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Paradoxien aus 20 Jahren Integration und Erweiterung

Jan Zielonka

/ 17 Minuten zu lesen

Vor knapp 20 Jahren, bei der Unterzeichnung der Maastrichter Verträge, war das Vertrauen groß, die europäische Einigung vertiefen zu können. Heute droht die Auflösung. Im Angesicht der Krise bedarf es eines neuen Paradigmas der Integration.

Einleitung

Die Ergebnisse aus den vergangenen 20 Jahren europäischer Integration sind paradox. Noch vor zwei Jahrzehnten hatten Paris, Rom und Bonn ein enormes Vertrauen darin, die europäische Einigung vertiefen zu können. Die Schaffung der Europäischen Währungsunion (EWU) durch den Vertrag von Maastricht wurde als fortschrittlichstes und erfolgreichstes Beispiel dafür angesehen, wie sich Staaten zu einer engen Kooperation verbinden können. Nationale Währungen, immer ein Symbol staatlicher Souveränität, konnten auf dem Altar europäischer Integration geopfert werden. Mögliche Bedrohungen, so dachte man, kämen von außen, etwa ausgelöst durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens. Obwohl Deutschland wiedervereinigt war und die Nachbarn der Europäischen Union ihre Freiheit zurückgewonnen hatten, sahen sie doch einer beunruhigenden Zukunft entgegen, fürchteten Kommentatoren, dass in den Staaten Osteuropas wirtschaftliches Chaos, soziale Unruhen und Korruption herrschen könnten. Wie berechtigt diese Befürchtungen waren, bestätigte sich bereits wenige Jahre später in den Balkankriegen, die deutlich vor Augen führten, dass das Ende des Kommunismus mit Instabilität, Konflikt und Gewalt einhergehen konnte.

Heute stellt sich das Bild genau andersherum dar. Mittel- und Osteuropa scheinen stabil zu sein; Staaten wie Polen präsentieren sich geradezu als Musterschüler guten Haushaltens und demokratischer Regierungstätigkeit. Selbst die Länder Ex-Jugoslawiens leben - trotz verbliebener Streitpunkte im Einzelnen - friedlich mit ihren Nachbarn zusammen. Sorgen um die Stabilität gehen heute eher von älteren EU-Mitgliedstaaten aus wie Griechenland, Irland oder Italien sowie von der Krise der EWU. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel erklärte kürzlich, dass ein Scheitern des Euro auch den Kollaps Europas zur Folge haben könnte. Der polnische Finanzminister Jacek Rostowski fügte wenig später hinzu, dass am Ende dieses Szenarios ein Krieg stehen könnte. Aus der Perspektive von vor 20 Jahren erscheint dies alles, als sei die Geschichte auf den Kopf gestellt.

Dieser Beitrag wird den Prozess der europäischen Integration über die zurückliegenden zwei Jahrzehnte zurückverfolgen und fragen, wie Europa in die Krise geraten konnte und ob es tatsächlich droht, auseinanderzufallen.

Vertiefung und Erweiterung

Die europäische Integration hatte immer zwei Dimensionen: eine funktionale und eine territoriale. Seit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch Montanunion genannt) 1951 dehnte sich die Integration schrittweise auf viele verschiedene funktionale Bereiche aus, darunter Handel, Landwirtschaft, Wettbewerb, Einwanderung, Rechtswesen und Außenpolitik. Um die Zusammenarbeit auf immer neue Politikfelder auszuweiten, bedurfte es unterschiedlicher rechtlicher und verfahrenstechnischer Vereinbarungen, die zu immer mehr Komplexität und Doppeldeutigkeiten führten. Die Regeln etwa, die für die europäische Wettbewerbspolitik oder die gemeinsame Landwirtschaftspolitik gelten, ließen sich kaum auf das europäische Rechtssystem oder die Innenpolitik der Union anwenden, oder gar auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Das Ergebnis dieses Prozesses ist ein Regierungssystem, das immer mehr einer variablen geometrischen Figur mit verschiedenen konzentrischen Kreisen ähnelt.

Gleichzeitig umfasste die Integration auch den Prozess der Erweiterung des europäischen Territoriums. Die Europäische Gemeinschaft erlebte seit 1973, als sich Großbritannien, Dänemark und Irland den ursprünglich sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft anschlossen, mehrere Erweiterungsrunden. Jede neue Erweiterung wurde begleitet von institutionellen und prozeduralen Systemveränderungen. Neue Mitglieder brachten ihre jeweiligen Kulturen, politische und wirtschaftliche Interessen sowie rechtliche Abläufe mit in die Gemeinschaft ein. Auch die Nachbarschaft der EU änderte sich mit jeder Erweiterung, was zusätzliche Herausforderungen mit sich brachte. Die EU wurde nicht nur größer, sondern diversifizierte sich. Dies traf insbesondere auf die sogenannte Big Bang-Erweiterung im Jahr 2004 zu, als - neben Malta und Zypern - acht Staaten aus Mittel- und Osteuropa der Union beitraten. Einheitliche Lösungen für alle konnten kaum gefunden werden in einer Gemeinschaft aus 27 Staaten; auch deshalb entwickelte sich das Regierungssystem Europas immer mehr zu dem angesprochenen Modell der konzentrischen Kreise.

Sowohl die Vertiefung als auch die Erweiterung haben zu einer Verbesserung des internationalen Status Europas beigetragen. Der Prozess der Vertiefung traf aber innerhalb der Union immer auf größere Zustimmung als jener der Erweiterung. Die Vergrößerung der Europäischen Union wurde häufig als Faktor gesehen, der Entscheidungsprozesse so behindere, dass die funktionale Integration unmöglich zu realisieren sei. Das erklärte Ziel der Integration war - und ist noch immer - die ever closer union und nicht die ever wider union. Es liegt auf der Hand, dass das Verschmelzen von Institutionen und die funktionale Annäherung nur schwierig zu erreichen sind. In einer sich vergrößernden und sich weiter ausdifferenzierenden Europäischen Union fällt es zunehmend schwer, Institutionen zu verschmelzen und funktionale Konvergenz herzustellen. Vor allem die jüngste Erweiterungsrunde von Beitrittsstaaten aus Mittel- und Osteuropa wurde als problematisch angesehen. So wurde beklagt, dass sie die Abstimmungsbalance zwischen großen und kleinen Staaten beeinträchtigen würde. Bürger in älteren Mitgliedstaaten sahen die Erweiterung als Bedrohung ihrer Systeme der Sozialvorsorge und ihrer Arbeitsmärkte an und äußerten die Befürchtung, dass mit den neuen Staaten auch die Korruption in die Rechtskultur der Union Einzug halten könnte.

Einige machten diese Erweiterungswelle sogar für das Scheitern der Europäischen Verfassung verantwortlich, da viele französische und niederländische Bürger ihre Nein-Stimme beim Referendum als Protest dagegen abgegeben hätten, dass es polnischen Klempnern gestattet sein sollte, in Westeuropa zu arbeiten. Der Prozess der Vergrößerung wurde einstweilen auf Eis gelegt, was auch den europäischen Ambitionen der Türkei und einiger Balkanstaaten einen empfindlichen Schlag versetzte. Weitere Beitritte würden, so wurde nun befürchtet, die Essenz der Europäischen Integration verwässern und ihre Institutionen lähmen. Der Umstand, dass gerade die traditionell "euroskeptische" britische Regierung zu den entschiedensten Befürwortern der Erweiterung gehörte, ließ diese Argumentation gerechtfertigt erscheinen.

Ähnliche Zweifel waren in Bezug auf die weitere Vertiefung der Union kaum zu vernehmen. Der Euro sollte die Transaktionskosten europäischer Firmen senken und ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern. Das Projekt des gemeinsamen Wirtschaftsraumes wurde als Lokomotive der globalen Macht Europas gesehen, schaffte es doch ein gigantisches kapitalistisches System, von dem man annahm, es arbeite zum Nutzen von einer halben Milliarde Menschen. Das Schengen-System wurde gelobt, weil es der Europäischen Union erlaube, auch der Migration und der grenzüberschreitenden Kriminalität Herr zu werden.

Sicherlich ist die europäische Wirtschaft seit dem Maastrichter Vertrag nicht nennenswert gewachsen, leidet die Europäische Union weiterhin unter einem Demokratiedefizit. Doch noch bis vor kurzem schien die Europäische Union immun gegen die wirtschaftlichen Krisen, unter denen etwa die Märkte Asiens am Ende der 1990er Jahre zu leiden hatten, oder auch gegen die politischen Krisen, die Südamerika immer wieder erschütterten. Die EU wurde zur "new city on the hill" ausgerufen, der es obliege, das "21. Jahrhundert zu regieren". Andere Staaten und Regionen sollten dem "europäischen Traum" nacheifern.

Ursprung der Krise

Es lässt sich darüber streiten, ob Europas gegenwärtige Krise in New York oder in Athen ihren Anfang nahm. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers war es nicht unbedingt zu erwarten, dass nicht nur Banken, sondern auch ganze Staaten von Insolvenz bedroht sein würden. Heute sind mehrere Länder der EU nicht in der Lage, ihre Schulden zu bedienen, würden ihnen nicht der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank unter die Arme greifen. Die Zukunft der Europäischen Währungsunion erscheint so alles andere als sicher, und das trotz aller politischen Treuebekenntnisse. Die Frage ist: Wird ein Zusammenbruch der EWU - sollte es dazu kommen - auch das Ende des gesamten Integrationsprozesses einläuten? Wenigstens drei Faktoren deuten darauf hin, dass dies eine sehr realistische Aussicht ist.

Erstens ist festzustellen, dass Europa im Zuge des Integrationsprozesses ein überaus interdependentes Gemeinwesen schuf. Ein Zerfall in einem Bereich wird dies auch in anderen Bereichen nach sich ziehen - sozusagen eine funktionalistische Theorie unter umgekehrten Vorzeichen. Der Funktionalismus behauptet, dass die Integration in einzelnen Bereichen die Integration auch in anderen Bereichen anregen würde, herbeigeführt durch einen spill-over-Effekt und durch Vergemeinschaftung. Die Kehrseite erscheint in der gegenwärtigen Situation als wahrscheinliches Szenario. Der Zusammenbruch der EWU wird wohl das Projekt des Gemeinsamen Wirtschaftsraums ebenso beschädigen wie das Schengen-System, da sogar Staaten außerhalb der EWU wie Großbritannien oder Polen in hohem Maße vom Handel mit der Eurozone abhängig sind und ihre Geschäfte nach einem solchen Kollaps kaum unbeeinträchtigt fortsetzen werden können. Protektionismus, Abschotten der Grenzen und damit verbunden die Drosselung des freien Verkehrs von Gütern, Kapital, Dienstleistungen und Menschen quer durch Europa wären die Folgen.

Der zweite Grund für ein mögliches Auseinanderbrechen ist das Fehlen umfassender, funktionsübergreifender Lösungen, um die Probleme der EU in den Griff zu bekommen. Bis jetzt hat die EU/EWU Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht, die ein übergreifendes Wirtschaftswachstum eher behindern als es zu stimulieren. Auf welchem Wege die angewandten fiskalischen Maßnahmen die sozialen, politischen und kulturellen Probleme, die der aktuellen Misere zu Grunde liegen, bewältigen sollen, ist sogar noch weniger zu erkennen. Zum Beispiel ist, nach dem einhelligen Urteil von Experten, sowohl in Griechenland wie in Italien für die Zweckentfremdung öffentlicher Gelder die politische Kultur der Patronage verantwortlich. Werden Einschnitte bei den öffentlichen Diensten diese Kultur nun ändern? Wird die Privatisierung öffentlicher Anlagegüter die "feudale" Kontrolle durch die Netzwerke der Wirtschaftselite beschneiden oder gar noch fördern? Wer wird das Geld aufbringen können, um diese Anlagegüter zum Schnäppchenpreis zu kaufen? Erschwerend kommt hinzu, dass individuelle Lösungen in verschiedenen Ländern auch noch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.

Dies bringt mich zum dritten Grund für eine mögliche Auflösung: konkurrierende souveräne Interessen. Zurzeit üben die verschiedenen europäischen Akteure ihre Macht auf unterschiedliche Weise aus, und das auf verschiedenen Ebenen des Regierungsapparates. Übernationale Märkte "regieren" Europa und all seine Mitgliedstaaten, indem sie der monetaristischen Logik folgen: Im Zentrum ihres Interesses stehen die Bilanzen der Bücher von Banken und die der staatlichen Haushalte. Die europäischen Institutionen kümmern sich hauptsächlich um institutionelle Defizite. Fortschritt und Rückschritt bemessen sich bei ihnen nach dem Grad an institutioneller Übereinstimmung oder nach dem Fehlen derselben. Die Mitgliedstaaten wiederum sorgen sich vor allem um die sozialen Defizite, die die Wahlergebnisse für ihre jeweiligen Regierungen beeinflussen. Die dahinter stehende Logik dieser drei Arten von Governance bringt sehr unterschiedliche Politiken hervor, und so erklärt sich, warum die Märkte, die EU und die europäischen Staaten beständig die Anstrengungen und die Glaubwürdigkeit der jeweils anderen unterminieren. Die Märkte nehmen die Anstrengungen nicht ernst, mit denen die EU sich müht, den Euro am Leben zu erhalten, während die EU ihrerseits ihren Mitgliedstaaten grollt, wenn diese versuchen, ihren Bevölkerungen wenigstens einigermaßen entgegenzukommen, indem sie ihnen die Möglichkeit zur demokratischen Teilhabe bietet, sei es durch Referenden (Griechenland) oder Wahlen (Italien).

Szenarien der Auflösung

Wenn es sich bei der Auflösung der Eurozone um eine ernstzunehmende Prognose handelt, ist es wichtig, sich auf eine solche Situation vorzubereiten. Drei unterschiedliche Szenarien der Auflösung lassen sich ausmalen.

Im ersten Szenario vollzieht sich eine Reihe von Entwicklungen, die außerhalb der Kontrolle der europäischen Regierungen liegen. Die Lawine könnte gar unabsichtlich von diesen herbeigeführt werden. So mag der Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone ein solcher Schritt sein, der, so vernünftig er aus Sicht der öffentlichen Meinung in Deutschland, Frankreich oder den Niederlanden auch klingen mag, eine Spirale von Ereignissen in Gang setzt, die schon bald nicht mehr zu kontrollieren ist. Gegenseitige Beschuldigungen, Vergeltungsmaßnahmen und Schuldzuweisungen würden folgen. Chaos entstünde, und Deutschland wäre der Hauptverdächtige bei der anschließenden Suche nach Schuldigen. Einige Länder würden sich hinter Deutschland scharen, andere würden versuchen, eine Gegenallianz zu schmieden. Da Chaos optimale Brutbedingungen für populistische Politik bietet, würde der Nationalismus erstarken. In der Folge würden auch territoriale und finanzielle Ansprüche geltend gemacht werden. Eine solch abrupte, unkontrollierte Auflösung könnte jedoch auch von äußeren Faktoren herbeigeführt werden. Die Finanzmärkte sind gegenwärtig so unberechenbar wie sprunghaft. Die Situation in Europas "Hinterhöfen" von Tripolis und Kairo bis Pristina, Minsk und Kiew gibt keinen Anlass, sorgenfrei der Zukunft entgegenzublicken. Eine Mischung interner wie externer Schocks könnte eine Kette von Ereignissen auslösen, die sich schnell jeder Kontrolle entziehen.

Das zweite denkbare Szenario stellt sich als Serie kontrollierter Anstrengungen der europäischen Führungen dar, die Integration entlang des vorhandenen föderalen Masterplans zu forcieren. Ein Sprung in die Föderation wird von vielen als einzige Möglichkeit gesehen, die Kontrolle über die volatilen Märkte wiederzuerlangen und den einzelnen Mitgliedstaaten Luft zu verschaffen. Die häufigsten heute in Brüssel gebrauchten Schlagworte sind "Disziplin", "Überwachung" und "Durchsetzung". Das europäische Regierungszentrum soll auf Kosten der nationalen Regierungen gestärkt werden. Das Problem aber ist, dass solch ein Sprung in den Föderalismus sehr wohl böse enden und das genaue Gegenteil von dem erreichen könnte, was eigentlich beabsichtigt war. Wie es der italienische Europaexperte Giandomenico Majone treffend sagte: "Einer Föderation mit völlig unterschiedlichen Gemeinwesen, ohne Gefühl der Solidarität, das sich aus einem Gefühl des gemeinsamen Erbes und einer Art nationalen Gemeinschaftsgefühls speist, wird es sehr schwerfallen, etwa eine Politik der Umverteilung zu verfolgen, bei der Gewinner und Verlierer klar definiert sind."

Eine Föderation wäre nur dann arbeitsfähig, wenn sie sich aus wenigstens einigen gleichgesinnten und vergleichbaren europäischen Staaten zusammensetzt. Können Frankreich und Deutschland den Kern einer föderativen Gemeinschaft bilden? Und wenn nicht, welche anderen Staaten wären bereit und in der Lage, eine solche Föderation zu bilden? Und außerdem: Ein formeller europäischer Kern der Staaten, die sich einer Föderation verschreiben, würde neue Trennlinien durch den Kontinent ziehen, bestehend aus Angst und Verdächtigungen. Einige der gegenwärtigen EU-Mitglieder würden sich sorgen, vom Kern ausgeschlossen zu werden, andere befürchten, von den stärkeren Staaten dominiert zu werden. Mit anderen Worten: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Bildung einer Föderation die Beziehungen zwischen den Staaten Europas stabilisiert und scheint eher geeignet, zu ernsthaften internationalen Spannungen zu führen. Kurz gesagt, kann uns genau dies zum ersten, anarchischen Szenario führen.

Das dritte Szenario ließe sich "verdeckte Auflösung" nennen, verursacht durch eine Politik der "wohlwollenden Vernachlässigung". Anstatt nach europäischen Lösungen für ihre nationalen Probleme zu suchen, würden die Mitgliedstaaten dabei verstärkt versuchen, die Probleme auf sich allein gestellt oder in einem nicht-europäischen Rahmen anzugehen. Das europäische Projekt würde dabei nicht offen aufgegeben, doch hauptsächlich für symbolische Zwecke genutzt, aus Gründen der Öffentlichkeitswirkung. Die Politikgeschichte kennt viele Beispiele solcher Symbolpolitik: Führende Politiker treffen sich und geben beruhigende Statements ab, ohne vorzuhaben, sich an ihre Versprechen zu halten und gemeinsame Probleme konstruktiv anzugehen. Die Politikgeschichte kennt auch viele Beispiele von Institutionen, die eigentlich nur auf dem Papier existieren: Ihre Rolle besteht nicht darin, Zusammenarbeit zu fördern, sondern nur darin, das Fehlen einer solchen zu kaschieren.

Auch wenn dieses dritte Szenario den Anschein erweckt, weniger konfliktanfällig als die beiden zuvor genannten zu sein, würde es doch zu einem ernsthaften Mangel an Effizienz führen. Der EU würde es schlicht nicht mehr gelingen, sich um die Probleme zu kümmern, denen sich die Europäer gegenübersehen, mit allen sozialen und ökonomischen Implikationen. Die Politik der "wohlwollenden Vernachlässigung" mag als Grundprinzip haben, Zeit zu gewinnen und eine Lösung der anstehenden Probleme zu vertagen. Ungelöste Probleme verschwinden jedoch nicht einfach und eine nur noch auf dem Papier existierende Europäische Union ist nicht in der Lage, mit ihnen fertig zu werden. Hinzu kommt, dass bei diesem Szenario wohl nicht-europäische Akteure wie die Türkei, Russland und vor allem die USA in Europa an Einfluss gewinnen. Das muss zwar nicht per se schlecht sein, doch würde es die Spannungen zwischen den europäischen Staaten zweifellos verstärken und es den Akteuren außerhalb der EU leichter machen, die EU-Staaten gegeneinander auszuspielen. Polen wurde bereits als amerikanisches, Deutschland als russisches Trojanisches Pferd in Europa bezeichnet.

Schlussfolgerungen

Beim gegenwärtigen europäischen Diskurs geht es hauptsächlich um Geld. Natürlich braucht Europa Geld, um seine Schulden zu bedienen und auf den Finanzmärkten Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Geld wird aber auch gebraucht, um zunehmend unzufriedene Wähler zu beschwichtigen, nach Jahren eines sehr schleppenden Wachstums und einer ungleichen Verteilung der Profite. Europa hielt sich immer zugute, über eine attraktive Sozialpolitik zu verfügen, unterfüttert durch einen effizient arbeitenden öffentlichen Sektor. Davon ist heute, nach der neoliberalen Wirtschaftsära, nicht mehr viel übrig.

Und doch, Geld allein kann Europa kaum aus der Krise führen. Europa muss einen neuen Weg finden, Geld zu investieren und zu verteilen. Vor allem aber muss Europa neue Paradigmen erdenken und anwenden, wie die Wirtschaft der Mitgliedsländer betrieben wird, aber auch neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Staatsführung sind gefragt. Für all dies wird eine neues Paradigma der europäischen Integration benötigt. Dieses muss zunächst das Wesen der jetzigen Europäischen Union begreifen. Die EU ist weder ein "Superstaat" noch eine internationale Organisation. Einige Jahrzehnte der Erweiterung und der Vertiefung des Integrationsprojekts haben ein Gemeinwesen geschaffen, das einem "neomedievalen Imperium" ähnelt. Im heutigen Europa gibt es, wie im Mittelalter, überlappende Autoritäten, multiple Loyalitäten, unklare Grenzziehungen und eine Vielzahl an miteinander im Wettstreit stehenden universalen Ansprüchen.

Es ist schwer zu sagen, wer tatsächlich und nicht nur der Form nach für einige Gebiete und Bevölkerungen innerhalb der EU verantwortlich ist. Das Amt der europäischen Präsidentschaft wechselt alle sechs Monate. Wichtige europäische Institutionen sitzen nicht nur in Brüssel, sondern auch in Frankfurt am Main, Straßburg, Wien, London, Luxemburg, Parma und Kopenhagen. Verschiedene europäische Staaten sind Mitglieder verschiedener Netzwerke mit ganz bestimmten Regeln und Mitgliedskriterien. So gehören etwa Nicht-EU-Staaten wie Island und Norwegen zum Schengen-Gebiet, während EU-Staaten wie Bulgarien oder Großbritannien nicht Teil des Schengen-Raums sind, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Bürger Europas und gewerbliche Unternehmen unterliegen verschiedenen regionalen, nationalen, europäischen wie internationalen Rechtsprechungen. Politische Loyalitäten sind vielfältig wie zersplittert. Katalonien als Beispiel fällt unter die Rechtsprechung Madrids, Barcelonas, Frankfurts oder Brüssels, je nach Rechtsfrage. Noch kniffliger ist es, die kulturelle und politische Loyalität der Katalanen bestimmen zu wollen. Europäische Werte und Normen formen internationale Strategien, Institutionen und die Politik der europäischen Staaten, und sie verlangen, dass sich die Bürger, wo in Europa sie auch immer leben, als gute Demokraten und Kapitalisten verhalten.

Die gegenwärtige Krise hat bereits jetzt ein System polyzentrischer Autorität, pluraler Zusammengehörigkeitsgefühle, asymmetrischer Oberhoheiten und anomaler Enklaven hervorgebracht, die an die Zeit des Mittelalters erinnern. Die wichtigsten Entscheidungen werden zur Zeit von der sogenannten Frankfurter Gruppe getroffen, bestehend aus Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds, Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Euro-Gruppe, Herman van Rompuy, Präsident des Europarates sowie Olli Rehn, EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung. Die Gruppe verfügt über keinerlei rechtliche Basis; sie hat sich selbst zusammengesetzt und ist niemandem verantwortlich. Die US-Regierung hat formell keinen Sitz innerhalb eines EU-Gremiums und doch sind es ihre Ermutigungen wie Drohungen, die wichtige Entscheidungen Europas beeinflusst haben. Der US-amerikanische Finanzminister Timothy F. Geithner nahm in jüngster Zeit gar an EU-Treffen in Belgien und in Polen teil - so etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben. Inzwischen gibt es sogar Anzeichen dafür, dass auch China eine Rolle bei der künftigen Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik spielen wird.

Der neomedievale Rahmen verweist auf Gedankenspiele und Politiken, die sich fundamental von dem unterscheiden, was zurzeit von den führenden Politikern Europas diskutiert wird. Ein mittelalterliches Reich lässt sich nicht in gleicher Weise regieren wie ein Föderalstaat. Asymmetrische Machtarrangements können weder legalisiert werden noch gänzlich unkontrolliert bleiben. Die Vielfalt an Wirtschaftsformen und Kulturen lässt sich nicht per Dekret von einem einzigen - noch dazu schwach legitimierten - europäischen Zentrum aus regulieren. Die neomedievale EU muss sich der Diversität und einem flexiblen Regierungsstil öffnen, anstatt sie zu bekämpfen. Weiche statt harte Gesetze müssten die Regel sein: Europäische Gesetze und Richtlinien würden hauptsächlich auf freiwilliger Basis eingehalten werden und die Europäische Kommission müsste eher mit Anreizen denn mit Sanktionen die Einhaltung stimulieren. Der Zweck der europäischen Politik sollte eher darin bestehen, Probleme deliberativ zu lösen und voneinander zu lernen, anstatt unbedingt nach Konvergenz und Einheitlichkeit zu streben. Die Außenpolitik der EU sollte vor allem danach trachten, die Nachbarschaft der Gemeinschaft zu stabilisieren, indem sie auf geschickte Weise eine Mitgliedschaft in Aussicht stellt. Dies bedeutet, dass nicht nur die Türkei, die Ukraine und Serbien als mögliche EU-Mitglieder angesehen werden, sondern auch diejenigen arabischen Staaten, die sich dem europäischen Modell von Marktwirtschaft und Demokratie verpflichten.

Die vorgeschlagenen Lösungen erfordern in Bezug auf die Art und Weise, in der die EU heute geführt wird, einige mentale und praktische Anpassungen. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel Anfang Dezember 2011 ging es vornehmlich um Hierarchie, Disziplin und Sanktionen und weniger um Pluralismus, Flexibilität und Anreize. Die neomedievalen Lösungen künden keineswegs von einem Ende des europäischen Integrationsprojektes, noch würden sie seine internationalen Einflussmöglichkeiten vermindern. Pluralismus, Offenheit, Diversität und Flexibilität sollten als Aktivposten innerhalb des Integrationsprojektes betrachtet werden, weil sie es ermöglichen, voneinander zu lernen und die eigene Legitimität stärken. Pluralismus und Flexibilität bedeuten nicht totale Freiheit, Regellosigkeit oder eine Politik des anything goes. Integration ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie zur Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Ordnung beiträgt, dem Erreichen gemeinsamer Ziele dient und dem kollektiven Prozess der Schaffung eines Regelwerks. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es jedoch mehrere Wege. Die Union braucht eine Art von Zentralregierung, nicht jedoch eine Einheitsregierung mit hierarchischer Struktur. Die Union braucht eine Art konstitutionelle Ordnung, die aber Raum lassen sollte für ein hohes Maß an Flexibilität und Differenzierung. Die Union muss ein gewisses Maß an Führung und Steuerung bieten, ohne damit Kompromissfähigkeit und Anpassungen bei der Formulierung und Umsetzung ihrer Politik auszuschließen. Die Union braucht eine gemeinsame Außenpolitik, doch muss diese nicht zwangsläufig zentral gesteuert sein und durch eine europäische Armee durchgesetzt werden. Schließlich sei daran erinnert, dass im Mittelalter die erfolgreichste Politik diejenige war, die ihre Ziele durch Heiraten und nicht durch blutige Militäroperationen zu erreichen suchte.

Natürlich sollen meine Vorschläge als Versuch gesehen werden, die gegenwärtige Debatte neu zu beleben; es geht also weniger darum, einen bereits fertigen Masterplan zu vertreten. Perfekte Lösungen existieren zurzeit nicht und die Idee, dass Europa aus jeder Krise gestärkt hervorgeht, erscheint mir ziemlich naiv. Europa muss sich neu erfinden, um die gegenwärtige Krise zu überstehen und dieser Artikel versucht eine Lösung anzubieten, die es Europa erlaubt, aus seinem Erbe der Integration und der Erweiterung Nutzen zu ziehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Merkel warnt vor Kontrollverlust der Politik, Video, 13.9.2011, online: www.sueddeutsche.de/politik/merkel-o-merkel-warnt-vor-kontrollverlust-der-politik-1.1142713 (13.12.2012).

  2. Zit. nach Tomasz Bielecki, "Wojna Idzie?", in: Gazeta Wyborcza vom 15.9.2011, online: http://wyborcza.pl/1,75968,
    10290674,Wojna_idzie_.html (13.12.2012).

  3. Die Präambel des Vertrages über die Europäische Union spricht von der "Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas". Siehe auch die 1989 von Jacques Delors in Brügge gehaltene Rede, abgedruckt in: Brent F. Nelsen/Alexander C.-G. Stubb (eds.), The European Union. Readings on the Theory and Practice of European Integration, London 1994, S. 51-64.

  4. Steven Hill, Europe's Promise. Why the European Way is the Best Hope in an Uncertain Age, Berkeley 2010, S. 369.

  5. Vgl. Mark Leonard, Why Europe will run the 21st Century, London 2005.

  6. Vgl. Jeremy Rifkin, The European Dream, New York 2004.

  7. Giandomenico Majone, Europe as the Would-be World Power. The EU at Fifty, Cambridge 2009, S. 65.

  8. Vgl. Jan Zielonka, Europe as Empire. The nature of the Enlarged European Union, Oxford 2006. Siehe auch Ulrich Beck/Edgar Grande, Cosmopolitan Europe, Cambridge 2007; Josep M. Colomer, Great Empires, Small Nations. The Uncertain Future of the Sovereign State, London 2007.

  9. Vgl. Luis Moreno/Ana Arriba/Araceli Serrano, Multiple Identities in Decentralized Spain: The Case of Catalonia, in: Regional and Federal Studies, 8 (1998) 3, S. 65-88; John Loughlin, Regional Autonomy and State Paradigm Shifts in Western Europe, in: Regional and Federal Studies, 10 (2000) 2, S. 10-34.

  10. Vgl. Martin Wolf, A disastrous failure at the summit, in: Financial Times vom 14.12.2011, S. 15.

  11. Vgl. José Manuel Durão Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, Rede im Europäischen Parlament während der Debatte über die ökonomischen Krisen und den Euro, Plenarsitzung des Europäischen Parlaments, Straßburg, 14.9.2011, online: http://europa.eu/rapid/pressReleases
    Action.do?reference=SPEECH/
    11/572&format=HTML&aged=0&
    language=EN&guiLanguage=en (13.12.2011).

Ph.D., geb. 1955; Professor of European Politics, University of Oxford, und Ralf Dahrendorf Fellow, St Antony's College, 70 Woodstock Road, Oxford, OX2 6JF, UK. E-Mail Link: jan.zielonka@sant.ox.ac.uk