Politische Repräsentation in der Demokratie
Das Selbstverständnis von Parlamentsabgeordneten
Partei, Wähler, Land: Wem fühlen sich Deutschlands Abgeordnete verpflichtet? Und wollen Politiker in erster Linie Orientierung bieten oder Anregungen der Bürger umsetzen? Welche Unterschiede lassen sich bei den Parteien ausmachen? Und welche in Ost und West? Abgeordnete aus Bundestag und Landtagen bringen, wie die Bevölkerung selbst, je besondere Erfahrungen und Denktraditionen aus ihrer unterschiedlichen Sozialisation in Bundesrepublik und DDR mit.1. Das Spannungsverhältnis zwischen unabhängiger Entscheidung und Bindung an den Volkswillen
Eine der wichtigsten Formen politischer Beteiligung in einer parlamentarischen Demokratie stellen allgemeine Wahlen dar. Ihr Ergebnis entscheidet über die Zusammensetzung der Parlamente und – mittelbar – auch der Regierungen. Die Bürgerinnen und Bürger wählen Abgeordnete, die dann gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen treffen und diese der Exekutive zur Durchsetzung übertragen. Dabei bleiben die Bürger mit ihren Interessen und Meinungen auch zwischen den Wahlen im Parlament präsent. Denn gewählte Volksvertreter müssen die Rückkopplung an ihre Wähler ("Responsivität") suchen. Und nicht zuletzt sorgt die Möglichkeit der Abwahl dafür, dass sich die Abgeordneten bei ihrer Entscheidungsfindung auch an den Bürgern orientieren. In diesem Spannungsverhältnis zwischen selbstständiger Entscheidungsmacht und Orientierung an den Bürgern findet Repräsentation statt (Herzog 1989; Patzelt 1993). Je nach ihrem Selbstverständnis setzen Abgeordnete hierbei unterschiedliche Schwerpunkte. Das Verständnis der Parlamentarier von ihrer Rolle als Repräsentanten wird vor allem durch die institutionellen Rahmenbedingungen (wie z.B. das Wahlrecht) und die subjektiven Erfahrungen als Abgeordnete geprägt. Was folgt daraus für das Verständnis und das Ergebnis des Systemwechsels?2. Unterschiedliche Rollenbilder trotz gleicher Institutionen? - Zwischen Anpassung und Veränderung
Im Zuge der deutschen Wiedervereinigung sind die Institutionen des politischen Systems der alten Bundesrepublik auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen worden. Dazu gehören neben dem Grundgesetz mit seinen Strukturentscheidungen für einen sozialen und föderalen Rechtsstaat die frei gewählten Parlamente als zentrale Orte der politischen Entscheidungsfindung und auch die im Grundmuster ähnlichen Parteiensysteme. Das Selbstverständnis der Abgeordneten in Ost- und Westdeutschland wird somit durch ähnliche institutionelle Bedingungen mitgeprägt. Zugleich bringen Abgeordnete, wie die Bevölkerung selbst, je besondere Erfahrungen und Denktraditionen aus ihrer unterschiedlichen Sozialisation in Bundesrepublik und DDR mit. Dabei konnten und können trotz erfolgten "Institutionentransfers" (Lehmbruch 1993) in Ostdeutschland durchaus auch eigene Akzente gesetzt werden. So wurden in den Verfassungen der neuen Bundesländer direktdemokratische Verfahren von vornherein verankert. Ebenso konnten sich die PDS und hernach die Partei Die Linke als ein fester Bestandteil zunächst des ostdeutschen und sodann des gesamtdeutschen Parteiensystems etablieren.Wie weit jedoch die unterschiedlichen politischen Kulturen beider deutscher Teilstaaten trotz nahezu gleicher institutioneller Rahmenbedingungen ein divergierendes Selbst- bzw. Rollenverständnis bei den Abgeordneten nach 1990 bewirkt haben, bedarf der empirischen Untersuchung (Edinger/Vogel 2005). Um dies zu ergründen, wurden in den Jahren 2003, 2007 und 2010 Befragungen unter den deutschen Parlamentariern nahezu aller Landesparlamente und des Deutschen Bundestags durchgeführt. [1]
3. Das Selbstverständnis der Parlamentarier in Ost- und Westdeutschland – ein Überblick
a) (Teil-)Interessen, die "Basis" oder das Gemeinwohl: Was soll wie repräsentiert werden?

Diese Haltung wird befördert durch die tägliche Erfahrung in den Parlamenten, in denen widerstreitende Interessen zu gemeinsamem Handeln gebündelt werden müssen. Dem entsprechend äußern die Abgeordneten in Deutschland auch parteiübergreifend eine hohe Bereitschaft zum Kompromiss, (vgl. Diagramm "Kompromissbereitschaft"), ohne den eine Berücksichtigung unterschiedlicher, ja sich zum Teil widersprechender Interessen unmöglich wäre. Zur Kompromissbereitschaft, die immer eine mehr oder weniger große Abweichung von den zu vertretenden eigenen Interessen erfordert, muss allerdings Führungsfähigkeit hinzukommen, denn gemeinsam gefundene Lösungen müssen durchgesetzt und öffentlich vertreten werden – notfalls auch gegen den erklärten Willen derjenigen, deren spezielle Interessen man vertritt.


"Ist es aus Ihrer Sicht im Allgemeinen wichtiger, den Bürgern politische Orientierung zu bieten? Oder ist es wichtiger, hauptsächlich die Anregungen, die von Bürgern kommen, politisch aufzugreifen?" (Angaben in Prozent) |
||||
Anregungen aufzunehmen wichtiger | beides gleich wichtig | politische Orientierungsleistung wichtiger | ||
CDU | West | 21,3 | 45.7 | 33 |
Ost | 29,2 | 43,8 | 27 | |
SPD | West | 28,6 | 39,2 | 32,2 |
Ost | 22,6 | 50,4 | 27 | |
FDP | West | 25,7 | 32,4 | 41,9 |
Ost | 30,8 | 26,9 | 42,3 | |
Bündnis 90 / Die Grünen | West | 23,2 | 42,7 | 34,1 |
Ost | 29,4 | 41,2 | 29,4 | |
Die Linke | West | 31,3 | 56,3 | 12,5 |
Ost | 44,9 | 38,5 | 16,7 | |
Quelle: SFB 580/A3, Jenaer Parlamentarierbefragung 2007 (N=1181, Abgeordnete des Deutschen Bundestags und von 13 der 16 Landesparlamente (ohne Bayern, Bremen und Hamburg), Zeitraum: Februar bis Juli 2007, aufgrund der geringen Fallzahl werden die Ergebnisse für NPD, DVU und SSW nicht gesondert ausgegeben) |