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Wir verdrängen die Grausamkeit

/ 3 Minuten zu lesen

Von Hilal Sezgin (Journalistin und Schriftstellerin)

Die Schriftstellerin und Journalistin Hilal Sezgin beschäftigt sich viel mit dem richtigen Umgang mit Tieren und lebt selbst vegan. (© Barbara Fisahn)

Ein weiterer Hitzesommer liegt hinter uns, mit Dürre, Waldbränden und Temperaturrekorden. Lange dachten wir, uns Bewohner der gemäßigten Zonen der Nordhalbkugel werde der Klimawandel nicht treffen. Jetzt gibt es kaum mehr ein anderes Thema, alle Zeitungen und Partygespräche sind voll davon. Und dennoch: Die Bereitschaft, das Fleischessen hinter sich zu lassen und damit einen der stärksten Faktoren für die Erderwärmung auszuschalten, ist minimal. Was muss eigentlich noch geschehen? Wie viele Wissenschaftler und Umweltorganisationen müssen uns noch vorrechnen, dass die Herstellung von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs unglaublich viel Energie, Wasser und Fläche verbraucht und die Klimakrise wesentlich verschärft?

Es geht natürlich nicht nur um die Umwelt. Auch was die Tiere anbetrifft – also diejenigen, die mehrmals am Tag ganz buchstäblich tot vor aller Augen auf den Tellern liegen – praktiziert unsere Gesellschaft seit Jahren eine phänomenale Verdrängung. Niemand, der auch nur gelegentlich fernsieht, Zeitung liest oder auf Facebook unterwegs ist, hat noch nicht mitbekommen, dass das "Leben" in den Ställen diese Bezeichnung nicht verdient. Viele Tiere sehen nie Tageslicht, atmen keine Frischluft, haben keine Bewegung. In den Schlachthöfen herrschen Zustände, die anzusehen man kaum über sich bringen kann, selbst auf dem Bildschirm: Kühe, die sich vor Schmerzen am Boden verdrehen oder mit Ketten am Bein zur Stätte des Todes gezerrt werden. Schweine, die humpelnd aus den Transportern getrieben werden und deren menschenähnlichen Augen man ansieht, dass sie wissen, was ihnen bevorsteht.

Viele Menschen wechseln den Sender, wenn sie mit solchen Bildern konfrontiert werden. Viele lesen gar nicht die entsprechenden Zeitungsreportagen: "Ja ja, weiß ich längst." Vielleicht werden auch Sie, die Sie diese Zeilen lesen, jetzt denken: "Also diese Frau ist mir zu dogmatisch. Im Prinzip mag sie ja recht haben, aber so gewinnt man die Leute für die vegane Sache nicht." Die Frage ist bloß: wie denn dann? Wie kann man im besten Sinne "normale Leute", also freundliche, gewaltablehnende, oft auch tierliebe Menschen davon abbringen, ihr hart verdientes Geld für etwas auszugeben, hinter dem so viel Blut und Qual steht?

Es ist nämlich ebenfalls völlig normal, dass man den Blick von Grausamkeiten abwendet und während der Mittagspause nicht mit so etwas behelligt werden will. 1989, als die Mauer fiel, war ich schon einige Jahre lang Vegetarierin – und begegnete erstmals dem Konzept des Veganismus. Das war auf einer Kalifornien-Reise, in einem kleinen, alternativen Cafe. An den Schildern war klar ersichtlich, dass sämtliche Speisen nicht nur vegetarisch, sondern auch ohne Eier und "dairy-free" waren. Ich gebe zu, ich verstand sofort, worum es ging: Auch Milchkühe und Legehennen werden grausam geschlachtet, und sie geben weder Milch noch Eier freiwillig und leidfrei her. Doch gleichzeitig tat ich so, als würde ich es nicht verstehen. Ob in dem Essen Eier und Milch drin seien, sei mir egal – Hauptsache, es sei doch alles vegetarisch, ja? Im Klartext: Euer Vegan-Kram ist mir wurscht, ich bin jedenfalls Vegetarierin, das ist moralisch ganz wertvoll!

Wieso reagierte ich so idiotisch? Nun, ich tat das, weil Einsicht oft weh tut. Es tut weh, wenn man zu verstehen beginnt, dass man vielleicht etwas falsch macht. Wenn man diffuse Schuldgefühle auf sich zurollen spürt, weil man in irgendwelche grausamen Zusammenhänge verstrickt ist. Wir alle wollen als gut und vertrauenswürdig dastehen, vor den anderen und vor uns selbst. Niemand hat große Lust sich klarzumachen, dass er oder sie seit Jahren und Jahrzehnten von Geschäften profitiert, die auf so viel Leid und Tod aufbauen. Aber wir müssen uns das klarmachen. Für die nächste Generation Menschen, die diese Erde bewohnen will, und für die vielen Millionen anderer Wesen, die wir doch eigentlich auch respektieren, die wir gerne beobachten und gerne um uns wissen, von denen wir einige sogar regelrecht lieben: für die Tiere.

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