arbeitsmöglichkeiten, auch wenn sie das nur ungern eingestehen wollen. Denn sie begeben sich dabei in problematische Allianzen mit den oben genannten Berufsgruppen, die ihre spezifischen Ansprüche an einen "sicheren" öffentlichen Raum in Bauordnungen und technische Normen zu implementieren versuchen, die zunehmend einer internationalen Angleichung unterzogen werden.

Von der Prävention zum New Urbanism

Tatsächlich hat sich in den USA und in Großbritannien die Verbrechensprävention im Bauwesen schon früh sowohl als akademisches Forschungsgebiet als auch als praktische Planungsaufgabe etabliert: Crime Prevention Through Environmental Design (CPTED) versteht sich ursprünglich als Gegenstrategie zur traditionellen Befestigungsarchitektur.

Sie basiert auf der Kritik der modernen Massenwohnquartiere und der von Anonymität und zunehmender Kriminalität gekennzeichneten Großstadt. Im Gegensatz dazu setzt sie vor allem auf die Verbesserung der sozialen (Selbst-)Kontrolle der Bewohner und Nutzer in kleinen überschaubaren und abgegrenzten Einheiten, in denen die halböffentlichen Räume bestenfalls belebt, jedenfalls aber permanent einsichtig und gut ausleuchtet sind. Fremde sollen hier sofort als Eindringlinge erkennbar sein. Die Ansiedlung Gleichgesinnter soll die Gemeinschaftsbildung stärken und die gestalterische Aufwertung deren Identifizierung mit der Nachbarschaft.

Die Immobilienwirtschaft übernahm diese Anregungen mit Begeisterung. Sie kombinierte allerdings die Strategien der situativen Prävention mit konventionellen Befestigungs- und Ausschlusstechniken. Es entstand ein regelrechter Boom an neu errichteten "sicheren" Wohnanlagen, in der Regel Einfamilien- oder Reihenhaussiedlungen, die durch die Höhe des Kaufpreises sowie die distinktiven Freizeitangebote und das Design eine gewisse Homogenität der Bewohnerschaft garantierten, und die nach außen durch Zäune, Mauern und private Wachdienste festungsartig abgeschirmt waren. Als Voraussetzung für den Erfolg dieser gated communities musste die konsequente Diabolisierung gefährlicher Subjekte, Gruppen oder ganzer Stadtteile weiter vorangetrieben werden. Auf diese Weise wurde die Flucht des Mittelstandes aus den Innenstädten beschleunigt und ein fragmentiertes Patchwork aus Hochsicherheitstrakten und Ghettos zurückgelassen - bis auch dieses einer "sicheren" Restrukturierung unterzogen wurde.

Oscar Newman, der bereits 1972 den Begriff des "defensible space" geprägt und damit die wissenschaftlichen Grundlagen für den New Urbanism gelegt hat, muss daher rückwirkend wohl als einflussreichster Theoretiker der Stadtplanung in den USA betrachtet werden. In jeden Fall aber gilt er als Pionier der situativen Prävention. Und seine Arbeit hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Sicherheitsaspekte - zuerst in den USA und in Großbritannien - zunehmend zu integralen Bestandteilen des architektonischen Entwurfprozesses entwickelt haben. Auch in Deutschland veranstaltete das Bundeskriminalamt bereits 1979 einen ersten Kongress zu Städtebau und Kriminalität. Und seit 2005 bietet das Bundeskriminalamt eine Planungsmappe für Befestigungstechniken und situative Prävention sowie Schulungskurse für Planer an.

Re-Militarisierung der Städte

Nicht nur Wohnanlagen sondern vielmehr auch die riesigen Büroanlagen, Shopping Malls und Freizeitparks, die immer größere Anteile des vormals öffentlichen Raums der Stadt einnehmen, verschließen sich zusehends. Es ist aber keineswegs ein Privileg der privaten Immobilienentwickler und ihrer Sicherheitsdienste, eine Re-Militarisierung der Städte voranzutreiben und immer smarter werdende Ausschlusstechniken für Unerwünschte zu entwickeln. Auch die Staatsmacht selbst ist daran beteiligt. Im Folgenden werden in chronologischer Reihenfolge drei Beispiele angeführt, wie aufgrund jeweils unterschiedlicher Gefahrenszenarien präventive Maßnahmen gegen Unerwünschte gesetzt und dabei vergangen geglaubte Strategien wiedererweckt werden:

Wien nach 1848:

Die Wiener Rindstrasse, ein breiter prächtiger Boulevard an dem sich weiträumige Parks, Repräsentationsbauten der konstitutionellen Monarchie und der aufgeklärten Kultur wie das Parlament, das Rathaus, Theater, Museen und die Universität sowie die Wohnpaläste des neuen bürgerlichen Establishments aneinander reihen, stellt unzweifelhaft eine der signifikantesten topographischen Zäsuren im Stadtbild gewachsener europäischer Großstädte dar. Die alten 1641 bis 1672 errichteten Bastionen und das sie umgebene bis zu 350 Meter breite unbebaute Glacis, die einst die Stadt gegen Angriffe von außen (z.B. gegen die Türken) geschützt hatte, sollten nun die Voraussetzung bilden, Maßnahmen zu schaffen, um auch gegen die neuen Feinde von innen erfolgreich vorzugehen.

Denn der Bau der Ringstrasse war nicht nur vom bürgerlichen Repräsentationsbedarf, sondern vor allem auch von militärstrategischen Erwägungen geleitet. Nach der Revolution von 1848 suchte das Militär seine Maßnahmen gegen zukünftige Volksaufstände zu verbessern. Um die Implementierung ihrer Forderungen zu garantieren, wurden Offiziere in die Vorbereitung und Entscheidung des Wettbewerbes zur Neugestaltung der Ringstrasse eingebunden. Den Kern ihrer Strategie bildete ein "Festungsdreieck", bestehend aus zwei riesigen Defensivkasernen an den jeweiligen Enden der Ringstraße am Donaukanal. Die Waffenlager in der Innenstadt, die im Revolutionsjahr dem "inneren Feind" in die Hände gefallen waren, wurden zu einem großen zentralen Arsenal (1849-1855), zusammen gefasst, das nunmehr die Spitze des Festungsdreiecks bildete und mit seiner modernen Artillerie bis ins Zentrum reichte. Auch das äußere Burgtor sollte bewaffnet und jeweils auf halbem Wege zu den Defensivkasernen zwei zusätzliche Wachthäuser errichtet werden, um die Sichtbeziehung zwischen den einzelnen militärischen Anlagen rund um den Ring zu garantieren. Der gesamte Boulevard hätte so unter Feuer genommen werden können, sollten "aufrührerische Volksmassen aus den Vorstädten" in die Innenstadt einzudringen versuchen. Wie in Paris entsprach auch hier Fahrbahnbreite des Boulevards der Breite der eines geordnet aufmarschierenden Bataillons. Die beidseitig parallel geführten Reitalleen sollten das Vordringen der Kavallerie erleichtern.

London nach 1992:

In London sind die Grenzziehungen zwischen historischer Innenstadt und deren Vorstädten bei weitem nicht so signifikant wie in Wien. Die alte City ist aber ebenso wie in Wien Ziel des Städte-Tourismus, teuerste Konsumzone und eines der weltweit bedeutendsten Finanzzentren.

Im April 1992 hatte nun genau dort eine Lastwagenbombe der IRA zwei Büroblöcke in Stücke gerissen: das Baltic Exchange, in dem der weltweit führende Markt für den Schiffshandel angesiedelt war, sowie das Gebäude der Commercial Union. Zwar richtete sich der Krieg der IRA gegen die britische Krone und die staatlichen Institutionen, doch mit diesem Angriff traf er tatsächlich die Achillessferse der britischen Metropole: vor allem internationale Finanzdienstleistungsunternehmen fühlten sich besonders von der Anschlagserie betroffen. Nachdem diese der City of London drohten, in andere Metropolen abzuwandern, falls ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne, musste umgehend reagiert werden. Nun ging es nicht mehr allein um den symbolischen Schaden der angegriffenen Institutionen in einem aus den engen Grenzen ausbrechenden Bürgerkrieg, sondern Londons Status als Wirtschaftsstandort, als global city, schien plötzlich auf dem Spiel zu stehen - und damit die Wirtschaft der gesamten Nation.

Der Financial District in der City of London musste daher zu einer Hochsicherheitszone ausgebaut werden, in der neben verbesserten Fortifikationstechniken der einzelnen Bauten und einer umfassenden Videoüberwachung der völligen Neuordnung des Verkehrssystems der City eine bedeutende Rolle zukam. Die Anzahl der Zufahrtsstraßen (und später auch die der Ausfahrtsstraßen) wurde auf nur sieben reduziert, die alle mit Kontrollposten ausgestattet wurden, an denen jeweils zwei Videoüberwachungskameras sowohl die Kennzeichen der einfahrenden Autos als auch die Gesichter ihrer Fahrer aufnehmen und mit Dateien aus dem Polizeicomputer vergleichen können.

Genua 2001:

Keineswegs Sitz der Spitzen des internationalen Kapitals, wurde Genua im Juli 2001 Opfer des Repräsentationsdrucks im Städtewettbewerb, nachdem Silvio Berlusconi die Idee hatte, sich selbst und die aktuelle Gentrifizierung der Hafenstadt durch ein Treffen der Allermächtigsten weltweit mediengerecht vorzustellen - in einem Mega-Event, dessen außergewöhnliche Inszenierung schlussendlich außer Kontrolle zu geraten schien.

Der Hafen und die engen Gassen der Altstadt wurden für die Dauer des Gipfels als Hochsicherheitszone ausgewiesen, gänzlich geräumt und systematisch abgeriegelt. Während die Wirtschaftskapitäne und Regierungschefs der acht mächtigsten Staaten der Welt auf eigens angemieteten (Kreuzfahrt-)Schiffen im Hafen konferierten, wurden private Boote verbannt und mussten sich während des Gipfels einen anderen Ankerplatz suchen. 30.000 Bewohner der Altstadt wurden überprüft und registriert. Niemand durfte die zona rossa ohne Sondergenehmigung betreten. Die Zugangsstraßen und Gässchen zur Altstadt wurden mit über zwei Meter hohen Stahlgittern abgeriegelt. Und dort, wo der Platz es zuließ, wie beispielsweise am Hafen, wurden sogar Trennwände aus übereinander geschichteten Containern errichtet, als ginge es darum, die mittelalterliche Stadtmauer wieder aufzubauen. Anlässlich des G8-Gipfels wurde für wenige Tage tatsächlich ein Ring of Steel errichtet, der die rote Hochsicherheitszone von der gelben Gefahrenzone abgrenzen sollte.

Die potentiellen Feinde waren hier weder aufrührerische proletarische Massen wie im kaiserlichen Wien noch Terroristen wie in London, sondern rund 200.000, inzwischen weltweit organisierte Kritiker der Politik der westlichen Wirtschaftsmächte.

Ausnahmezustand

Mit dem G8-Gipfel von Genua trat erstmals äußerst signifikant zutage, dass die Verteidigung von Treffpunkten von Regierungsvertretern und Wirtschaftskapitänen durch die Staatsmacht (auch auf europäischem Boden) eine radikale Ausweitung erfährt, die von massiven Eingriffen in Stadtgestaltung und -nutzung sowie in das Bürgerrecht charakterisiert sind. Hier entsteht eine flexible Stadt, die sich dem Repräsentations- und Schutzbedürfnis von Vertretern der Regierungs- oder Wirtschaftsmächte bei Bedarf völlig unterordnen muss. De-Territorialisierung und Re-Territorialisierung betroffener Stadtteile können scheinbar nach Belieben verfügt werden. Die Bürger der Stadt werden vorübergehend ausgesperrt oder auf bestimmte Zeit enteignet. Der Staatsapparat versetzt eine ganze Stadt in militärischen Ausnahmezustand, er demonstriert seine Wehrbereitschaft durch die baulichen Maßnahmen, ebenso wie durch das martialische Auftreten seiner Truppen, die den Widerspruch seitens der Gegner erst recht herausfordert. Auf symbolischer Ebene wird dadurch eine eindeutige Bewertung vorgenommen, die zu schützenden aufgewertet und die ausgeschlossenen, vermeintlichen Angreifer diabolisiert.

Relativierung

Das Individuum findet sich daher in seinem Alltag zunehmend in einem Kontinuum wechselnder Kontrollmilieus wieder, die sich mehr oder weniger hermetisch voreinander abzuschließen imstande sind: Kritiker zeichnen sogar ein dystopisches Bild der Stadt aus privatisierten und privat verwalteten und bewachten Zonen des Konsums, aus Business-Bunkern und gated communities, in deren verbliebenen Zwischenräumen die staatlichen Kontrollinstanzen gegen potentielle Übergriffe patrouillieren.

Diese sozialräumlichen Verinselungen sind aber keineswegs so hermetisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Denn Arbeitsort, Schule oder Konsum- und Freizeiteinrichtungen lassen sich nur durch die Überschreitung ihrer Grenzen erreichen. Darüber hinaus wird der dem angestrebten Milieu und Status angepasste Lebensstil durch eine Vielzahl an Dienstleistungen ermöglicht. Interessant, dass dabei gerade Subjekte aus jenen sozial niedrigen Milieus, die bislang als bedrohlich galten, in die geschützten Bereiche der Wohlhabenden eingeladen werden.

Und so kommt es tatsächlich tagtäglich zu einer Durchlässigkeit der Grenzen durch die Vielzahl von Grenzüberschreitungen, wenn beispielsweise Kindermädchen, Reinigungs- und Sicherheitspersonal aus den ärmeren Stadtteilen die Haushalte und Arbeitsstätten von Wohlhabenden aufsuchen. Besonders signifikant zeigt sich diese Überschreitung, wenn die Nachtschichten in den großen Krankenanstalten und Altenheimen beginnen, und der ohnehin große Anteil an Pflegepersonal mit migrantischem Hintergrund noch weiter anwächst - als würde über Nacht die gesamte Pflege des erkrankten oder überalterten Mittelstandes allein in die Hände von Zuwanderinnen und Zuwanderern gelegt werden.

Zudem suchen auch im urbanen Alltag in Mitteleuropa viele der behütet aufgewachsenen und gebildeten Mittelschicht in ihrer Freizeit in zunehmendem Maße gerne Areale auf, die von heterogenen sozialen Gruppen frequentiert werden, oder die zumindest eine gesicherte Aussicht auf andere "interessantere" soziale Milieus ermöglichen. Es zeigt sich sogar, dass Städte im regionalen und internationalen Wettbewerb Zonen authentischer urbaner Kultur aufweisen müssen, an denen sie ihre "Toleranz" gegenüber unterschiedlichen sozialen Randgruppen offensiv zur Schau stellen. Die hochmobilen kreativen Milieus suchen geradezu nach solchen Zonen, wie sie sich beispielsweise in der Nähe disfunktionalisierter urbaner Brachen und informeller migrantisch geprägter Märkte entwickeln. Die Präsenz sozialer Gruppen, die für die Einen der Anlassfall der Aus- und Abgrenzung sind, kann für die Anderen zum unerlässlichen Attraktor werden.

Aber auch selbst Tatorte realer Verbrechen, Orte politischer Konflikte, vormals oder aktuell gefährliche Zonen der Stadt lassen sich zu touristischen Attraktionen für "Authentizität" suchende Stadttouristen umwerten. Wiederum ist es gerade der gebildete Mittelstand, der abseits der ausgetretenen Pfade der Tourismusindustrie, die wahren Mythen der Stadt zu erfahren sucht, herumstreifend wie ein Stadtforscher, auf der Suche nach den Anderen, den Ausgeschlossenen, an deren Scharfblick er - in seinen Imaginationen - zu partizipieren versucht.

Ironischerweise wirkt die zunehmende Implementierung von Sicherheitsstrategien in Architektur und Stadtplanung gleichzeitig in einander völlig entgegen gesetzten Formen auf die Entwicklung des Gemeinwesens: zum Einen wird die erhöhte Selbsteinschließung und Abschottung von Individuen und Gruppen unterstützt. Das schwächt das Gemeinwesen und überlässt den öffentlichen Raum gefährlichen Randgruppen. Zum Anderen sind diese Rückzugsmöglichkeit und die Sicherheit in der Integrität des geschützten Privatraums die Voraussetzung, dass sich die Individuen überhaupt "gestärkt", gefestigt und entsprechend selbstsicher in die halböffentlichen und öffentlichen Räume der Stadt wagen.

Aber auch die Selbstverschließung kann gegensätzliche Wirkungen nach sich ziehen: sie kann zur völligen Vereinzelung der Akteure führen. Sie kann aber auch dazu beitragen, kleine übersichtliche soziale Gemeinschaften oder Subkulturen zu produzieren, deren spezifische Identität stiftenden Kulturen, Zeichen und Rituale wiederum bei anderen Akteuren auf erhöhtes Interesse stoßen. Was also einmal ein, aus- oder abgeschlossen war, kann so neue Begehrlichkeiten produzieren ...

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1977.

  2. Vgl. Michael Lindenberg/Henning Schmidt-Semisch, Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust, in: Kriminologisches Journal, 27 (1995) 1, S. 2-17.

  3. Ebd.

  4. Ebd.

  5. Vgl. Zygmunt Bauman, Die Krise der Politik. Fluch und Chance einer neuen Öffentlichkeit, Hamburg 2000, S. 13f., 30ff.

  6. Vgl. Fritz Sack/Michael Zinganel, Maximum Security. Zur Konstruktion von Bedrohung, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) (Hrsg.), Revisting Home. Wohnen als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, Berlin 2006, S. 40-69.

  7. Vgl. C. Ray Jeffery, Crime Prevention Through Environmental Design. Beverly Hills/CA 1971.

  8. Vgl. Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Berlin 1963.

  9. Vgl. Oscar Newman, Defensible Space. People and Design in the Violent City, New York 1972.

  10. Vgl. Barry Poyner, Design against Crime. Beyond Defensible Space, London 1983.

  11. O. Newman (Anm. 9).

  12. Vgl. Edwin Kube (Hrsg.), Städtebau und Kriminalität. Internationales Symposium im Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1979.

  13. Vgl. Kurt Mollik/Hermann Reining/Rudolf Wurzer, Planung und Verwirklichung der Wiener Ringstraßenzone, in: Renate Wagner-Rieger (Hrsg.), Die Wiener Ringstraße. Bild einer Epoche, Wiesbaden 1980, S. 164.

  14. Vgl. Jon Coaffee, Fortification, Fragmentation, and the Threat of Terrorism in the City of London in the 1990s, in: John R. Gold/Georg Revill (eds.), Landscapes of Defence, London 2000, S. 114-129.

  15. Vgl. Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin 1994.

Dr. phil. DI, geb. 1960; Architekturtheoretiker und Kulturhistoriker in Wien. E-Mail Link: zinganel@mur.at
Externer Link: www.zinganel.mur.at