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Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung | Irak | bpb.de

Irak Editorial Der Irak als demokratischer "Musterstaat" in Nahost? Eine Zwischenbilanz Zwischen individueller Verarbeitung und gesamtgesellschaftlicher Versöhnung: Vergangenheitsbewältigung im Irak Von Frühling und Herbst der Pressefreiheit im neuen Irak - Essay Droht eine Zerstörung der ethnischen und religiösen Vielfalt im Irak? Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung Hat die arabische Welt den Irak vergessen? - Essay Wandel der regionalen Ordnung und Aufstieg neuer Mächte in der Golfregion

Kurdistan zwischen Autonomie und Selbstverantwortung

James Dingley

/ 15 Minuten zu lesen

Offiziell wird die territoriale Einheit des Irak gewahrt. Demgegenüber stehen Autonomiebestrebungen der Kurden. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein stabiler demokratischer Irak nicht ein besserer Ort zum Leben wäre als ein isoliertes Kurdistan.

Einleitung

Die Autonome Region Kurdistan (Heremê Kurdistanê), die an den Iran, die Türkei und Syrien grenzt, ist die nördliche Provinz und laut Verfassung ein integraler Bestandteil der Republik Irak. Das wird auch von der kurdischen Regionalverwaltung anerkannt. Die Invasion in den Irak im Jahr 2003 hat dies sogar noch bekräftigt, weil die USA und Großbritannien bei ihrem Einmarsch ausdrücklich betonten, dass sie keine Absicht hegten, den Irak aufzuteilen und seine territoriale Unversehrtheit bewahren würden. Sie wiederholten diese Ansicht bei jeder sich bietenden offiziellen Gelegenheit.

Jedoch besteht oft ein Unterschied zwischen offiziellen verfassungsrechtlichen Gegebenheiten und den inoffiziellen ungeschriebenen Bestrebungen derer, die dieser Verfassung unterstehen. Die Zukunft könnte wohl komplizierter werden als es das offizielle Erscheinungsbild nahelegt, weil viele Kurden nach Unabhängigkeit streben. Darüber hinaus träumen auch einige davon, alle Kurden in einem Nationalstaat zu vereinen, was tief greifende Konsequenzen für den Iran, Syrien und die Türkei - Länder mit bedeutenden kurdischen Bevölkerungsgruppen - hätte. Durch derartige territoriale Veränderungen würde wiederum eine weitere Destabilisierung der ohnehin instabilen Region drohen.

Historischer Rückblick: Gründung des modernen Irak

Die Grenzziehungen im heutigen Nahen und Mittleren Osten sind neueren Datums und gehen im Wesentlichen auf das Sykes-Picot-Abkommen aus dem Jahre 1916 zwischen Großbritannien und Frankreich zurück. Das Abkommen zwischen dem britischen Diplomaten Mark Sykes und dem französischen Diplomaten François Georges-Picot regelte die Aufteilung der osmanischen Territorien nach dem Ersten Weltkrieg, weshalb es mehr die strategischen Interessen der beiden Siegermächte widerspiegelte als ethnische Interessen und aufkeimende nationalistische Gefühle der vor Ort lebenden Bevölkerungen.

Ein Paradebeispiel war die Gründung des modernen Irak auf der Basis der ehemaligen osmanischen Provinzen Bagdad, Mossul und Basra, die in die britische Interessensphäre fielen. Diese eher willkürliche Zusammenfassung von Provinzen, die von unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen bewohnt waren, und die daraus folgende soziokulturelle Heterogenität sollte sich als eine der wesentlichen Schwachstellen des modernen Irak herausstellen: Die an den Wasserstraßen im Süden lebenden Marsch-Araber (im Wesentlichen Beduinen) wurden mit Sunniten (der herrschenden Minderheit) und Schiiten (der Bevölkerungsmehrheit), welche auf der Hauptebene des heutigen Irak lebten, in einem Staat vereint. Darüber hinaus gab es eine große christliche Minderheit (Mitglieder von Ostkirchen wie Chaldäer, Syrisch-Orthodoxe oder Orthodoxe).

Wenige, wenn überhaupt eine dieser verschiedenen Gruppen, hatten ein Bewusstsein für eine gemeinsame nationale (im Sinne einer irakischen) Identität. Der ethnische Nationalismus, welchen die heutige Welt als selbstverständlich ansieht, war ein relativ neues Konzept, besonders für multiethnische Reiche, wie es das Osmanische Reich war. Dennoch wurden zu diesem Zeitpunkt der Nationalismus und die Idee des Nationalstaates in den Mittleren Osten eingeführt.

Nicht nur der Irak selbst war ein künstliches Gebilde. Auch die Teilung des von Kurden bewohnten Gebietes und die Integration der südlichen Kurden in den Irak muteten willkürlich an. Vor dem Fall des Osmanischen Reiches lebten die Kurden - zwar zu dem Zeitpunkt eine anerkannte ethnische Gruppe, aber auch nicht viel mehr - in einer Region, welche die heutige südöstliche Türkei (Anatolien), Nord-Ost-Syrien, den westlichen Iran und den heutigen Nordirak (historisch Südkurdistan genannt) umfasste. Die Kurden sind weder Araber noch ein Turkvolk. Ihre Sprache, die immer noch nicht vereinheitlicht ist (lokale Dialekte sind für Kurden aus unterschiedlichen Regionen oft nicht verständlich), ist indogermanisch, nicht arabisch, obwohl sie die arabische Schrift verwendet.

Die Kurden waren sich ihrer eigenen Identität zwar sehr wohl bewusst, hatten aber bis zur Gründung des modernen Irak kein umfassendes ethnisch definiertes Gemeinschaftsgefühl oder einen alle kurdischen Stämme übergreifenden Nationalstolz. Daher - oder aus welchen strategischen Gründen auch immer - wurden die südlichen Kurden in den modernen Irak integriert, statt einen eigenen Nationalstaat zu erhalten. Diese ethnische und religiöse Heterogenität des Landes trug wesentlich dazu bei, dass die Konstruktion des modernen Irak von Natur aus instabil war: Die Möglichkeiten zur Entwicklung einer "irakischen Identität" und gemeinsamer "nationaler Interessen" blieben beschränkt und verkomplizierten sich eher. Dies machten nicht zuletzt wiederholte kurdische Aufstände im Laufe der irakischen Geschichte deutlich.

Diese Instabilität lag gewiss im Interesse der Briten, die sich der strategischen Bedeutung des irakischen Öls und der Verhinderung einer starken vereinigten nationalen Front gegen ihre Interessen im Irak sehr bewusst waren. (Letzteres ging sogar so weit, dass sie die ölreiche südliche Provinz Kuwait ausgliederten und ein eigenes Land daraus bildeten.) Denn aus der Schwäche, die aus dem fehlenden Nationalbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl resultierte, entstand die Notwendigkeit einer starken Kolonialmacht (in diesem Falle Großbritannien), die immer wieder militärisch eingriff, um eine solche heterogene Gesellschaft ohne demokratische Tradition und ohne Sinn für gemeinsame Interessen unter Kontrolle zu halten. Als es keine Kolonialmacht mehr gab (formal war der Irak schon seit 1921 unabhängig), wurde ein starker Mann "benötigt", welcher das Land "zusammenhielt".

Diese Tradition erleichterte es Saddam Hussein im Jahr 1979 die Macht im Land zu übernehmen und mit seiner Baath-Partei ein Regime aufzubauen, das sich am sowjetischen System orientierte und mit einem staatlichen Überwachungssystem operierte, bei dem Folter eine routinemäßige Verhör- und Unterdrückungsmethode war. Mit anderen Worten: Es gab keinen natürlich gewachsenen inneren "Kitt", welcher die Gesellschaft im nationalen Sinne zusammenhalten konnte. Deshalb musste dies von außen erzwungen werden (vor allem mit Angst und Gewalt). Während die meisten Irakerinnen und Iraker mit arabischer Abstammung im Staatsaufbau eine gewisse Gemeinsamkeit finden konnten (beispielsweise dadurch, dass Arabisch Amtssprache war, aber auch aufgrund des Bekenntnisses der Staatsführung zur arabischen Staatengemeinschaft in Form der Mitgliedschaft in der Arabischen Liga), waren Kurden weniger in der Lage, eine nationale Identifikation mit dem irakischen Staat zu entwickeln.

Die ethnische und religiöse Heterogenität innerhalb des Landes hatte auch Auswirkungen auf die außen- beziehungsweise regionalpolitischen Beziehungen der Zentralregierung, da diese durch die historischen und kulturellen Verbindungen der ethnischen und religiösen Gruppen zu den Nachbargesellschaften mitgeprägt wurden. Die Führung in Bagdad war aufgrund der Gefahr des Überschwappens auf die eigene Bevölkerung immer argwöhnisch im Hinblick auf die Ereignisse, die sich in den irakischen Nachbarländern abspielten. Ein klassisches Beispiel war die iranische Revolution im Jahr 1979, besonders, weil der Iran wie auch die Bevölkerungsmehrheit im Irak, die enge historische Bindungen zum Iran hat, schiitisch ist, während die irakische Baath-Partei und Saddam Hussein fast so säkular waren wie der gestürzte Schah des Iran. Dies spielte eine Rolle für grundlegende Entscheidungen der irakischen Politik, vor allem während des Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988, zeigte aber auch Schwächen innerhalb der irakischen Gesellschaft auf: Viele schiitische Irakerinnen und Iraker waren in ihrer Unterstützung für den Krieg nicht gerade enthusiastisch.

Dies traf auch auf die Kurden zu, die sich mehrheitlich eher mit den iranischen Kurden als mit ihren irakischen Mitbürgern identifizieren konnten. Die Baath-Partei und die irakischen Sicherheitskräfte gingen bei der Überwachung und Unterdrückung jeglicher Anzeichen für abtrünnige Meinungen unter ihrer kurdischen Bevölkerung besonders grausam vor (der berüchtigten Bombardierung mit Giftgas von Halabdscha am 16. und 17. März 1988, der bis zu 5000 Menschen zum Opfer fielen, wird in Kurdistan jährlich mit zwei Schweigeminuten gedacht). Im Gedächtnis der meisten Kurden sind die Erinnerungen daran, wie sie selbst, Freunde oder Familienmitglieder von Saddam Husseins Schlägertruppen gefoltert, zur Flucht ins Ausland oder zu einem Leben in Angst gezwungen wurden, fest verankert. Das führte naturgemäß nicht zu einem größeren Bekenntnis zum Irak, im Gegenteil förderte es den Wunsch nach Autonomie und Unabhängigkeit innerhalb der irakischen Kurden.

Der moderne kurdische Widerstand gegen die irakische Herrschaft reicht aber bereits bis in die 1920er Jahre zurück. Schon damals gab es Bemühungen um Abspaltung oder zumindest für die Durchsetzung von Reformen für mehr Autonomie, besonders im Hinblick auf den Status der kurdischen Sprache. Diese Bemühungen stießen anfänglich auf Widerstand der Zentralregierung, was die Kurden in ihrem Bestreben, ihre Unabhängigkeit zu erklären, bestärkte - mit der Folge eines irakischen Feldzugs in Kurdistan zur Bekämpfung der Aufständischen, an dem im Jahr 1963 rund 66 Prozent der irakischen Armee teilnahmen. Von da an bis zum endgültigen Zusammenbruch der Revolte im Jahr 1975 folgte ein Kreislauf von Kriegen und Kämpfen, Verhandlungen und Zugeständnissen und schließlich wieder Kriegen. Obwohl in der Folge Kurdistan ein hohes Maß an Autonomie gewährt wurde und die Sprache einen offiziellen Status erlangte, wurde kein dauerhaftes Abkommen erzielt.

Nach dem Golfkrieg von 1991 gab es einen weiteren Aufstand, der letztendlich Saddam Husseins Regime in Kurdistan beendete, als lokale kurdische Guerillakräfte (Peschmerga) die verhasste Baath-Partei besiegten. Die darauffolgende Einrichtung und Kontrolle einer Flugverbotszone für irakische Truppen auf Betreiben der Koalitionsstreitkräfte unter Führung der USA ermöglichte weitere Schritte zum Aufbau von Verwaltungsstrukturen unabhängig von der Zentralregierung. Infolgedessen wurde die Kurdenregion zwar tatsächlich autonom, jedoch folgte ein erbarmungsloser Bürgerkrieg zwischen den wichtigsten politischen Gruppierungen: der Demokratischen Partei Kurdistans (Kurdistan Democratic Party, KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Die Parteien werden von den beiden einflussreichsten Familien angeführt: die KDP im Westen durch die Barzanis und die PUK im Osten durch die Talabanis. Die Spaltung dauert bis heute an, was aber wenig mit Ideologie zu tun hat, sondern mehr mit feudalen Stammesbindungen, Schwarzhandel und Korruption. Beide Parteien teilen sich derzeit die Macht in der Autonomen Region Kurdistan in einer Koalitionsregierung.

Verfassungsmäßige und politische Position

Derzeit konzentriert sich die kurdische Regionalverwaltung vornehmlich auf ihre eigenen, regionalen Angelegenheiten. Fragen, welche den Rest des Irak betreffen, gelangen kaum auf die Agenda der Regionalverwaltung in Erbil. Eine Ausnahme ist die Frage nach der Verteilung der irakischen Öleinnahmen. Erbils Anteile machen zurzeit 17 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Das sind Einnahmen, mit denen die Regionalverwaltung eine Masse an subventionierten Jobs bereitstellt - böse Zungen behaupten, um damit die politische Ruhe sicherzustellen. De facto fungiert die kurdische Regionalverwaltung wie ein unabhängiger Staat in allen internen Belangen, wenn auch nach außen ein gewisser Schein gewahrt wird.

Sicherheit:

Sicherheitspolitisch gibt es laut Verfassung zwar nur eine irakische Armee. Aber diese verfügt seit der Niederlage von Saddam Husseins Truppen im Jahr 1992 über keinerlei Präsenz in Kurdistan. Alle Sicherheitsaufgaben werden von den Peschmerga wahrgenommen, die in der Region als Armee, Polizei und lokale Miliz fungieren. Die Peschmerga stammen von Widerstandskämpfern ab, die früher als Guerilla oder sogar Terroristen bezeichnet wurden, und noch lange vor dem Ersten Golfkrieg in den Bergen des Nordirak einen langen Feldzug gegen Truppen der Zentralregierung führten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Peschmerga de facto eine Armee bilden. Sie sind nur der kurdischen Regionalverwaltung und/oder den Barzani- und Talabani-Familien gegenüber verantwortlich. Jedoch wurden Bemühungen, eine offizielle Akademie für die Ausbildung von Polizei und Militär einzurichten, aufgeschoben, weil dies dem irakischen Staat vorbehalten wäre und keiner der politischen Entscheidungsträger in Erbil sich den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Problemen stellen möchte.

Sprache:

In den Schulen hat die kurdische Regionalverwaltung kürzlich die Lehrpläne überarbeitet, so dass nur noch Kurdisch die Unterrichtssprache ist. Arabisch und Englisch werden als Fremdsprachen gelehrt, auch wenn Arabisch die Amtssprache des Irak ist. Wahrscheinlich gibt nichts einen deutlicheren Hinweis auf die langfristigen Absichten als die Tatsache, dass Kinder nicht in der offiziellen Landessprache unterrichtet werden.

Auswärtige Beziehungen:

Ein anderer Bereich von verfassungsrechtlicher Relevanz sind die auswärtigen Beziehungen. Die kurdische Regionalverwaltung bemüht sich mit Nachdruck um gute Beziehungen mit anderen Ländern in der Region, allen voran mit der Türkei und Syrien. Sie ist vom Gesetz her zwar nicht dazu berechtigt, mit diesen Ländern Abkommen zu schließen oder in offizielle Verhandlungen zu treten, aber sie tut dies auf einer nichtstaatlichen Basis, das heißt, sie versucht, ihre Rolle als Teil des Irak und Bewahrerin des Status quo zu betonen. Beim Auftritt als nichtstaatlicher Akteur geht es der kurdischen Regionalverwaltung in erster Linie darum, den Nachbarstaaten zu versichern, dass sie nicht den Wunsch hege, deren kurdische Bevölkerungen gegen die dortigen Regierungen aufzuwiegeln. Beim Aufbau von guten Beziehungen zu den Nachbarstaaten geht es Kurdistan auch darum, sich alternative Zugänge zum Meer sowie Transport- und Kommunikationswege, die unabhängig vom Rest des Irak sind, zu schaffen.

Umstrittene Gebiete

Es bestehen jedoch größere Gebietskonflikte zwischen der Regionalverwaltung und der Zentralregierung, bei denen es um die territoriale Zugehörigkeit der Provinzen Kirkuk und Mossul geht. Sowohl Araber als auch Kurden behaupten, die rechtmäßigen Einwohner zu sein und beanspruchen diese Gebiete jeweils für Kurdistan beziehungsweise den Irak. Der Streit geht auf Bevölkerungsverschiebungen im Laufe des 20. Jahrhunderts, Manipulationen und ethnische Säuberungen zurück.

Der Konflikt um die ethnische Identität und Zugehörigkeit der Provinzen spitzte sich mit der Entdeckung weiterer Ölquellen in der Region um Kirkuk zu, weshalb die Kontrolle über sie besonders lukrativ erscheint. Darüber hinaus ist nach wie vor die Frage ungeklärt, was die lingua franca beziehungsweise die offizielle Amts- und Arbeitssprache in diesen Provinzen sein sollte: Kurdisch oder Arabisch? Diese Frage wirkt sich zwangsläufig auch auf die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und die Verteilung der Arbeitsplätze aus. Denn nur diejenigen, welche die Sprache des Siegers (mit anderen Worten: der Herrschenden) sprechen, werden in der Lage sein, auch Jobs zu bekommen.

Wenn es keine latente Bedrohung für die verfassungsmäßige Position Kurdistans gäbe, wäre die Frage nach der Zugehörigkeit dieser Provinzen von geringerer Bedeutung. Aber ein potenziell unabhängiges Kurdistan, das auch die wichtigsten Ölreserven kontrolliert, würde alle politischen Kalkulationen in Bagdad verändern. Vor diesem Hintergrund verzögert sich auch die neue Volkszählung im Irak, da Unsicherheit darüber herrscht, wie die ethnische Zusammensetzung der Gebiete aussehen könnte und vor allem welche Konsequenzen daraus zu ziehen wären.

Auch auf die gesamtirakische Politik üben die Kurden einen beachtlichen Einfluss aus. Da sie Abgeordnete in das irakische Parlament wählen, verfügen sie über einen Stimmenblock, der dazu in der Lage ist, die Bildung einer neuen Regierung zu beeinflussen. Auch vor diesem Hintergrund sind Unabhängigkeitsbestreben der Kurden oder die von ihnen ausgehende potenzielle Bedrohung für die territoriale Einheit des Irak nicht zu ignorieren. Derzeit orientieren sich die Kurden in den Fragen an der irakischen Verfassung, in denen sie ihren Interessen entspricht. Die kurdische Regionalverwaltung erlaubt allerdings keine irakische Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten. Demzufolge besteht aktuell eine Situation verfassungsmäßiger Zweideutigkeit, die zum Vorteil Kurdistans arbeitet.

Wirtschaftliche und soziale Lage

Wirtschaftlich profitiert die kurdische Regionalverwaltung stark davon, ein Teil des Irak zu sein, weil sie 17 Prozent aller Öleinnahmen des Irak erhält. (Die Öleinnahmen wiederum machen 94 Prozent der gesamten irakischen Wirtschaft aus.) Dies ermöglicht ihr, zu funktionieren und eine Masse an subventionierten Arbeitsplätzen bereitzustellen. Es ermöglicht ihr auch die Durchführung zahlreicher Infrastrukturprojekte wie Straßenbau, Stadtentwicklung und Instandhaltung. Da sich im restlichen Irak die Ölproduktion ihrem Höchststand nähert, schauen die Iraker vermehrt auch auf die neuen, in Kurdistan entdeckten Quellen, was die kurdische Regionalverwaltung dazu veranlasst, das Abkommen zu den Öleinnahmen neu verhandeln zu wollen, mit unvermeidlichen politischen Auswirkungen.

Während der Irak insgesamt gesehen immer noch ein Nachkriegstrümmerfeld ist, findet in Kurdistan ein relativer Boom statt, zum Teil durch die Aussicht auf die Erschließung größerer neuer Ölfelder, was westliche Investitionen und Ölsucher anlockt, obwohl die wichtigsten Ölfirmen sich gerade wegen der unklaren verfassungsmäßigen Beziehungen noch fernhalten. Kurdistan ist auch politisch relativ stabil mit einer nahezu einstimmigen Ablehnung des islamischen Extremismus, einer westlichen Orientierung und einer relativ homogenen ethnisch-religiösen Bevölkerungsstruktur. Eine solche Stabilität zieht von selbst Investitionen an. Hinzu kommt ein Zustrom von Kurden aus der Diaspora, die nicht nur mit westlichen Kenntnissen, sondern oft auch mit Kapital und Ideen für Investitionen zurückkehren. Daher boomt die Wirtschaft, und eine wachsende wohlhabende Mittelschicht ist im Entstehen - in deutlichem Gegensatz zum Rest des Irak.

Jedoch hängt noch vieles von einer aufkeimenden Staatsbürokratie ab, die durch die Öleinnahmen aufrechterhalten wird. Und die aus der Diaspora mitgebrachten Kenntnisse stammen häufig aus beruflichen Bereichen wie Zahnheilkunde oder Medizin und haben nicht direkt etwas mit wirtschaftlicher Entwicklung zu tun. Die meisten Studierenden suchen nach ihrem Abschluss eine Anstellung in staatlichen Einrichtungen, statt selbst unternehmerisch oder im Privatsektor tätig zu werden. Die vorherrschende Einstellung ist, entweder einen sicheren Job im öffentlichen Dienst zu haben oder als kleinstädtische Händler zu arbeiten. Es haben sich zwar einige kleine lokale Unternehmen gegründet, aber üblicherweise fehlen ihnen das betriebswirtschaftliche und administrative Verständnis und die Kenntnisse, um ihr Geschäft erfolgreich zu führen. Firmeninhaber und -gründer sind oft zu zögerlich, um loszulassen und versuchen, alles bis ins kleinste Detail selbst zu managen und verhindern somit internes Wachstum und Entwicklung.

Korruption

Die meisten Aktivitäten sind in hohem Maße personalisiert, was wahrscheinlich mit der Dominanz des "Wasta" in der kurdischen beziehungsweise der irakischen Gesellschaft und im Mittleren Osten allgemein zusammenhängt. "Wasta" ist die Idee eines Netzwerks aus persönlichen Beziehungen, Bindungen und Verpflichtungen, das alle sozioökonomischen Aktivitäten beherrscht und das Gegenteil der westlichen Ideen der gesetzlich-rationalen Beziehungen auf der Basis technischer Effizienz darstellt. Daher sind die formellen, gesetzlichen Beziehungen unerheblich für die persönlichen Geschäfte; Rückzahlungen, Gefälligkeiten und Bestechungen sind es, die das System tatsächlich in Gang halten. Mit anderen Worten: Korruption gilt als institutionalisierte Lebensart, die zweifellos wirtschaftliche Entwicklung verhindert.

Korruption ist weit verbreitet und stellt wahrscheinlich einen großen Teil der Wirtschaft dar, wird aber auf fatale Weise als normal akzeptiert. Der plötzliche Aufstieg prominenter Politiker zu großem Wohlstand wird von den meisten Kurden wahrgenommen und auch die politische Aufteilung zwischen der PUK und der KDP ist wenig mehr als eine Aufteilung der Erlöse aus Korruption. Gerüchten nach wurden mehrere Investoren von außerhalb durch ein unverschämtes Maß an Korruption abgeschreckt, wie zum Beispiel hohe Landegebühren für Fluggesellschaften, die in private Taschen flossen.

Eine weitere Folge der Korruption ist die schlechte Qualität vieler Gebäude und die halbfertigen Leerstände, was auch mit einem Mangel an grundlegenden Geschäftskenntnissen wie Planung und Vorausberechnung zusammenhängt. Zwischen dem, der den Bauauftrag erhält und dem, der die Arbeit tatsächlich ausführt, liegen oft mehrere Schichten "Wasta", wobei die Hälfte des Budgets aufgebraucht ist, bevor die Arbeit überhaupt begonnen hat. Daher lassen billige Materialien, Arbeit von schlechter Qualität und ein vor der Fertigstellung erschöpftes Budget für von vornherein schlecht geplante Projekte kurdische Städte voll verlassener, halbfertiger Gebäude zurück.

Potenzial der ländlichen Wirtschaft

Die Wirtschaft Kurdistans operiert in verstärktem Maße losgelöst vom Rest des Irak, auch wenn sie sich noch immer von dem in der Vergangenheit durch die Zentralregierung betriebenen Raubbau erholen muss. Kurdistan war einst die "Kornkammer" des Mittleren Ostens, es hat fruchtbare Ebenen auf einer weiten, wasserreichen Hochebene, und die Landwirtschaft war eine Hauptstütze der traditionellen Wirtschaft.

Dies ist nicht mehr der Fall. Saddam Husseins Feldzüge zur Niederschlagung der kurdischen Aufstände verursachten in großem Umfang eine Entvölkerung ländlicher Gebiete. Die Leute waren gezwungen, in die Städte zu ziehen, wo man ihnen unter anderem Brennstoffe zum Heizen vorenthielt. Sie verließen nicht nur die Landwirtschaft, sondern holzten auch die Bäume und Wälder in ländlichen Gebieten ab, die sie zum Heizen verwendeten. Eine einst florierende ländliche Wirtschaft wurde so zerstört. Noch heute zögern die meisten Leute, die das Land unter Saddam Hussein verlassen mussten, zurückzukehren, obwohl dies ein Bereich ist, der viel Entwicklungspotenzial bietet. Außerdem würden Investitionen in den Aufbau der landwirtschaftlichen Strukturen der kurdischen Regionalverwaltung die Möglichkeit eröffnen, ihre Abhängigkeit vom Öl zu verringern.

Ähnlich kann man mit Blick auf die Wasserkraft argumentieren: In Kurdistans gebirgigem Norden gibt es eine Reihe von schnell fließenden Flüssen, die als Energiequelle sowohl für Kurdistan als auch für seine Nachbarn angezapft werden könnten, die aber nicht genutzt werden. Darüber hinaus bieten diese Gebirge einige großartige Landschaften und Möglichkeiten für den Tourismus, besonders, wenn man ihr historisches Erbe als Geburtsstätte der modernen Zivilisation und später des Christentums bedenkt.

Dass die Entwicklungsmöglichkeiten bislang nur unzureichend ausgeschöpft wurden, ist teilweise auf einen Mangel an Kenntnissen, Wissen, Erfahrungen und Bewusstsein zurückzuführen. Aber es ist auch das Produkt einer Kultur, die persönliche Abhängigkeit und Loyalitäten betont, was durch subventionierte Jobs in den Städten verstärkt wird.

Unabhängigkeit?

Der Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit ist unter den Rückkehrern wie auch der jungen städtischen Mittelschicht besonders stark. Anders verhält es sich im Hinblick auf die Arbeiterklasse und die Landbevölkerung mit ihrer oft recht zynischen Haltung gegenüber dem Karrieredenken und der Korruption, die mit der "modernen Politik" und dem "Nationalismus" verbunden werden. Mittlerweile sind die älteren und erfahreneren Köpfe bezüglich der nationalistischen Ideen der Unabhängigkeit auch vorsichtig geworden. Sie sehen die Fallstricke und erinnern sich an die Gewalt und Instabilität, die nationalistische Ideen in der Vergangenheit hervorgerufen haben.

Darüber hinaus wäre der Nutzen der Unabhängigkeit notwendigerweise nicht überall groß, außer für einige Auserwählte. Ein stabiler, demokratischer, sich entwickelnder Irak könnte unter Umständen ein besserer Ort zum Leben sein als ein isoliertes, von misstrauischen Nachbarn umschlossenes Kurdistan.

Übersetzung aus dem Englischen von Kerstin Steimer, Bonn.

Dr. rer. oec., geb. 1950; war bis März 2010 Professor für Politische Soziologie an der University of Kurdistan Hawler, Erbil/Irak, Gastforscher am Gibson Institute der Queen's University, Belfast/Nordirland, Vorsitzender des Francis Hutcheson Institute, Belfast/Nordirland. E-Mail Link: jc.dingley@googlemail.com