Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zeitgeschichte der "Berliner Republik" | Zeitgeschichtsschreibung | bpb.de

Zeitgeschichtsschreibung Editorial Zeitgeschichte der "Berliner Republik" Vom "Lehrstück Weimar" zum Lehrstück Holocaust? Geteilter Himmel: Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit Zeitgeschichte und Erinnerungskonflikte in Europa Globalgeschichte und Zeitgeschichte Vergnügen in der Zeitgeschichte Über das Verhältnis von Geschichts- und Politikwissenschaft Repräsentationen des "Gegenwärtigen" im deutschen Schulbuch

Zeitgeschichte der "Berliner Republik"

Axel Schildt

/ 15 Minuten zu lesen

Statt einer Nationalgeschichte, ob west-, ost- oder deutsch-deutsch, ist eine Zeitgeschichte gefordert, welche Kontinuitäten und Umbrüche seit Ende des 20. Jahrhunderts im Rahmen (hoch)moderner europäischer und globaler Prozesse verortet.

Einleitung

Der Titel des Aufsatzes ist insofern doppeldeutig, als er einerseits die Tendenzen der Zeitgeschichtsschreibung, das heißt - weit gefasst - der Historiografie des 20. Jahrhunderts innerhalb der vergangenen beiden Jahrzehnte, umfasst und andererseits die Historisierung dieses jüngsten Abschnitts der deutschen Geschichte meint. Zudem wird mit dem Begriff der "Berliner Republik" - ich werde ihn konsequent in Anführungszeichen setzen - von manchen Publizisten eine wertende Aussage über eine neue Qualität der Bundesrepublik nach 1990 getroffen, etwa als vages Postulat des Aufbruchs aus der politisch langweiligen Bonner in eine interessantere Berliner Zeit.

Im Folgenden sollen beide Konnotationen des jüngsten Abschnitts deutscher Geschichte angesprochen und partiell aufeinander bezogen werden, da sich aus den Tendenzen der Zeitgeschichtsschreibung durchaus etwas über die Gesellschaft der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren herauslesen lässt. Die Skizze erfolgt in drei Schritten. Zunächst sollen in einem groben Umriss Kontinuitätslinien und Trendwechsel der neueren Forschung im Blick auf die hauptsächlichen Teilbereiche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts festgehalten werden, danach geht es um einige neuere Diskussionen zur deutschen Geschichte der Zeit nach 1945 und schließlich um vorläufige Anmerkungen zu einer künftigen Zeitgeschichte des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts.

Umrisse und Konjunkturen

Drei Prognosen begleiteten die geschichtspolitischen Debatten der frühen 1990er Jahre: Zum Ersten erwarteten viele Beobachter, dass das Interesse am "Dritten Reich" mit wachsender zeitlicher Distanz und mit dem Abschied der "Erlebnisgeneration" nachlassen werde. Der "Historikerstreit" der 1980er Jahre schien bereits das geschichtspolitische Endspiel gewesen zu sein. Zum Zweiten wurde, erhofft oder befürchtet, davon ausgegangen, dass die Geschichte der DDR die des "Dritten Reiches" - letzteres dann nur noch im "Diktaturvergleich" vorkommend -, aber auch die Geschichte der "alten Bundesrepublik" in den Hintergrund drängen würde. Und drittens gab es Ängste mit Blick auf die Entwicklung einer "siegeswestdeutsch" gefärbten Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. All diese Prognosen waren nicht völlig unbegründet, erwiesen sich aber bald als falsch.

Der quantitative Befund zu den historiografischen Veröffentlichungen in den beiden Jahrzehnten seit 1990 ist eindeutig: Die Zahl der Monografien und Sammelbände zu allen Abschnitten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sich vervierfacht; das Interesse an der NS-Zeit und deren Aufarbeitung behauptet nach wie vor den führenden Platz mit etwa einem Viertel aller Monografien sowohl 1990 als auch 2009; zur Geschichte der DDR bis 1990 erschienen etwa gleich viele Publikationen wie zur Geschichte der "alten Bundesrepublik"; das Interesse an der jüngsten Zeitgeschichte seit 1990 nimmt zu, und alle modernen Gesamtdarstellungen der Geschichte der Bundesrepublik reichen heute - jedenfalls dem Anspruch nach - bis zur Gegenwart.

Dass ein Ende der Debatten über den Nationalsozialismus nicht eintrat, lag primär an der im wiedervereinigten Deutschland noch gesteigerten Relevanz symbolischer Abgrenzung zu den Verbrechen des "Dritten Reiches". Die von insgesamt mehr als einer Million Menschen besuchten Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung über die Verbrechen der Wehrmacht (1995-1999 und 2001-2004), die Debatten um "Hitlers willige Vollstrecker" (Daniel Goldhagen, 1996), "Hitlers Volksstaat" (Götz Aly, 2005) und langjährige Diskussionen um das 2005 in Berlin eingeweihte "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" machten auf die Verstrickung großer Teile der deutschen Bevölkerung in die nationalsozialistischen Massenverbrechen aufmerksam. Während einzelne Debatten in den Medien sporadisch aufleben, zuletzt um die Untersuchung der Rolle des Auswärtigen Amtes, hat sich in der Zeitgeschichtsschreibung eine intensive Fachdebatte um das Verhältnis von Realität und Inszenierung der "Volksgemeinschaft" im "Dritten Reich" entwickelt.

Zu einem parallel nachgefragten Produkt auf dem medialen Geschichtsmarkt hat sich die Erinnerung an Luftkrieg und Kriegsende entwickelt, in der "die Deutschen" als Opfer im Mittelpunkt standen - häufig mit einem pflichtschuldigen Prolog, der den Nationalsozialismus als Ausgangspunkt der Leiden der Bombenopfer und Vertriebenen benennt. Die zeithistorische Forschung hat aber hierzu hervorragende kritische Studien erarbeitet, die zudem den Umgang mit der Erinnerung an diese Geschehnisse bereits für längere Zeiträume analysieren.

Dass die DDR-Geschichte nach 1989/90 in den Vordergrund trat, ist nicht verwunderlich. Zum einen konnte sie nun als abgeschlossene Epoche und zugleich auf Basis der nahezu vollständig zugänglichen Akten erzählt werden, was zudem geschichtspolitisch hochgradig erwünscht war. Wissenschaftsfördernde Einrichtungen initiierten sehr früh Programme zum "Diktaturvergleich". Allerdings lässt sich konstatieren, dass anfänglich dominierende Totalitarismusformeln unter dem Eindruck empirischer Studien zur ostdeutschen Gesellschaft erodierten und sich eine pluralistische empirische Forschung mit verschiedenen institutionellen Zentren entwickelte - einschließlich der unvermeidlichen Kontroversen. Dass die historische DDR-Forschung besonderen öffentlichen Debatten ausgesetzt ist, liegt geschichtspolitisch auf der Hand.

Nicht nur die DDR, auch die "alte Bundesrepublik" war 1990 an ihr Ende gekommen. Die zeithistorische Bundesrepublik-Forschung, die über die vorherige politische Ereignisgeschichte hinausging, begann im Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung. Veröffentlichungen in größerer Zahl erfolgten im Jahrzehnt danach. Dabei war eine gewisse Forschungslogik unverkennbar: dem sozialhistorischen Paradigma von "Moderne" und "Modernisierung" im Blick auf die "Gründerzeiten" folgte eine partielle Öffnung für kulturhistorische Perspektiven und zugleich eine Wiederaufnahme der politischen Geschichte für die 1960er Jahre. Bis zur Untersuchung dieser Zeit waren Fragen nach dem Verhältnis von Kontinuitäten - personeller, institutioneller, struktureller oder mentaler Art - und Brüchen bzw. neuen Entwicklungen immer im Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch der dorthin führenden Wege gestellt worden. Das Interesse verlagerte sich von den Kontinuitäten auf jene Faktoren und Konstellationen, die erklären, warum aus der düsteren und geradezu beängstigenden politischen Kultur der frühen Bundesrepublik - die bisweilen noch immer in Festreden zum demokratischen Frühling geadelt wird - eine relativ liberale und pluralistische Gesellschaft hatte werden können.

Die Konturierung eines Transformationszeitraums der "langen 1960er Jahre" legte zugleich die Hypostasierung von "1968" zur tiefsten Zäsur der Geschichte der Bundesrepublik und zum allein erklärenden Faktor für ihre Liberalisierung und Demokratisierung ad acta. Auch der Umgang mit den "68ern" konnte bereits als geschichtspolitische Linie nachgezeichnet werden.

Tendenzen in der jüngeren Zeitgeschichtsforschung

Die 1960er Jahre sind seit dem Ausgang der 1990er Jahre, die 1970er Jahre seit der ersten Hälfte der 2000er Jahre beforscht worden, auch die 1980er Jahre werden mittlerweile einbezogen. Damit zeichnet sich ab, dass der erste gründliche Durchgang einer historiografischen Deutung der gesamten "alten Bundesrepublik" bald abgeschlossen sein wird. Dies ermöglicht, erste Linien für den Zusammenhang von Zeitgeschichte und "Zeitgeist" zu ziehen. Dabei fällt auf, dass die Betonung der Kultur im weiten Sinne bei der Deutung der 1960er Jahre gegenüber der sozialhistorischen Dominanz bei der Untersuchung der 1950er Jahre zusammenfällt mit der gesteigerten Aufwertung des Individualismus nach der Niederlage des Sowjetblocks, mit einer Erzählung von Selbstbestimmtheit und Freiheit, in der die Fragen nach Relevanz und Interessen mitunter als überkommene ideologische Reminiszenzen erscheinen.

Die Erforschung der 1970er Jahre setzte erst nach der Jahrhundertwende, nachdem die Blase der "New Economy" geplatzt war, in breitem Maßstab ein. Sie kreist um die Frage nach grundsätzlichen Strukturbrüchen, die den Weg in eine postindustrielle Gesellschaft und letztlich in unsere Gegenwart gewiesen haben, und geht mit der Renaissance sozial- und wirtschaftshistorischer Themen und Ansätze einher. Allerdings hat die stärkere Betonung ökonomischer Prozesse kulturhistorische Ansätze keineswegs verdrängt. Dass Performanz und Inszenierung keine nur ästhetischen Bezüge besitzen, sondern mit ökonomischen Interessen eng verknüpft sind, gilt als gesicherte Erkenntnis. Dies deutet an, dass der Siegeszug des "Neoliberalismus", der in den 1970er Jahren eingesetzt hatte und vor der Jahrhundertwende als - vorläufig - letzte nach dem Zerfall des Sowjetblocks verbliebene Meistererzählung die mediale Öffentlichkeit weitgehend dominierte, bereits als eine ideologische Konstruktion historisierbar geworden ist.

Es ist evident, dass Befürchtungen einer nationalistisch eingefärbten Zeitgeschichte nach 1990 nicht eingetroffen sind. Die Probleme der europäisch eingehegten erweiterten Bundesrepublik haben sogar umgekehrt zur Ablehnung einer angeblich "harmonisierenden" "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik geführt, bei der allerdings nicht recht klar ist, wer diese geschrieben haben soll. Es ist faktisch nicht abzustreiten, dass - gemessen an der Ausgangslage - die "alte Bundesrepublik" einen erfolgreichen Weg beschritten hatte. Dass daraus zum einen keine Glorifizierung der Akteure folgen muss, zum anderen auch innerhalb der "Erfolgsgeschichte" falsche Weichenstellungen vorgenommen wurden, der Erfolg nicht zum Nulltarif zustande kam und außerdem die Feststellung des Erfolgs keine Garantie für dessen Fortsetzung in der Zukunft, sondern allenfalls eine Ressource für kommende Krisen sein mag, ist oft genug gesagt worden.

Insofern ist auch das begrüßenswerte Postulat, eine von den Problemen der Gegenwart ausgehende Zeitgeschichte zu entwickeln, mitnichten ein Gegensatz zur "Erfolgsgeschichte". Allerdings ist damit hinsichtlich der Auswahl von Themen und der Entwicklung von Fragestellungen noch nichts gesagt, weil die Probleme der Gegenwart mit deren Vergehen selbst wiederum als historisch wandelbare Größe erscheinen. Die politischen Entscheidungen zur Ausweitung des Sozialstaats in den 1950er und 1970er Jahren mögen ein gegenwärtiges Problem mitgeprägt haben, aber mit ähnlicher Berechtigung wird angesichts der heutigen Schuldenkrise auch über die Geschichte einer die soziale Ungleichheit fördernden Steuer- und Subventionspolitik, die Versäumnisse der Umwelt- oder Skandale der Wohnungspolitik und vieles andere geforscht. Die Frage der Relevanz ist nicht "objektiv" und monokausal zu beantworten.

Dies ist auch eine wichtige Hypothese der neueren Debatte über die 1970er Jahre, die zwar weithin als "Strukturbruchdiskussion" firmiert, aber gerade nicht den einen Bruch, die eine Ursache, den einen Ausgangsort des Übergangs in die "postindustrielle Gesellschaft" oder "Hochmoderne" sucht, sondern ein Geflecht von Faktoren in den Blick nimmt, in dem ökonomischen und sozialen Prozessen eine hohe Bedeutung zukommt, wenngleich eine simple Basis-Überbau-Konstruktion vermieden wird. Eine solche Konzeptionierung der Geschichte für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts sprengt notwendigerweise die engen Grenzen der Nationalgeschichte, die bisher vor allem durch westeuropäische Vergleiche und vereinzelt auch durch die Untersuchung von gegenseitigen Einflüssen und Beziehungen eine transnationale Dimension erhalten hat. Verbunden ist damit zugleich eine Aufwertung lokaler und regionaler Geschichte, denn nicht mehr Staaten, sondern einzelne Orte werden hinsichtlich bestimmter Themen in der Regel verglichen, um dichte Beschreibungen komplexer Sachverhalte zu ermöglichen.

Umgekehrt stellt sich die Frage nach der nationalen Dimension und nationaler Spezifik neu. Mit der Delegitimierung der angeblich affirmativen "Erfolgsgeschichte" tauchte zuletzt das Postulat auf, die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich als asymmetrisch verflochtene deutsch-deutsche Parallelgeschichte zu schreiben. Diese letzte Version einer nationalen Meistererzählung, als Königsweg auch begründet mit - legitimen - Interessen politischer Bildungsarbeit, überwindet zwar die tendenziell starr angelegten Dualismen von Diktatur und Demokratie und ist plausibel für zahlreiche Themenfelder, etwa hinsichtlich der Ost-West- und West-Ost-Migration einschließlich ihrer biografischen Facetten. Aber die Geschichte beider Staaten und Gesellschaften, zumal nach der hermetischen Schließung der Grenzen 1961, geht eben in der deutsch-deutschen Perspektive nicht vollständig auf. Während große Teile der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte ohne den Blick auf die DDR erzählt werden können, kann die ostdeutsche Entwicklung ohne Berücksichtigung westlicher Einflüsse kaum verstanden werden. Eher geht es - auch im wohlverstandenen Interesse politischer Bildung - um die gegenseitige Erzählung der jeweils anderen Seite der Epoche der deutschen Zweistaatlichkeit und um die Einbettung dieser Erzählungen in europäische und weltgeschichtliche Zusammenhänge.

"Berliner Republik" als Geschichte

Die "Berliner Republik" beginnt allmählich eine Geschichte zu haben, die erzählt werden kann. Wie immer beginnt die Historisierung der jüngsten Vergangenheit als Auslaufen längerer historischer Darstellungen in der Gegenwart und mit ersten skizzenhaften Überblicken, während sich die detaillierte Rekonstruktion der Geschehnisse noch auf den Weg in die Wiedervereinigung konzentriert. Angesichts der gesellschaftlichen Beschleunigung wird die Distanz der untersuchten Zeit zur Gegenwart vermutlich schrumpfen; die bereits etliche tausend Veröffentlichungen umfassende sozialwissenschaftliche Transformationsforschung zur DDR wird sukzessive historisiert werden.

Für die ersten beiden Jahrzehnte der "alten Bundesrepublik" hatte sich die Implementierung interessanter Erzählungen für eine Geschichte im durch den Kalten Krieg gesicherten Frieden in Europa und einer zivilen Gesellschaft vor allem auf Fragen nach dem Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen im Verhältnis der Zeiten - also nicht nur der des Nationalsozialismus - vor 1945 und der dabei wirkenden Kräfte, vor allem westlicher Einflüsse, konzentriert. Für die jüngste Zeitgeschichte seit den Strukturbrüchen der 1970er Jahre wird es darauf ankommen, ähnlich interessante und gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu identifizieren, die zu einer verdichteten Erzählung mit - nicht nur künstlich drapierten - dramatischen Elementen führen.

Themenfelder dafür zeichnen sich ab: Innenpolitisch ist es zum einen die nach der Wiedervereinigung anhaltende Ost-West-Migration, aber auch das konfliktreiche Auftreten neuer Eliten aus dem Westen in der ehemaligen DDR, das Schüren und die Funktionalisierung von Ängsten gegenüber einer "Asylantenflut" Anfang der 1990er Jahre, insgesamt das Zusammenfinden und die Fremdheit der alten und neuen Bundesbürger, welche die Geschichtswissenschaft geraume Zeit beschäftigen wird. Schon dabei wird spätestens mit Längsschnittstudien über die Entwicklung von "Fremdenfeindlichkeit" bis zur Gegenwart mit seinen Debatten um den Islam deutlich werden, dass es sich nicht um ein deutsches, sondern um ein mindestens europäisches Phänomen in deutscher Spezifik handelt.

Zum anderen wird die zweite Hälfte der durch die Einheit geteilten Ära Kohl, die Konstruktion eines in Opposition zum anglophonen Kapitalismus - auch dies eine vereinfachende Konstruktion - stehenden "rheinischen Kapitalismus" untersucht werden müssen. Ähnlich wie die mittlerweile in der Zeitgeschichtsforschung erfolgte Relativierung des Machtwechsels von 1969 könnte es sein, dass die als Sieg der "68er" vom Feuilleton gefeierte Übernahme der Bundesregierung durch Rotgrün 1998 weniger als Zäsur denn als Fortsetzung unter sich allerdings rasch wandelnden Rahmenbedingungen bewertet werden wird. Als tiefer Bruch könnte einmal die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") seit 2005 während der zweiten Amtszeit der Schröder-Regierung gelten, die zu scharfen Protesten und einem enormen Ansehensverlust der Sozialdemokratie bei ihren Wählern, zur "Westausdehnung" der PDS sowie schließlich zu deren Vereinigung mit der WASG in der Partei "Die Linke" und zur Herausbildung eines parlamentarischen Fünfparteiensystems führte. Ob sehr ähnliche sozialpolitische Maßnahmen nicht auch von einer anders zusammengesetzten Regierung betrieben worden wären, bleibt Spekulation. Große Bedeutung als Traditionsbruch hatte auf dem Feld der Außenpolitik der nicht zuletzt unter Grünen-Anhängern umstrittene militärische Auslandseinsatz der Bundeswehr im Rahmen der NATO-Intervention im ehemaligen Jugoslawien 1999.

Der tiefgreifende ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozess der vergangenen beiden Jahrzehnte ist in hohem Maße - im Sinne des Ausgangs von gegenwärtigen Problemlagen - historisch erklärungsbedürftig. Dabei steht die jüngste Zeitgeschichtsforschung vor dem Problem, dass sie zwar auf wichtige Studien zurückgreifen kann, die sich dem sozialpolitischen Umgang mit gesellschaftlicher Armut widmen, aber kaum Untersuchungen privaten Reichtums vorliegen. Auch die raren Ansätze moderner Milieustudien, wie sie für die 1970er und frühen 1980er Jahre vorliegen, müssten im Blick auf die Migrationsdynamik nach 1990 fortentwickelt werden.

Ähnliches gilt für die rasante Technifizierung aller Lebensbereiche, etwa die Entwicklung des "Handys" zum obligatorischen Begleiter von immer mehr Menschen seit den frühen 1990er Jahren, und für den parallelen Aufstieg des Internets, der auch in Verbindung mit neuen mobilen, elektronischen Endgeräten zum Wandel des konsumtiven und kommunikativen Verhaltens und der Mediennutzung führte. Diese Prozesse, die vor allem für einen großen Teil der älteren Generation gravierende Orientierungsprobleme mit sich bringen, aber auch neue Formen jugendlicher Kulturen bis hin zum durch Facebook und Twitter organisierten Protest konstituieren, sind bisher noch nicht zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft geworden.

Ein Ansatzpunkt für die Analyse der über alle politischen Konstellationen hinweg veränderten Lebenswelten könnte eine Untersuchung der Sprache sein. In den Medien kursierende Begriffe, bei der "gut aufgestellte" "Entscheider" im Namen ominöser "Märkte" "alternativlos" "nachhaltige" "Reformen" in Richtung einer Abkehr von "staatlicher Gängelung" hin zur Entwicklung von "Eigeninitiative" propagieren, fordern geradezu Studien heraus, die über ideologiekritische Analysen hinaus nach dahinter stehenden Interessen und Strategien fragen; hier gibt es auch einen großen Nachholbedarf für die Zeitgeschichte der "alten Bundesrepublik".

Schließlich ist darauf zu verweisen, dass die Zeitgeschichte selbst von den Veränderungen der technischen Lebenswelt sukzessive und durchaus merklich betroffen ist. Dabei geht es nicht nur um die Relativierung von Arkanwissen im Zeitalter von Wikileaks, sondern vielmehr um ein prinzipiell verändertes Verhältnis von wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung und medialer Aufmerksamkeit für Geschichte. Die Tendenz, dass erstere den medialen Anforderungen hinterherhetzt und sie dennoch nie erfüllt, ist vorhanden. Die Präsentation von Zeitgeschichte im Fernsehen verläuft nach den selbstreferenziellen Medienlogiken, denen zufolge es zuerst um Unterhaltung, um das Ansprechen von emotionalen Bedürfnissen, aber nicht um historische "Aufklärung" geht. Dies wiederum fordert von der Zeitgeschichtsforschung eine Hinwendung zur Untersuchung der Medien selbst, denn ohne Kenntnis von deren Geschichte bleibt die Kritik an medialer Vermarktung substanzlos. Es sollte nicht dem Weg in die systemtheoretischen Kunstwelten der Medienwissenschaft gefolgt werden, in der alles zur "Konstruktion" wird, sondern es ist nach den harten Fakten der "Aufmerksamkeitsökonomie" zu fragen.

Statt einer Hinwendung zur Geschichte im engen nationalen Maßstab, ob westdeutsch, ostdeutsch oder deutsch-deutsch, ist eine Zeitgeschichte gefordert, welche die Kontinuitäten und Umbrüche der deutschen Geschichte seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Rahmen (hoch)moderner europäischer und globaler Prozesse verortet. Die intellektuelle Anstrengung wird sich künftig auf Perspektiven einer Erweiterung deutscher Zeitgeschichte konzentrieren müssen, wenn sie ihre Orientierungsfunktion für die Gesellschaft der Gegenwart erhalten will.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesem Sinne Johannes Groß, Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995; kritisch Jürgen Habermas, Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt/M. 1995; vgl. APuZ, (2001) 1-2. Im Folgenden werden nur wenige einschlägige Veröffentlichungen und eher konzeptionelle Texte exemplarisch genannt.

  2. Philipp Gassert, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zur Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung, in: Jörg Baberowski et al., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart-München 2001, S. 67-89, hier: S. 67.

  3. Vgl. Ralph Jessen, Alles schon erforscht? Beobachtungen zur zeithistorischen DDR-Forschung der letzten 20 Jahre, in: Deutschland Archiv (DA), 43 (2010), S. 1052-1064.

  4. Vgl. Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik. 1945 bis zur Gegenwart, München 2009.

  5. Vgl. Eckart Conze et al., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.

  6. Vgl. Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 2009.

  7. Zum Bombenkrieg vgl. Jörg Arnold/Dietmar Süß/Malte Thießen (Hrsg.), Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa, Göttingen 2009; zu Vertreibung und Vertriebenen zuletzt der Überblick von Matthias Beer, Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011.

  8. Vgl. für das breit gefächerte Spektrum etwa Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn u.a. 2003.

  9. Vgl. zuletzt die Habilitationsschrift von Carola S. Rudnick, Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011.

  10. Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993.

  11. Vgl. Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002.

  12. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt et al. (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341.

  13. Die Literatur zu "68" ist kaum mehr zu überblicken; vgl. als Einstieg Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008.

  14. Vgl. Axel Schildt, Abschied vom Westen? Zur Debatte um die Historisierung der "Bonner Republik", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 45 (2000), S. 1207-1218.

  15. Programmatisch Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, 47 (2007), S. 3-29.

  16. Vgl. Anselm Doering Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine andere Moderne. Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009.

  17. Vgl. Christoph Kleßmann u.a. (Hrsg.), Deutsche Vergangenheiten - eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der deutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999; Konrad H. Jarausch, "Die Teile als Ganzes erkennen". Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschung, 1 (2004) 1, S. 10-30.

  18. Ähnlich wie der oben skizzierten Entwicklung der Zeitgeschichte zur "alten Bundesrepublik" unterlag auch jene zur DDR - in kürzerer Zeit - einer "Logik" der Erweiterung rein politikgeschichtlicher Deutungen durch wirtschafts-, sozial- und kulturhistorische Perspektiven; vgl. R. Jessen (Anm. 3).

  19. Vgl. Axel Schildt, Zwei Staaten - eine Rundfunk- und Fernsehnation? Anmerkungen zur massenmedialen Beeinflussung beider deutscher Staaten im Kalten Krieg, in: Arnd Bauerkämper et al. (Hrsg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990. Festschrift für Christoph Kleßmann, Bonn 1998, S. 58-71.

  20. Vgl. Martin Sabrow, Die DDR in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: DA, 41 (2008), S. 121-130.

  21. Vgl. die in Anm. 4 genannte Literatur.

  22. Vgl. etwa Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin 2009.

  23. Vgl. Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2007; Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009.

  24. Durchgängig in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 11 Bde., Baden-Baden 2001-2008; vgl. Lutz Raphael, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Versuch einer Würdigung, in: Geschichte und Gesellschaft, 33 (2008), S. 558-567.

  25. Vgl. für die Betonung langer Linien sozialer Ungleichheit konzeptionell Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2009.

  26. Vgl. Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010.

  27. Vgl. Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011) 3, S. 331-351.

  28. Vgl. zum mittlerweile auch geschichtswissenschaftlich diskutierten Konzept Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998; vgl. auch Axel Schildt, Die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" als heuristische Kategorie einer kulturhistorisch orientierten Mediengeschichte, in: Christiane Reinecke/Malte Zierenberg (Hrsg.), Vermessungen der Mediengesellschaft im 20. Jahrhundert (Comparativ, 21 [2011] 4), Leipzig 2011, S. 81-92.

Dr. phil., geb. 1951; Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg, Beim Schlump 83, 20144 Hamburg. E-Mail Link: schildt@zeitgeschichte-hamburg.de