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Geteilter Himmel: Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit | Zeitgeschichtsschreibung | bpb.de

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Geteilter Himmel: Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit

Thomas Großbölting

/ 16 Minuten zu lesen

War der Himmel zwischen 1945 und 1990 geteilt, so dass sich DDR und Bundesrepublik auseinanderentwickelten? Oder überwogen gemeinsame Wurzeln und Beziehungen? Wie geht wissenschaftliche Zeitgeschichte damit um?

Einleitung

Aufregung um eine Ausstellung in der Neuen Deutschen Nationalgalerie: Unter dem Titel "Der geteilte Himmel" zeigen seit November 2011 der Direktor Uwe Kittelmann und der Leiter Joachim Jäger ausgewählte Objekte ihrer Sammlung aus den Jahren zwischen Kriegsende und 1968. In ihrem Depot verfügen die Ausstellungsmacher vor allem über die nationale und internationale Kunst, die in den konkurrierenden Nationalgalerien Berlin (Ost) und Berlin (West) bis 1990 gesammelt wurde. Keine andere Sammlung ist in solcher Intensität vom Kalten Krieg geprägt worden. Laut Konzept ist es der Anspruch der Exposition, Hauptpositionen der Kunst in diesen Jahren extremer Politisierung künstlerischer Produktion zu zeigen.

Gemessen daran stechen zwei Leerstelle unmittelbar hervor, die in der Geschichte der Sammlungen angelegt sind: Es dominieren Werke von Künstlern, Künstlerinnen der Zeit sind kaum vertreten. Zudem beschränkt sich der Ausstellungsfundus bei der Kunstproduktion aus der DDR auf die staatlich genehme Kunst; oppositionelle Werke wurden bis 1990 selbstredend nicht gesammelt. Aber auch über diese beiden Schwierigkeiten hinaus bleiben konzeptionelle Fragen offen: Wie setzt man die beiden Sammlungen, den östlichen und den westlichen Objektfundus, miteinander in Beziehung? Die Macher haben sich für einen Mittelweg entschieden. Die Figuration, das Gegenständliche, den sozialistischen Realismus hat man dem Osten zugeordnet; die Abstraktion als offene Struktur und als "Symbol der Freiheit" dem Westen. Auf diese Weise, so die Macher, sollen "die alten Fronten (...) als hart umkämpfte Themen in der Präsentation sichtbar" bleiben.

Wer nun aber eine daran ausgerichtete Positionierung der Exponate erwartet, sieht sich enttäuscht. Die klare Zuordnung nach Ost und West, nach figürlich und abstrakt ist nicht Sache der Ausstellung, im Gegenteil: "Der Blick geht jedoch betont über alle Grenzen hinweg und richtet sich auf übergreifende Kunstideen. Im Mittelpunkt des 'geteilten Himmels' stehen die internationalen Diskrepanzen: das Nebeneinander der Stile und Künste, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen." So trifft die monumentale "Sitzende Figur" von Henry Moore auf den "Hirten" von Georg Baselitz, der Schweizer Weltkünstler Alberto Giacometti steht neben dem DDR-Apparatschik Willi Sitte. Geht das Konzept auf? Geht nun endlich eine "jüngere Kuratorengeneration" erfrischend, konventionell und "angstfrei [mit der Bürde der Politisierung, T.G.] um und kann aufzeigen, wie viel Verbindendes es trotzdem immer gab, dass sich die Künstler um die politischen Grabenkriege häufig wenig scherten"? Oder - so die Kritik der Gegner - wird hier, statt Teilung zu zeigen, ein großes Miteinander inszeniert und werden durch "diese Art von Normalisierung auch jene Unterschiede (verwischt), die man besser nicht verwischen sollte"? Wurde ganz unstatthaft zusammengestellt, was ohne die hoch politisierten jeweiligen Entstehungskontexte eigentlich nicht zu begreifen ist, da doch in Ost und West jeweils anders und in andere Kontexte hinein gemalt, gehauen und geformt wurde? Generell gefragt und den von Christa Wolf entlehnten Titel der Ausstellung noch einmal aufgreifend: War der Himmel wirklich geteilt? Kann man den Himmel überhaupt teilen? Wenn doch, lässt er sich wieder zusammenfügen? Und mit Blick auf die vergleichbaren Probleme von Ausstellungsmachern und Geschichtswissenschaftlern: Wie lässt sich das Oxymoron vom "geteilten Himmel" ebenso analysieren wie darstellen?

Zeitgeschichte als historische Teildisziplin

Mit diesen offenen Fragen, die sich am Beispiel der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie und der Diskussion darum in nuce entwickeln lassen, sieht sich die Zeitgeschichte von verschiedenen Seiten konfrontiert. In der allgemeinen Zuschreibung, zum Teil auch in der eigenen Wahrnehmung, ist sie disziplinär zuständig für diese und andere öffentlich gestellte Fragen und Orientierungsbedürfnisse. Dabei ist sie immer Publikumswissenschaft und muss - um den Anspruch der Wissenschaft nicht aufzugeben - in besonderer Weise ihren regel- und methodengeleiteten Duktus pflegen. Ausgehend von diesem Spannungsverhältnis von öffentlichem Interesse und wissenschaftlichem Anspruch war Zeitgeschichte immer etwas mehr als nur der jüngste Part im Reigen der historischen Teilfächer und Disziplinen: Zeitgeschichte ist unter den historischen Disziplinen der Publikumsmagnet. Spätestens Mitte der 1980er Jahre hoben die Produktionszahlen für Titel der neuesten Geschichte und Publikationen ab und ließen die anderen Epochen weit hinter sich. Mittlerweile erscheinen zur Zeitgeschichte jährlich mehr Veröffentlichungen als zu allen anderen Epochen der Geschichte zusammen. Mäße man neben dem Printbereich auch den Anteil der Thematisierung von Geschichte in den elektronischen Medien, in Fernsehen, Rundfunk und im Internet, dann klaffte die Schere vermutlich noch viel weiter auseinander.

Eine solche Hochzeit war dem Teilfach keinesfalls von Beginn an beschieden: Zeitgeschichte als eigene Disziplin entwickelte sich spät und gegen den Widerstand der historistisch geprägten Geschichtswissenschaft. Heute gilt: Wenn es nicht diese große Aufmerksamkeit für die Darstellung, Interpretation und Diskussion der jüngsten Vergangenheit gäbe, dann wäre es alles andere als unwahrscheinlich, dass sich die Geschichtswissenschaft an den Universitäten in den Reigen der sogenannten kleinen Fächer einreihen müsste, wie dies an den Schulen schon lange der Fall ist.

Vor dem Hintergrund dieses Interesses ist die Teildisziplin wie keine andere zur "Streitgeschichte" avanciert. Angefangen mit der Fischer-Kontroverse über den Historikerstreit bis hin zu den Auseinandersetzungen um Daniel Jonah Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker" wie auch die Ausstellungen über "Verbrechen der Wehrmacht" - es sind in der Regel Themen der jüngsten Vergangenheit, die Öffentlichkeit und Politik mobilisieren. "Gezankt" hat sich die Zunft auch zu vielen anderen historischen und historiografischen Problemen. Öffentlich wahrgenommen wurden sie in der Regel aber nur dann, wenn sie im Kontext der jüngsten Vergangenheit stehen und zugleich Fragen aufwerfen, die an die Grundfesten der Nation zu rühren schienen.

Zeitgeschichte war immer aufs Engste verbunden mit Prozessen des nation building. Folgt man den Schlussfolgerungen, die Jan Palmowski und Kristina Spohr Readman aus ihrem internationalen Vergleich zur Entstehung und Ausprägung dieses Forschungszweiges ziehen, dann ist diese Verbindung insbesondere in Deutschland bis heute eng. Die in den Zeiten der vierzigjährigen Teilung herausgebildeten Geschichtswissenschaften in Deutschland Ost und West demonstrieren das aufs Deutlichste: Nur anfangs wurde nach 1945 deutsche Geschichte als Geschichte der deutschen Teilung thematisiert, vor allem von westdeutscher Seite. Insgesamt dominierte rasch der Blick auf die Geschichte des jeweils eigenen Staates und der Beziehungen zu den maßgeblichen Bündnispartnern. Damit blieben die angebotenen Interpretationen in den Koordinaten des jeweiligen Systems: Während in der DDR Historiker und Wissenschaftler verwandter Disziplinen zusätzlich auf die Legitimation durch die politische Führung angewiesen waren, entwickelten sich im Westen politisch plurale und durchaus status-quo-kritische Sichtweisen. Aber auch in der alten Bundesrepublik zeitigte die Teilung wissenschaftsinterne Wirkungen: Die Geschichte der Bundesrepublik und die der DDR fanden institutionell wie thematisch jeweils eigene Bearbeiter und Kommunikationskreise, die eher nebeneinander als miteinander arbeiteten. "So bedeutet das Etikett 'Deutsche Geschichte nach 1945' meist eine mit wenigen Verweisen auf den Osten angereicherte westdeutsche Geschichte, während Skizzen der ostdeutschen Entwicklung sich generell auf die DDR allein konzentrieren." Damit replizierte sich in den wissenschaftlichen Disziplinen Ost- und Westdeutschlands die allgemein weit fortgeschrittene "Binationalisierung". Das Gros der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Eliten hatte sich ebenso wie große Teile der Bevölkerung mit dem Rücken zur Mauer eingerichtet.

Dass im Pulverdampf der öffentlichen (geschichts-)politischen Auseinandersetzungen wichtige Fragen nicht diskutiert wurden, steht außer Frage. Bis heute gibt es keinen "allgemein anerkannten Konsens über epochale Abgrenzung, thematisches Profil und methodische Grundlagen der Zeitgeschichte". Gemessen an ihrem Anteil der öffentlichen Wahrnehmung ist der Beitrag zur methodischen Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft eher gering. Weder die Kulturgeschichte noch ihr Antipode, die historischen Sozialwissenschaften, sind aus ihrem Zusammenhang geboren. Die Alltagsgeschichte, auf der unter anderem die vertiefende Regionalisierung der NS-Forschung beruht, ist den professionellen Historikern mittlerweile zwar zur Selbstverständlichkeit geworden, doch mit Freuden aufgenommen wurde sie sicher nicht. Und für die Auseinandersetzung mit Theorien der Modernisierung oder gar der Veränderung von Modernisierung, wie sie in der englischsprachigen Wissenschaft unter den Stichworten postcolonialism und postmodernism geführt wurde, geriert sich das Fach als nahezu immun. Zu selbstverständlich haben sich aus den politischen Brüchen und den geschichtspolitischen Debatten der Nachwelt die Untersuchungsanlässe ergeben, denen sich die Zeitgeschichte widmete: Wie kam Hitler an die Macht? Wer betrieb die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden? Und später, mit Blick auf die DDR: Wie und warum brach die SED-Diktatur zusammen?

Die Fragen nach den Gründen und Folgen der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts stellten sich gleichsam von selbst. Fixiert auf politische Großereignisse konzentrierte sich die Zeitgeschichte zudem auf kurze Zeiträume und arbeitete zugleich eher theoriefern. "Der hohe Rang der Zeitgeschichte in Deutschland war ihren Themen geschuldet, nicht ihrer methodischen, analytischen oder darstellerischen Exzellenz." Die Geschichte der Nachmoderne aber, konzipiert man sie als Vorgeschichte der Gegenwart, lässt sich nicht primär von den politischen Brüchen des 20. Jahrhunderts ableiten, sondern bedarf zeitlich wie räumlich weiter ausgreifender Perspektiven. Auch die Beschränkung auf die politische Geschichte im engeren Sinn und den traditionellen Zugriff darauf wird man überwinden müssen. Zeitgeschichte maßgeblich im Dreißig-Jahre-Abstand der Öffnung von Akten aus Verwaltung und Politik zu betreiben ist ein Konzept, das nicht nur am aktuellen Informationsbedürfnis vorbeigeht, sondern zugleich auch den vielfältigen, neu entstandenen Quellen in ihrer wirklichkeitsprägenden Wirkung zu wenig Bedeutung beimisst.

Aber nicht nur durch die Veränderung ihres Gegenstandsbereichs sieht sich die Zeitgeschichte herausgefordert, sondern vor allem in der Zuordnung und in der Abgrenzung zu den benachbarten Sozial- und Politikwissenschaften: "Was können Zeithistoriker, was so nur Zeithistoriker können?" Wie umgehen mit den zeitgenössisch so zahlreichen Selbstbeobachtungen und wissenschaftlichen Deutungs- und Begriffsangeboten, ohne dass sich die Zeitgeschichte auf die Aufgabe des Zusammenfassens oder der empirischen "Füllung" beschränkt und damit herabsinkt auf das Niveau einer "Kopie der theorieaffinen Nachbarfächer"? Was charakterisiert die "methodische und analytische Identität der Zeitgeschichtsforschung", wenn sie sich nicht ausschließlich aus den politisch definierten Themen und vom Interesse der Öffentlichkeit ableitet? Zugleich ließe sich mit Vertretern von Konzepten einer transnationalen Geschichte fragen, wie Zeitgeschichte mit ihrer nationalhistorischen Orientierung umgeht. Ist es tatsächlich heute unzeitgemäß, "sich vorrangig oder gar ausschließlich durch Fragen leiten zu lassen, die auf den (eigenen) Nationalstaat begrenzt bleiben"? Oder - erkenntnistheoretisch gefragt - wie löst sich Zeitgeschichte wissenschaftlich aus der engen Verbundenheit mit Fragen der Nationenbildung und behält zugleich die "Nation" als wichtigen Faktor von Vergesellschaftung auch im 20. Jahrhundert im Auge?

"Geteilter Himmel" der deutsch-deutschen Geschichte

Es muss als besondere Aufgabe zeithistorischer Forschung verstanden werden, mahnte Hans Rothfels 1953, "dass sie an keinerlei heißen Eisen, weder internationalen noch nationalen, sich vorbeidrückt und nicht leere Räume offen lässt, in die Legenden sich einzunisten neigen". Wer sich das große öffentliche Interesse am 60. Geburtstag der zweiten deutschen Republik, aber auch an Mauerfall und Wiedervereinigung vergegenwärtigt, erkennt darin den weit verbreiteten Wunsch nach historischer Selbstvergewisserung, der auf Zusammenschau und Gesamtwürdigung der deutschen Geschichte zielt. Das Orientierungsbedürfnis scheint deswegen umso größer, da die etablierten Erzählweisen der deutschen Nachkriegsgeschichte in den vergangenen Jahren ihre Interpretationskraft verloren haben. Das lange Zeit dominierende Deutungsmuster der 1945/49 beginnenden Erfolgsgeschichte einer "geglückten Demokratie" (Edgar Wolfrum) verblasst umso mehr, je weniger wir über Stabilisierung, Liberalisierung oder Zivilisierung der zweiten deutschen Republik staunen und stattdessen Fragen nach der Vorgeschichte gegenwärtiger Probleme in den Vordergrund treten. Auch die Idee eines nationalstaatlichen Sonderwegs "nach Westen" (Heinrich August Winkler) mit dem Fluchtpunkt 1989/90 hat zwanzig Jahre nach der Einheit an Erklärungswert eingebüßt.

Zugleich gibt es eine ebenso symbolisch-praktisch wie auch intellektuell geführte Auseinandersetzung darum, was das Geschichtsbild des wiedervereinigten Deutschlands prägen soll. Faktisch dient vor allem die Geschichte der alten Bundesrepublik als Identitätsressource, während an die DDR allenfalls anhand der friedlichen Revolution erinnert wird und der SED-Staat damit nicht in der Wissenschaft, wohl aber in der öffentlichen Thematisierung zur "Fußnote der Weltgeschichte" (so Stefan Heym am Abend der ersten freien Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990) degradiert zu werden droht. Einer verengten bundesdeutschen Siegergeschichte, aus deren Perspektive die Jahrzehnte der Zweistaatlichkeit lediglich eine temporäre Unterbrechung eines teleologisch verstandenen Modernisierungspfades gewesen seien, steht auf der anderen Seite des geschichtspolitischen Spektrums das Konzept einer "sozialistischen Trotzgeschichte" gegenüber. "Leere Räume", in denen sich nach Rothfels "Legenden" einnisten könnten, sind zu viele vorhanden, als dass auf eine wissenschaftlich abgewogene Interpretation verzichtet werden könnte.

Blickt man auf die Analysen und Deutungen der Geschichtswissenschaften, dann lässt sich mit Hermann Wentker festhalten, dass "eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte, die der getrennten Entwicklung beider Teilstaaten ebenso gerecht wird wie den weiterhin bestehenden Verbindungen und Beziehungen, die ihre Bezogenheit aufeinander ebenso integriert wie ihre Abgrenzung voneinander, bisher noch aussteht". Nach der Wiedervereinigung war es zuerst Christoph Kleßmann, der die für die Geschichtswissenschaft entstandene Herausforderung produktiv annahm. Als Verfasser eines bereits in den 1980er Jahren erstaufgelegten zweibändigen Standardwerkes, das zu Recht unter die "Klassiker der Geschichtswissenschaften" gezählt wird, gelang es ihm, Verflechtung und Abgrenzung beider deutscher Staaten auf dem Stand der damaligen Forschung plastisch herauszuarbeiten. In einem programmatischen Aufsatz forderte er dazu auf, "das Spannungsverhältnis zwischen der Verflechtung beider Teilstaaten (...) und einer bewußt oder unbewußt betriebenen oder gar gewünschten Abgrenzung" zu thematisieren.

Die Kleßmann zugeschriebene Idee einer "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" blieb nicht unwidersprochen. Angesichts des Versagens der Meistererzählungen von der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik einerseits, der Misserfolgsgeschichte der DDR andererseits hat Konrad Jarausch für eine "chronologisch sensible und inhaltlich plurale Sequenzperspektive" plädiert, um auf diese Weise "die Komplexität kontrastierender Erfahrungen in Ost und West zu erfassen". Insbesondere Hermann Wentker wandte gegen diese Konzeptionen ein, dass mit solcher Begriffsschöpfung das Verbindende zuungunsten des Trennenden zu stark betont sei. Sein Plädoyer zielt darauf, dass "die deutsche Nachkriegsgeschichte auch weiterhin als Geschichte von zwei Staaten und Gesellschaften erzählt werden (kann), die sich auf getrennten Wegen entwickelten". In diesem Sinne plädiert er mit mehreren seiner Kollegen vom Institut für Zeitgeschichte insbesondere dafür, die "DDR als eigenständiges Forschungsfeld" offen zu halten, ohne damit auf die vergleichende Perspektive zu verzichten. Ohne das am einzelnen Gegenstand erarbeitete Wissen werde auch der Vergleich beziehungsweise die Einordnung in europäische Kontexte nicht funktionieren.

Die Chancen und Grenzen, aber auch die methodischen wie geschichtspolitischen Fußangeln sind an verschiedenen Stellen ausführlich diskutiert worden: Eine integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte, so lassen sich diese Überlegungen resümieren, scheint schon "aufgrund der vielfältigen und komplexen Verflochtenheit der Geschichte der Besatzungszonen und beider deutscher Nachkriegsstaaten sinnvoll und notwendig". Eine im "engeren Sinne integrierte deutsche Nachkriegs- oder gar Nationalgeschichte", die West- und Ostdeutschland allein als gemeinsame Größe versteht, ist aber nicht verfügbar. Zu stark sind die Eigenentwicklungen in den beiden Staaten, so dass eine alleinige integrierte Geschichte nicht das "wissenschaftliche Leitmotiv" sein sollte, im Gegenteil: "Das wieder vereinigte Deutschland benötigt kein einheitliches Geschichtsbild, sondern eines, in dem die getrennten Wege ebenso ihren Platz haben wie die verbindenden Elemente der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte." Ins Blickfeld geraten sollte stattdessen "ein gemeinsamer Erfahrungs- und Handlungsraum, (...) der beide deutschen Staaten, Gesellschaften und Kulturen umfasst", Gemeinsames und Trennendes thematisiert und auf diese Weise "die Chance bietet, den Panzer des Systemgegensatzes aufzubrechen, und sich nicht in einer bloßen Parallelgeschichte erschöpft". Die gegenseitige Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung von politischen Entscheidungen, Programmen, Ideen und von gesellschaftlichen Prozessen in beiden deutschen Staaten: "Alles dies sind Elemente eines gemeinsamen Erfahrungsraumes, der die Deutschen wahrscheinlich weitaus enger zusammenhielt, als sie sich bewusst waren."

"Wir sind ein Volk" - "Wir auch"

Verschiedene Wege in diese Richtung sind bereits vorgeschlagen und zum Teil auch gegangen worden. So sind insbesondere direkte Verbindungen wie die offiziellen Kontakte auf der Bühne der Außenpolitik, aber auch institutionelle Berührungen im Bereich der Parteien und des Sports aufgegriffen worden. Das interessante Feld der alltagsgeschichtlichen Dimension und der damit verbundenen gegenseitigen Wahrnehmung ist indes erst ansatzweise untersucht. Studien zum deutsch-deutschen Briefverkehr, zum "Westpaket" und seinen Kommunikationswirkungen, aber auch zur allabendlichen Flucht ostdeutscher Fernsehkonsumenten in die westdeutsche TV-Realität sind erste Anfänge oder markieren besonders viel versprechende Forschungsvorhaben. Unmittelbare Kontakte wird man dabei angemessen ins Verhältnis setzen müssen zu Prozessen der Distanzierung und der Entfremdung zwischen den deutschen Gesellschaften.

Ein Metathema, welches die Frage nach dem gemeinsamen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont unmittelbar aufgreifen könnte, wäre mit einem konstruktivistisch verstandenen Begriff der "Nation" zu operationalisieren. Nicht nur forschungspraktisch, sondern auch faktisch verbietet sich dabei ein essentialistisches Verständnis. Der deutsche Nationalstaat, wie ihn das 19. Jahrhundert geprägt hatte, war 1945 unzweifelhaft ebenso an sein Ende gekommen wie die damit verbundenen Traditionserfindungen und Nationalimaginationen. Dieser Befund aber lädt geradezu dazu ein, nach der Weiterentwicklung und der Neuformierung von Vorstellungen der politischen Vergemeinschaftung zu fragen. Nationen existieren nicht außerhalb der sie begründenden Vorstellungen, sondern lediglich als "alltägliches Plebiszit" ihrer Angehörigen (E. Renan).

In Bundesrepublik und DDR war dieses alltägliche Sich-Verhalten von besonderer Qualität, war doch die geteilte Nation in ihren doch so vielfältig aufeinander bezogenen Teilen die permanente Antithese zur herkömmlich als selbstevident empfundenen nationalen Zugehörigkeit. Mit welchen Medien, in welchen Formen und Kontexten wurde ein gesamtdeutscher Zusammenhang als Identität thematisiert, wo artikulierten sich einzelstaatliche oder konkurrierende Motive? Versucht man diesen Spuren nachzugehen, wird man sich nicht darauf beschränken dürfen, Thematisierungen des Nationalen systematisch zu rekonstruieren. Zu sehr liefe man Gefahr, die zeitgenössischen ideologischen Funktionen zu perpetuieren. Im Mittelpunkt stünde hingegen die Wandelbarkeit und Heterogenität nationaler Erinnerung - eine Forschungsaufgabe, für die die Geschichtswissenschaft in besonderer Weise prädestiniert ist. In welchem Verhältnis standen nationale und andere, konkurrierende oder komplementäre Formen kollektiver Zugehörigkeit, welche Bedeutungsänderungen und inneren Widersprüche prägten die zeitgenössische Selbstverständigung?

Vielleicht lassen sich die empirischen Möglichkeiten eines solchen Zugangs am eindrücklichsten vom Schlusspunkt der deutschen Zweistaatlichkeit her entwickeln. Sagt der Ossi: "Wir sind ein Volk" - Sagt der Wessi: "Wir auch!" Dieser Anfang der 1990er Jahre kursierende Witz ist auch als alltägliche Reaktion auf ein mit der Wiedervereinigung einsetzendes Revival großer Homogenitätskonstruktionen zu werten. In beiden deutschen Staaten hatte sich der Bezug auf die Nation höchst unterschiedlich entwickelt: Je selbstbewusster die alte Bundesrepublik wurde, desto mehr verstanden sich die politischen Eliten als postnational. Im Vordergrund standen die transnationalen Bindungen und Verflechtungen. In der DDR hingegen wurde die sozialistische, zum Teil auch die deutsche Nation wiederentdeckt. Als politische Einheit und Regelungsinstanz hatte der Nationalstaat insbesondere in der Bundesrepublik, partiell auch in der DDR, permanent an Bedeutung verloren, als Identifikationsangebot gewann die Nation wieder an Virulenz. Trotz und wegen der Propagandabemühungen war in vielerlei Hinsicht die imagined community der Deutschen viel lebendiger als gedacht. "Dritte Wege" oder Konzepte einer temporalen Eigenständigkeit einer nicht-sozialistischen, demokratischen DDR hatten 1989/90 keine Chance.

Das populärste Integrationsangebot von Westseite war das der "blühenden Landschaften", die der Wahlkämpfer Helmut Kohl als Wechsel auf die Zukunft ausgab. Damit versprach er eine Wiederholung des bundesrepublikanischen Gründungsmythos von Wirtschaftswunder, sozialer Marktwirtschaft und nivellierter Mittelstandsgesellschaft. Dieses zunächst teilstaatliche Entwicklungsmodell sollte nun auf die gesamte Nation übertragen werden - eine Projektion, die man im Osten gerne annahm und die mit ausbleibenden Erfolgen als eine solche überdeutlich erkennbar wurde.

Diesen gemeinsamen und dennoch in vierzig Jahren Trennung so unterschiedlich entwickelten Erfahrungsraum wie auch den damit verbundenen Erwartungshorizont zu vermessen ist ein Ansatz zu einer Geschichte der deutsch-deutschen Wahrnehmungen und Beziehungen jenseits von Systemvergleich und Deutschlandpolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. den Pressetext online: www.wechselausstellungen.de/berlin/der-geteilte-himmel-die-sammlung-19451968 (24.11.2011).

  2. Vgl. Carsten Probst, Deutsche Künstler abseits von Ost-West-Mustern. Nachkriegskunst in der Neuen Nationalgalerie, online: www.dradio.de/dlf/sendungen/
    kulturheute/1604434 (24.11.2011).

  3. Nicola Kuhn, Eine deutsche Renaissance, in: Der Tagesspiegel vom 10.11.2011.

  4. Hanno Rauterberg, Alles nackt, in: Die Zeit vom 17.11.2011.

  5. Vgl. Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010, S. 213-222.

  6. Vgl. Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, S. 7.

  7. Vgl. Martin H. Geyer, Im Schatten der NS-Zeit. Zeitgeschichte als Paradigma einer (bundes-)republikanischen Geschichtswissenschaft, in: ebd., S. 25-53.

  8. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Hamburg 2004; Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz normale Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

  9. Vgl. Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005.

  10. Vgl. Jan Palmowski/Kristina Spohr Readman, Speaking Truth to Power: Contemporary History in the Twenty-first Century, in: Journal of Contemporary History, 46 (2011), S. 485-505, hier: S. 487.

  11. Vgl. Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969, München 2001.

  12. Konrad H. Jarausch, "Die Teile als Ganzes erkennen". Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten, in: Zeithistorische Forschungen, 1 (2004) 1, S. 1.

  13. A. Nützenadel/W. Schieder (Anm. 6), S. 8.

  14. Ulrich Herbert, Nach den Katastrophen. Entwicklungsstand und Perspektiven der Zeitgeschichtsforschung. Vortrag zur Feier des 75. Gründungstags des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte in Münster am 18.3.2004.

  15. Vgl. dazu mit sehr erhellenden Überlegungen Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011) 3, S. 331-351.

  16. Tobias Hochscherf/Christoph Laucht/Andrew Plowman (eds.), Divided, but not disconnected. German experiences of the Cold War, New York 2010, S. 480. Vgl. dazu grundlegend Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 20102, S. 59.

  17. Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011) 4, S. 479-508, hier: S. 508.

  18. Vgl. Iris Schröder, Debatte: Zeitgeschichte und internationale Geschichte. Einleitung, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 8 (2011) 3, Abschnitt 1.

  19. Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 1 (1953) 1, S. 1-8, hier: S. 8.

  20. Vgl. A. Doering-Manteuffel/L. Raphael (Anm. 16).

  21. Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 20025.

  22. Vgl. Hermann Wentker, Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: APuZ, (2005) 1-2, S. 10-17, hier: S. 11; Andreas Wirsching, Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung, in: APuZ, (2007) 3, S. 13-18, hier: S. 14f.

  23. Vgl. H. Wentker (Anm. 22), S. 13.

  24. Vgl. Edgar Wolfrum/Günter R. Mittler, Zwei Bücher, eine Idee. Christoph Kleßmanns Versuch der einen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin Sabrow (Hrsg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 162-165. Gemeint ist: Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung, Bonn 1982; ders., Zwei Staaten, eine Nation, Bonn 1988.

  25. K.H. Jarausch (Anm. 12), S. 28.

  26. Vgl. H. Wentker (Anm. 22), S. 10.

  27. Henrik Bispinck et al., Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53 (2005) 4, S. 547-570, hier: S. 551.

  28. Horst Möller, Demokratie und Diktatur, in: APuZ, (2007) 3, S. 3-7, hier: S. 7.

  29. H. Wentker (Anm. 22), S. 18.

  30. Besonders prägnant: A. Wirsching (Anm. 22), S. 14.

  31. Ebd., S. 18.

  32. Vgl. u.a. T. Hochscherf et al. (Anm. 16); Udo Wengst et al. (Hrsg.), Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Berlin 2008.

  33. Nachweise der behandelten Themen bei H. Wentker (Anm. 22); U. Wengst et al. (Anm. 32).

  34. Vgl. Christian Adam/Petra Kabus, Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware, Berlin 2000.

  35. Vgl. Christian Geulen, Nationalismus als kulturwissenschaftliches Forschungsfeld, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart-Weimar 2004, S. 439-457.

  36. Vgl. Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln 2011.

  37. Vgl. Herfried Münkler/Jens Hacke, Politische Mythisierungsprozesse in der Bundesrepublik: Entwicklungen und Tendenzen, in: dies. (Hrsg.), Wege in die neue Bundesrepublik. Politische Mythen und kollektive Selbstbilder, Frankfurt/M. 2009, S. 15-32, hier: S. 23.

Dr. phil., geb. 1969; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20-22, 48149 Münster. E-Mail Link: thomas.grossboelting@uni-muenster.de