Wider den Muff von 1000 Jahren
Die 68er Bewegung und der Nationalsozialismus
'Faschismus' – Begriff und VorwurfEntsprang der Faschismusvorwurf dabei durchaus echter Entrüstung und einem ernsthaften Anliegen, deutet sich in der Zuordnung des Attributs 'Nazi-' an alle nur möglichen Institutionen und Personen dennoch bereits sein zunehmend inflationärer Gebrauch und die Funktionalisierung der NS-Zeit als Chiffre für die Gegenwart an. Im Laufe der Zeit sollte er zur universell einsetzbaren Kritikformel avancieren.[30]
In seiner theoretischen Fundierung folgte der Faschismusbegriff der 68er Bewegung zunächst der marxistischen Terminologie. Der Nationalsozialismus wurde dementsprechend vor allem auf ökonomische Aspekte reduziert. Max Horkheimers Diktum "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen." wurde ein viel zitiertes Motto. "Die neue Form des Faschismus", so der Wortführer der Protestbewegung Rudi Dutschke 1968, "ist nicht mehr in einer Partei oder in einer Person zu finden, sie ist vielmehr in allen Institutionen des Spätkapitalismus vorhanden".[31] Eine wesentliche Voraussetzung dafür machten die Studenten in den autoritären gesellschaftlichen Strukturen aus.[32] Diese Definition des Faschismus bedeutete letztlich eine Enthistorisierung und Entdifferenzierung sowie Ausblendung der konkreten NS-Verbrechen: "Die sich ausbreitende Vorstellung vom NS-Regime war [...] durch Faschismustheorien und politische Systemanalysen gekennzeichnet, und es entstand ein abstraktes und synthetisches Bild vom Nationalsozialismus ohne benennbare Täter und Opfer, ohne Orte und ohne Zeit, in dem das NS-Regime und die Bundesrepublik einander immer ähnlicher wurden."[33]

Auch nach außen wurde der Faschismusvorwurf angewandt und z. B. auf zeitgenössische Diktaturen ausgeweitet. "Spanien, Bonn und Griechenland – Faschisten reichen sich die Hand", skandierten die Studenten und schrieben z. B. "Helass" mit einem Doppel-S in Runenschrift auf ihre Transparente.[38] In globaler Dimension schließlich galt es, den Faschismus in Form des kapitalistischen Imperialismus zu bekämpfen, was sich besonders massiv im Blick auf den amerikanischen Vietnamkrieg äußerte.[39] Parallelen zwischen den Vereinigten Staaten und NS-Deutschland ("USA = SA = SS"[40]) waren dabei ebenso gängiges Repertoire der Rhetorik wie die Bezeichnung von Vietnam als das "Auschwitz von Amerika".[41] Wilfried Mausbach bezeichnet diesen Zusammenhang treffend als "Opfer-Rochade von Juden und Vietnamesen".[42] Ein Flugblatt warnte: "Alle Bürger, die schweigen, tolerieren im Stillen den US-Krieg und machen sich genauso mitschuldig wie diejenigen, die bei den Verbrechen Hitlers schwiegen."[43]
Hier passt sich auch die Selbstdeutung der Bewegung – und insbesondere dann der RAF – als nachholender Widerstand ein. Entsprechend sahen sich die 68er in der Rolle der Opfer und stilisierten sich zu "langhaarigen Ersatzjuden" oder "'Juden' des Antikommunismus".[44] Die Springer-Presse, hieß es, erzeuge eine "Pogromstimmung" und hetze zum "Studentenmord" – so wie Julius Streicher im "Stürmer" zum Judenmord gehetzt habe.[45] In der Szene-Zeitschrift "Agit 883" wurde gefragt: "Wann werden die ersten KZ´s wieder eröffnet? Wann werden die ersten Öfen wieder brennen, damit die Pigs versuchen, uns zu beseitigen?",[46] und ein Plakat kündigte das Teach-In "Die Endlösung der Studentenfrage steht bevor" an.[47] "Die studentische Linke", so Wilfried Mausbach, "bemächtigte sich nun selber der Leerstelle, die der bisherige Erinnerungsdiskurs offen gelassen hatte. Als 'konkrete Juden' und aktive Widerstandskämpfer definierte die Protest- und Provokationselite sich aus der Täternation hinaus."[48] Die Analogien zur NS-Vergangenheit, die auf einen Faschismus im Innern bzw. erneute Kriegsverbrechen im Ausland verwiesen, schienen schließlich eine zunehmende Gewaltbereitschaft als letztes Mittel zur Überwindung der Unterdrückungsverhältnisse zu legitimieren. Dies könnte zumindest partiell die zunehmende Radikalisierung und Militanz der 68er Bewegung und schließlich das Auftreten der terroristischen Gruppen der siebziger Jahre zu erklären helfen.[49]
Linksfaschismus und Tradierung von NS-Ideologie
Die 68er wurden ihrerseits allerdings ebenfalls mit einem Faschismusvorwurf konfrontiert – dem des 'roten' oder 'Linksfaschismus'. So wurden vor allem ihre Protestaktivitäten mit faschistischen Methoden verglichen. Beispielsweise kommentierte die Bild-Zeitung die Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin mit dem Satz: "Wir haben etwas gegen die SA-Methoden. Die Deutschen wollen keine rote und keine braune SA."[50] Aber auch einer der intellektuellen Vordenker der Bewegung, der Frankfurter Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, äußerte Bedenken und führte den Begriff des Linksfaschismus in die Debatte ein, als er Rudi Dutschkes Ausführungen zu weiteren Demonstrationen auf dem nach der Beerdigung Benno Ohnesorgs stattfindenden Kongress in Hannover als "voluntaristische Ideologie" bezeichnete, die man "linken Faschismus nennen muß".[51] Die BZ ging sogar so weit, den Studenten-'Führer' Rudi Dutschke in Hitlerpose zu karikieren.[52] Der Linksfaschismusvorwurf fand rasche Verbreitung und gipfelte gewissermaßen in der Bezeichnung der RAF als "Hitlers Kinder".[53]
Eine weitere Dimension des Linksfaschismusvorwurfes betrifft die angebliche Tradierung nationalsozialistischen Gedankenguts durch die 68er. Wolfgang Kraushaar konstatiert z.B. eine "ungebrochene Wirksamkeit eines antisemitischen Latenzzusammenhangs".[54] Eher waren die zum Teil tatsächlich an Versatzstücke der NS-Ideologie erinnernden Argumente der Protestbewegung aber "bestürzendes Resultat eines irrlichternden Vergangenheitsbewältigungstrips". Dieser bereitete im Zuge der schiefen Geschichtsanalogien und der damit einhergehenden Entdifferenzierung der NS-Zeit den Boden für eine gewisse Anfälligkeit für antisemitische Ressentiments. Dies machte sich z.B. während des Frankfurter Häuserkampfes um 1970 bemerkbar, bei dem die Studenten mit Schlagwörtern wie 'jüdisches Kapital' oder 'jüdische Spekulanten' gegen die Grundstücksspekulationen im Frankfurter Westend protestierten.
Hinzu kam ein mit antiimperialistischen Einstellungen verknüpfter Antizionismus, vor allem im Rahmen des Sechs-Tage-Kriegs 1967 bzw. des Palästinakonfliktes. Für die Studenten wandelten sich die einstigen NS-Opfer dabei zu faschistischen Tätern.[56] In Anspielung auf Hitlers Kriegsführung war die Rede vom "israelische[n] Blitzkrieg und Blitzsieg".[57] Welch groteske Ausmaße der Protest gegen "Nazisrael"[58] annehmen konnte, zeigt der fehlgeschlagene Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Westberlin am 9. November 1969.[59]
In dem Bekennerschreiben, dem "Schalom + Napalm"-Flugblatt, heißt es: "Das bisherige Verharren der Linken in theoretischer Lähmung bei der Bearbeitung des Nahostkonflikts ist Produkt des deutschen Schuldbewußtseins: 'Wir haben eben Juden vergast und müssen die Juden vor einem neuen Völkermord bewahren.' Die neurotisch-historizistische Aufarbeitung der geschichtlichen Nichtberechtigung eines israelischen Staates überwindet nicht diesen hilflosen Antifaschismus. Der wahre Antifaschismus ist die klare und einfache Solidarisierung mit den kämpfenden Feddayin."[60] Dieter Kunzelmann bezeichnete den kritisierten Zusammenhang abschätzig als "Judenknax".[61] Der Antizionismus der Linksterroristen konnte sogar so weit gehen, dass das palästinensische Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München 1972 von der RAF als "gleichzeitig antifaschistisch, antiimperialistisch und internationalistisch"[62] begrüßt und bei der Flugzeugentführung in Entebbe 1976 die jüdischen Passagiere selektiert wurden.
Resümee
"Wären wir ohne die 68er politisch-moralisch mehr oder weniger unerweckt durchs Leben gegangen, unfähig zu trauern, [...] ohne Scham?"[63] Diese Frage, die Günter Gaus im Jahr 2001 stellte, ist mit Sicherheit nicht pauschal zu bejahen, aber die Protestbewegung hatte elementaren Anteil am Aufbrechen des "kommunikativen Beschweigens" (Hermann Lübbe) der NS-Vergangenheit. Denn durch den für ihre Protestaktivitäten zentralen Faschismusvorwurf hielt sie das Thema im politischen Diskurs präsent. Dabei ging allerdings die Schere zwischen der ursprünglichen Intention – der Anklage der 'Täterväter' sowie der Verhinderung einer möglichen Wiederholung – und der Funktionalisierung der NS-Vergangenheit als "Mobilisierungsressource" (Edgar Wolfrum) für die Gegenwart immer weiter auf. Mit zunehmender Radikalisierung der 68er geriet der Nationalsozialismus als historisches Ereignis aus dem Blick, 'Faschismus' wurde zum allgegenwärtigen Modewort, wodurch sie einer angemessenen Aufarbeitung der NS-Diktatur zum Teil im Weg standen und gar für eine Art "zweite Verdrängung"[64] sorgten. Letztlich hatten sie sich "in den Fallstricken eben der Vergangenheit" verfangen, "die sie doch ablehnten".[65] Gerade daher ist Joschka Fischers anfangs zitierter Sentenz aber zuzustimmen: Ohne die Vorgeschichte der unbewältigten NS-Vergangenheit und deren – wenn auch problematischer – Aneignung wäre die 68er Bewegung anders verlaufen.