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Arbeit und Autonomie. Plädoyer für eine nachhaltige Arbeitspolitik

Cordula Drautz

/ 14 Minuten zu lesen

Deutschlands Arbeitspolitik ist nicht nachhaltig Eine nachhaltige Arbeitspolitik bezieht die Qualität der Arbeit ein, beruht auf einem erweiterten Arbeitsbegriff und berücksichtigt die Wechselwirkungen zwischen Lebenswelt und Arbeitswelt.

Einleitung

Deutschlands Arbeitspolitik ist nicht nachhaltig. Die Sozialversicherungssysteme, das Lohngefüge, die Arbeitszeitgesetze - sie alle bauen auf einer Vorstellung von Arbeit auf, die überholt ist. Will Deutschland im internationalen Wettbewerb um die Wirtschaftskraft in der weltweiten Spitzengruppe mitspielen und gleichzeitig für Beschäftigte ein attraktives Land bleiben, sind substanzielle Veränderungen notwendig.

Aktuelle politische Debatten zeigen, dass die den deutschen Arbeitsmarkt regulierenden Systeme den gesellschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden. Die Kontroversen um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um die Vergütung von Managern, Mindestlöhne und eine angemessene Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit sind Beispiele dafür.

Nachhaltigkeit sozial und ökonomisch denken

Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss daher auch auf Arbeitspolitik angewandt werden. Der Nachhaltigkeitsgedanke entspringt der Vorstellung, dass Systeme sich aus sich selbst regenerieren müssen, damit ihre Grundlage erhalten bleibt. Ist also in der Forstwirtschaft wichtig, dass nur so viele Bäume abgeholzt werden, wie auch nachwachsen können, gilt in der Arbeitswelt und in modernen Volkswirtschaften, dass die individuelle Arbeitskraft und die kollektiven Arbeitsbeziehungen so justiert werden müssen, dass sie dauerhaft den Wohlstand des Landes erhalten. Nur so wird der zentralen Bedeutung von Arbeit in der deutschen Gesellschaft - sowohl aus volkswirtschaftlicher als auch aus individueller Sicht - Genüge getan. Um eine auf Dauer zukunftsfähige und lebenswerte Gesellschaft zu schaffen, die widerstandsfähig gegen negative Entwicklungen ist und flexibel auf veränderte ökonomische und soziale Umstände reagieren kann, muss ein Ausgleich zwischen den verschiedenen sozialen Krften und nicht zuletzt zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen angestrebt werden. Dies ist nur möglich, wenn die Partizipation aller Mitglieder dieser Gesellschaft gewährleistet ist.

Die Grundlagen des Wohlstandes der "Deutschland-AG" sind jedoch durch ökonomische und soziale Entwicklungen gefährdet. Der demografische Wandel und eine alternde Gesellschaft führen dazu, dass es immer mehr Menschen gibt, die aus den Sozialversicherungssystemen Rente beziehen, während immer weniger Beitragszahler in das System einzahlen. Obwohl die Arbeitslosigkeit in den vergangenen Jahren insgesamt zurückging, ist die Zahl der Arbeitssuchenden angestiegen: Viele Menschen sind unterbeschäftigt und würden gern mehr arbeiten. Signifikant zugenommen hat auch der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Dieser Sektor fängt nicht etwa gering qualifizierte Arbeitnehmer auf, vielmehr verfügen mittlerweile bis zu 80 Prozent der hier Beschäftigten über formale Berufsqualifikationen. Der Staat muss daher zunehmend Löhne unterhalb der Armutsgrenze subventionieren. Die Löhne von mehr als einer Million Beschäftigten werden mit Arbeitslosengeld II aufgestockt. Gewerkschaften fordern daher: "Von Arbeit muss man leben können."

Auch sogenannte atypische Beschäftigungen nehmen zu. Immer weniger Menschen arbeiten abhängig beschäftigt in Vollzeit. Stattdessen nehmen alternative Beschäftigungsformen zu. So steigt zum Beispiel die Anzahl der Solo-Selbstständigen, der Leih- und Zeitarbeiter. In diesen Bereichen hat ein Beschäftigungswachstum stattgefunden, mit dem die qualitative Entwicklung des Arbeitsmarktes jedoch nicht Schritt hält. Im Zuge dieser weiter fortschreitenden Flexibilisierung ist der Markt zwar aufnahmefähiger geworden, allerdings auch um den Preis größerer Lohnungleichheit. Die Einkommen der unteren und mittleren Einkommensgruppen haben real nicht zugenommen, die Spreizung des Lohngefüges hingegen schon. Die Einkommensungleichheit hat in Deutschland stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land.

Hinzu kommt, dass institutionelle Absicherungen der traditionellen Erwerbsarrangements - etwa die Bemühungen um eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf - sich häufig als unflexibel, wirkungsschwach oder widersprüchlich erweisen. Elternschaft führt am Arbeitsplatz noch immer zur "Schwächung der zugeschriebenen Kompetenz, der übertragenen Verantwortlichkeiten und der Aufstiegschancen im Unternehmen". Auch psychische Erkrankungen und Stresssymptome, die auf Arbeitsbelastungen zurückgeführt werden können, haben stark zugenommen. Der AOK-Bundesverband meldete 2008, dass die Fehlzeiten wegen psychischer Krankheiten seit 1995 um 80 Prozent gestiegen sind. 800000 Menschen in Deutschland nehmen am Arbeitsplatz Tabletten, um Stress und Konflikte auszuhalten, und schlucken regelmäßig verschreibungspflichtige Neuropharmaka, um ihre Leistung im Beruf gezielt zu steigern. Nur langsam verschiebt sich die Debatte von einer individuellen Schuldzuweisung hin zur arbeitsbedingten und strukturellen Ursachenforschung, die Frage nach betrieblichen Präventionsstrategien tritt dabei in den Vordergrund. All dies sind Entwicklungen, die es notwendig machen, die Nachhaltigkeitsdebatte aus dem ökologischen in den ökonomischen und sozialen Bereich zu übertragen.

Von Arbeitsmarktpolitik zu Arbeitspolitik

Der Staat hat sich lange auf die reine Arbeitsmarktpolitik beschränkt. Sie wird durch die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zentral auf Bundesebene gesteuert und durch die Landesarbeitsministerien auf Landes- und kommunaler Ebene gestaltet. Klassisch wurde Arbeitsmarktpolitik als das Bündel aller staatlichen Instrumente verstanden, welche die Beschäftigungschancen von Menschen steigern, Arbeitsplätze sichern und Arbeitsbedingungen verbessern. Ihr Handlungsfeld liegt in marktkorrigierenden Maßnahmen, um Phänomenen wie Arbeitslosigkeit zu begegnen.

Die Reichweite des Sozialstaats-Postulats als Kernstück staatlicher Ausgleichspolitik ist politisch umstritten. Sehen die einen den Sozialstaat als Hängematte für Arbeitsunwillige, begreifen andere ihn als eine große zivilisatorische Errungenschaft, die nicht nur soziale Rechte vergibt, sondern die Integration der Gesellschaft und die Überwindung der Klassengesellschaft erst ermöglicht.

Nach Heribert Prantl sind "soziale Rechte (...) Rechte auf Teilhabe (...). Der gute Sozialstaat ist daher auch keine Unternehmung, die nur auf die Krankheit, die Arbeitslosigkeit, den Schicksalsschlag wartet und dann helfend eingreift. Seine Leistungsstärke zeigt sich also nicht erst und nicht nur am Niveau der Versorgung, wenn dieser Fall eintritt und er dann die Kalamitäten möglichst gut ausgleicht. Sie zeigt sich auch an der Kreativität, mit der er es seinen Bürgern ermöglicht, selbstbestimmt zu leben." Arbeitspolitik statt Arbeitsmarktpolitik steht in diesem Sinne für eine Perspektive, die sich über marktkorrigierende Maßnahmen hinaus konsequent an der Entwicklung der sogenannten human resources nach dem Grundsatz des "Förderns und Forderns" und der Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit ausrichtet.

Neufassung des Arbeitsbegriffes

Schlüsselkategorie eines nachhaltigen Arbeitsbegriffes ist Autonomie. Mit Autonomie bezeichnet man den Zustand der Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit. Die Selbstverwaltung oder Entscheidungsfreiheit des Individuums steht dabei im Vordergrund. Wurde Arbeit insbesondere im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Arbeit in Fabriken und Manufakturen als fremdbestimmt betrachtet, die zum schieren Überleben nötig war, wird in Berufswahlentscheidungen heute der Aspekt der Selbstverwirklichung und Selbstwirksamkeit - mithin der Autonomie - immer wichtiger. Soziologie und Politikwissenschaft unterscheiden in der Arbeitswelt zwischen teilautonomen Arbeitslosen und autonomen Vollbeschäftigten, denn die Autonomie wird beispielsweise dadurch eingeschränkt, dass der Staat Gegenleistungen verlangt, wenn er Arbeitslosengeld zahlt.

Der Indikator für eine nachhaltige Arbeitsgesellschaft ist demnach nicht mehr allein, dass viele Menschen einen Arbeitsplatz an sich haben, sondern, dass sie "Gute Arbeit" haben. Dazu gehört nicht nur ein auskömmliches Einkommen. Auch Arbeitszufriedenheit ist heute mehr denn je Quelle von Arbeitsproduktivität. Arbeitszufriedenheit ist das Ergebnis einer bedarfsgerechten Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen. Um dies zu erreichen, muss ein ganzheitliches Qualitätsbewusstsein für den Zusammenhang von Arbeit, Leben, Leistungsfähigkeit und Motivation geschaffen werden. Es gilt, die Arbeit so zu gestalten, dass die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten wächst und damit Leistungsfähigkeit und Arbeitgeberbindung steigen.

Entgrenzte Arbeit als ein Phänomen des organisatorischen, zeitlichen und inhaltlichen Hineinwachsens der Arbeit in das individuelle Leben verändert unsere heutigen Lebenswelten allerdings massiv. Der Beruf beeinflusst und reguliert immer stärker die Lebensplanung und die Bewältigung des Alltags. In den vielfältigen Arbeitsanforderungen sehen viele Beschäftigte jedoch auch eine Chance auf Entfaltung und Verwirklichung ihrer Ziele. Schließlich sinkt die Gefahr der Monotonie, während der individuelle Gestaltungsspielraum und die Identifikation mit den Arbeitsergebnissen wachsen. Daraus resultierende Entwicklungschancen müssen jedoch mit den Belastungsfaktoren in ein ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden, um Arbeitsfähigkeit und Lebensqualität gleichermaßen zu erhalten. Neue Ansprüche an Work-Life-Balance werden die Zukunft prägen. Arbeitszeit ist Lebenszeit und muss auch den sozialen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden wie für die Betreuung und Pflege der Familie. Gleichzeitig müssen die Bedürfnisse der Arbeitgeber nach flexiblen und qualifizierten Mitarbeitern bedacht werden. Benötigt werden daher kreative Lösungen für unterschiedliche Anforderungen, je nach Arbeitsumfeld oder Lebensphase bzw. Lebenssituation von Beschäftigten, wie Vertrauensarbeitszeit und Gleitzeit.

Der Wunsch nach Autonomie durch Handlungs- und Entscheidungsspielräume bestimmt heute maßgeblich, ob ein Arbeitsplatz und ein Arbeitgeber als attraktiv gelten. Viele Unternehmen orientieren sich bereits daran, und Familienfreundlichkeit wird zum Aushängeschild moderner Unternehmen. Auch der Gesetzgeber hat auf die Veränderungen reagiert. Im Bildungsbereich werden Schulen immer mehr zu Ganztagsschulen ausgebaut, um eine Versorgung der Kinder auch während der Arbeitszeit zu ermöglichen.

Arbeitspolitik muss steuern können

Arbeitspolitik orientiert sich zunehmend an einem neuen Verständnis von Arbeit. Nicht nur der Arbeitsbegriff, sondern auch das Politikfeld Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik haben sich dadurch verändert. Dennoch muss Arbeitspolitik in weiteren Bereichen steuernd eingreifen, denn der Markt lässt die Arbeitnehmer bei vielen Herausforderungen weitestgehend allein. Dabei befinden sich Unternehmen im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte, da der demografische Wandel dazu führt, dass zukünftig qualifizierte Fachkräfte fehlen werden und die Anzahl älterer Arbeitnehmer in der Belegschaft steigt. Nachhaltige Arbeitspolitik muss Qualifizierungs- und Weiterbildungsinitiativen fördern, um Erwerbstätige langfristig im Beruf zu halten und eine persönliche Weiterentwicklung zu ermöglichen. Durch das zunehmende Verschwinden von Erwerbsformen mit geringen Bildungsanforderungen steigt für die betroffenen Personen das Arbeitslosigkeitsrisiko. Nur durch lebenslanges Lernen können Menschen sich mit einer immer schneller verändernden Welt arrangieren und für den Arbeitsmarkt attraktiv bleiben.

Die Verantwortung für die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit wird dabei allerdings in der Regel dem Individuum und nicht den Unternehmen oder staatlichen Stellen zugeschrieben. Jede und jeder Beschäftigte ist gezwungen, selbst eine Prognose über zukünftig benötigte Fertigkeiten zu wagen, sich entsprechend um die Teilnahme an Fort- und Weiterbildungsprogrammen zu kümmern und diese zunehmend auch privat zu finanzieren. Die Teilnahme an Weiterbildungsangeboten gilt als Investition in das individuelle "Humankapital", das man auf dem Arbeitsmarkt anbieten kann. Der Nutzen für Betriebe und die Gesellschaft wird ausgeblendet. Dabei ist die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen ohne Weiterbildung ebenso gefährdet wie die Innovationskraft eines Unternehmens. (Weiter-)Bildung ist daher eine nachhaltige Investition in die Zukunft der einzelnen Beschäftigten wie auch für das Unternehmen, die umfassend und nicht individuell geschultert werden muss.

Auch das Feld der beruflichen Bildung liegt im Argen, was unter anderem an der strikten Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung im deutschen Bildungssystem liegt. An der privatwirtschaftlichen Organisierung der beruflichen Bildung haben Industrie und Handwerk - als der eigentliche Ursprung des Dualen Systems in Deutschland - ein hohes Interesse, um ihren Nachwuchs möglichst frühzeitig nach benötigten Fähigkeiten zu qualifizieren. Der industriegeprägten Entwicklung des Dualen Systems entspricht seine enge Einbindung in die industrielle Arbeitskultur Deutschlands, die seit den 1920er Jahren von der Trias Staat, Industrie und Gewerkschaften vollzogen wurde. Die Industrie- und Handwerkskammern nehmen als "zuständige Stellen" im Auftrag des Staates die entscheidenden Verwaltungs- und Kontrollaufgaben vor, und die "Sozialpartner" Arbeitgeber und Gewerkschaften legen die strategischen Leitlinien der Berufsbildungspolitik fest. Die viel bestaunte Effizienz dieser spezifischen Kombination bzw. Integration von industriellem Produktionsmodell und korporatistisch gesteuertem Berufsausbildungssystem wurde in Deutschland allerdings mit einem gewichtigen bildungsstrukturellen Nachteil erkauft: Sie schuf die entscheidende Voraussetzung für die traditionelle Aufspaltung des deutschen Bildungswesens in die Bereiche "Allgemeinbildung" und "Berufsbildung". Staatlichen Maßnahmen zur Steigerung und Verbesserung von beruflicher Bildung sind daher von vorn herein Grenzen gesetzt. Dabei deckt das System auch quantitativ die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen nicht mehr, denn aktuell bilden nur etwa ein Viertel aller Betriebe aus. Über die Hälfte aller Ausbildungsplatzsuchenden eines Jahrganges sind Jugendliche, die bereits im Jahr zuvor vergeblich einen Ausbildungsplatz gesucht haben oder in Warteschleifen "zwischengeparkt" wurden. Unter Annahme einer erheblichen Dunkelziffer befinden sich aktuell geschätzte 1,5 Millionen junger Menschen in diversen Warteschleifen.

Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Arbeitspolitik

Eine nachhaltige Arbeitspolitik bezieht die Qualität der Arbeit ein, beruht auf einem erweiterten Arbeitsbegriff und berücksichtigt und gestaltet die Wechselwirkungen zwischen Lebenswelt und Arbeitswelt sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie erhöht dabei Autonomie. Wird eine nachhaltige Arbeitspolitik verfolgt, ergeben sich daraus Vorteile sowohl für Arbeitnehmer als auch für Wirtschaft und Politik. Zwar schafft der Staat die Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Arbeitspolitik, maßgebliche Akteure für die Umsetzung der folgenden Handlungsempfehlungen sind jedoch Arbeitgeber und Gewerkschaften als Sozialpartner auf tariflicher Ebene und Management und Betriebsräte auf betrieblicher Ebene. Auf zwei Ebenen müssen dabei Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Arbeitspolitik angesiedelt sein: auf der kollektiven Ebene der Arbeitsbeziehungen sowie auf der individuellen Ebene der Arbeitsbedingungen.

Empfehlung 1: Persönliches Entwicklungskonto und flexibles Renteneintrittsalter.

Arbeitszeitkonten über ein gesamtes Erwerbsleben kommen den Interessen und Bedürfnissen von Unternehmen und Arbeitnehmern unter den Bedingungen eines flexibilisierten Arbeitsmarktes und diversifizierter Beschäftigungsformen entgegen. Diese persönlichen Entwicklungskonten können für Sabbaticals, Gesundheitsmaßnahmen, eine verlängerte Elternzeit, lebenslanges Lernen und vieles mehr genutzt werden. Die Beiträge der Arbeitslosenversicherung werden dabei für ein individualisiertes Ansparprogramm verwendet, das durch Steuermittel ergänzt wird. Zeitkonten ermöglichen zeitweise Mehrarbeit und zeitweise Minderarbeit, behalten aber innerhalb vereinbarter Zeiträume eine vereinbarte Arbeitszeit bei. Vor- oder mehrgeleistete Arbeitszeit begründet einen Anspruch auf ein Zeitäquivalent aus späterer Erwerbsarbeitszeit. Für das Sozialsystem stellt sich die Aufgabe, sozialstaatlich abgesicherte Brücken zwischen Bildungs- und Arbeitszeiten zu bauen.

Die Aufhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters kann der Idee des "Weniger, aber länger"-Arbeitens zusätzlich dienen. Durch eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters wird es Menschen in ihrem Lebensverlauf ermöglicht, zeitweise halbtags berufstätig zu sein, ohne Sorge haben zu müssen, auf Renteneinkünfte verzichten zu müssen.

Zwei Voraussetzungen müssen zur Umsetzung dieser Handlungsempfehlungen erfüllt sein. Es muss ein belastbarer Datensatz erhoben werden, der nachvollziehbar macht, welche Arten von Arbeitszeiten in den Betrieben geführt werden. Zweitens muss gewährleistet werden, dass auch in flexibilisierten Arbeitszeitmodellen Rentenversicherungspunkte erworben werden.

Empfehlung 2: Einheitliche Weiterbildungsarchitektur und Weiterbildungsfonds.

Weiterbildung ist in Deutschland zu einem großen Teil marktförmig organisiert und nicht systematisch rechtlich geregelt. Finanzierung, Teilnahmemöglichkeiten und Ausgestaltung werden in verschiedenen Bundesgesetzen (SGB III, Betriebsverfassungsgesetz, Berufsbildungsgesetz oder Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz) oder in Landesgesetzen (wie in den Weiterbildungsgesetzen und Bildungsurlaubsgesetzen der Länder) geregelt. Dies führt im Ergebnis zu Lücken und Überschneidungen. Vor dem Hintergrund eines steigenden Qualifikationsbedarfs - der Arbeitnehmer, um ihre Beschäftigungsfähigkeit abzusichern, und der Unternehmen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten - ergibt sich die Notwendigkeit, eine Weiterbildung mit System zu etablieren, die diese Regelungslücken beseitigt und die transparent ist. Die Unternehmen befinden sich in einem Dilemma: Investieren sie in die Qualifikationen ihrer Beschäftigten, entstehen ihnen kurzfristig höhere Kosten im Vergleich zu Unternehmen, die nicht in Weiterbildung investieren. Damit kann kurzfristig die Wettbewerbsfähigkeit verringert werden. Investieren sie jedoch aus diesem Grund nicht in Weiterbildung, verringert sich ihre langfristige Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit, und ihr Bestehen wird gefährdet. Dieses Dilemma, das aus der einzelbetrieblichen Finanzierung der Weiterbildung resultiert, kann vermieden werden, wenn auf ein kollektives Finanzierungskonzept abgestellt wird.

Weiterbildungsfonds entkoppeln die Weiterbildungsteilnahme von den dabei entstehenden Kosten, da sich die Arbeitgeber an der Finanzierung beteiligen und zwar unabhängig davon, ob sie "ihren" Mitarbeitern Weiterbildung ermöglichen oder nicht. Ein Weiterbildungsfonds kann dazu dienen, lebenslanges Lernen strukturell zu finanzieren und den betrieblichen Interessen an dauerhaft qualifizierten Beschäftigten nachhaltig Rechnung zu tragen.

Allen Menschen muss Lernzeit für Weiterbildungsaktivitäten eingeräumt werden. Ein Mindestanspruch an Lernzeit sollte gesetzlich garantiert sein. Dazu hat jede(r) ein Lernzeitkonto, von dem man Qualifizierungstage und -maßnahmen "abbuchen" kann. Aus den Weiterbildungsfonds werden berufliche Fortbildungen auf Antrag finanziert. Jedes Unternehmen zahlt jährlich einen prozentualen Anteil der Bruttolohnsumme seiner Arbeitnehmer ein. Es sollten Weiterbildungs-Ausschüsse aus Vertretern von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Politikern und Experten eingerichtet werden, um die verfügbaren Weiterbildungsmittel zu verwalten. Sie sollten Weiterbildungskonzepte für Kommunen und Regionen erarbeiten. Das nahezu unüberschaubare Angebot von Programmen der allgemeinen, politischen und kulturellen Weiterbildung muss gesichtet und bewertet werden. Die Weiterbildungsmaßnahmen müssen zertifiziert werden.

Empfehlung 3: Kommission zur Neubewertung von Arbeit.

Es sollte eine Kommission eingerichtet werden, die Indikatoren für die Auf- und Umwertung von Arbeit und einen Rahmen zur Begrenzung der Lohnspreizung entwickelt. Dabei sollte der soziale Mehrwert von Investitionen, die Tätigkeiten produzieren oder unterminieren, analysiert und quantifiziert werden. Auftrag der Kommission wäre es, vorhandene Vorschläge zur Lohnpolitik (Mindestlöhne, Grundeinkommen, High-Pay-Commission) sowie zur Steuerpolitik (progressivere Besteuerung, Schließung von Steuerschlupflöchern) ebenso wie Indikatoren für den Zugang zum Arbeitsmarkt (Frauenerwerbs- und Arbeitslosenquote, Pro-Kopf- Haushaltseinkommen, Partizipationsquoten an Bildungsmaßnahmen) qualitativ zu integrieren und Empfehlungen für Gesetzgebungsaktivitäten entwickeln, die dem Leitbild der abgesicherten Flexibilität folgen. Die Kommission sollte neben den klassischen Sozialpartnern und dem Staat auch nach Bedarf Experten wie Arbeits- und Sozialjuristen, Arbeitswissenschaftler, Soziologen und Unternehmensleitungen hinzuziehen.

Empfehlung 4: Umlagefinanzierte und

durchlässige Bildungsstrukturen.

Die in Deutschland praktizierte strikte institutionelle und strukturelle Trennung von beruflicher und allgemeiner Bildung ist problematisch, die Durchlässigkeit muss grundsätzlich verbessert werden, um lebenslanges Lernen und berufliches Fortkommen zu kombinieren. Ziel nachhaltiger Arbeitspolitik ist es, Menschen einen erfolgreichen Abschluss der allgemeinbildenden Schule und eine qualitativ hochwertige berufliche Erstausbildung zu sichern. Wo das Duale System dies nicht mehr leisten kann, ist eine zweite Säule in der Berufsbildung notwendig, die in staatlicher Verantwortung ist und gemeinsam von Staat und Unternehmen finanziert wird. In vielen Regionen wird es dazu notwendig sein, verstärkt auch Angebote außerhalb des Dualen Systems zu aktivieren. Die schulischen Ausbildungsgänge müssen deshalb so gestärkt werden, dass sie als gleichwertig zum Dualen System anerkannt werden. Auch die Zugangsregeln für Hochschulen müssen geöffnet werden. Fähigkeiten, die Menschen während ihrer Berufsausbildung erworben haben, sollten als weitere reguläre, gleichwertige und nicht fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung anerkannt werden.

Empfehlung 5: Stärkung der Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz.

Neue Managementkonzepte und Steuerungsformen können sich positiv auf Wohlbefinden und Gesundheit von Beschäftigten und Führungskräften auswirken. So kann moderne Arbeit gesundheitsförderlich gestaltet werden. Erfahrungen eines Stresspräventionskonzepts des Instituts Arbeit & Qualifikation (IAQ) zeigen, wie mithilfe einer Bestandsaufnahme Belastungs- und Gesundheitssituation in einem Betrieb gemessen werden können. Speziell für verschiedene Phasen wie Berufseinstieg, Familienphase, Führung oder ältere Beschäftigte werden Praxislösungen für Arbeitsgestaltung und Unternehmenskultur erarbeitet. In Pilotbetrieben und zahlreichen Fallbeispielen sind Konzepte gemeinsam von Management und Belegschaft erarbeitet und umgesetzt worden, die sowohl Kunden- als auch betrieblichen Anforderungen genügen. Bei der Entwicklung dieser beteiligungsorientierten Instrumente gilt es insbesondere auf ihre Praktikabilität zu achten, um diese auch ohne wissenschaftliche Begleitung und Unterstützung einsetzen zu können. Beschäftigte werden dabei als Experten ihrer eigenen Gesundheit einbezogen und aktiv beteiligt. Das Ziel ist ein partizipatives Gesundheitsmanagement. Der Staat kann durch Arbeitszeitgesetze regulierend unterstützen. Das Betriebsverfassungsgesetz regelt die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz. Hier können ganzheitliches Gesundheitsmanagement, Verhaltensprävention und Gefährdungsbeurteilung hinsichtlich altersbedingter Gesundheitsgefahren expliziert werden.

Mit der Umsetzung dieser Empfehlungen wäre ein entscheidender Schritt zu einer nachhaltigen Arbeitspolitik getan.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Cordula Drautz/Tobias Leipprand, Arbeit. Autonomie. Anerkennung, in: enorm. Wirtschaft für den Menschen, (2010) 3, S. 68-69.

  2. Vgl. Werner Eichhorst/Paul Marx/Eric Thode, Arbeitsmarkt und Beschäftigung in Deutschland 2000-2009. Benchmarking Deutschland: Beschäftigungserfolge bei zunehmender Differenzierung, Gütersloh 2009.

  3. Vgl. Christa Wichterich, Die Krise ist nicht geschlechtsneutral, in: Social Watch Deutschland Report, (2009) 8, S. 32-35, hier: S. 32.

  4. Michael Borchard, Eltern unter Druck. Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, Berlin 2008, S. 16.

  5. Weitere Aspekte eines umfassenden Nachhaltigkeitsbegriffs wurden von Expertenteams der "stiftung neue verantwortung" unter der Leitung der Autorin entwickelt. Vgl. stiftung neue verantwortung, Wohlstand ohne Wachstum - Analyse von Wechselbeziehungen der drei Ökonomien, Berlin 2010; dies. Nachhaltigkeit braucht Strategie, Berlin 2010.

  6. Heribert Prantl, Korrektur des Schicksals, in: Süddeutsche Zeitung vom 20./21.2.2010.

  7. Vgl. Gute Arbeit. 12 Thesen der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, Hannover 2008.

  8. Vgl. Claudia Bogedan et al., Arbeits- und sozialrechtliche Regulierung für Übergänge im Lebenslauf. Ein Beitrag für ein soziales Recht der Arbeit, in: Arbeit und Recht, (2010) 7-8, S. 320ff.

  9. Vgl. Die Bundesregierung, Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Für ein nachhaltiges Deutschland, Berlin 2008, S. 170.

  10. Vgl. Günther Schmid, Arbeit ohne Grenzen? Staatliche Instrumente moderner Arbeitsmarktpolitik, Berlin 2008.

  11. Vgl. Heinz-Josef Itkowiak/NickKratzer (Hrsg.), Partizipation und Prävention, München 2009.

Dipl.-Politologin, geb. 1981; Fellow der "stiftung neue verantwortung"; zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Nachhaltigkeits- und Wachstumspolitik sowie die Zukunft der Arbeit. E-Mail Link: cd@stiftung-nv.de