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Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen

Wulf Schönbohm

/ 16 Minuten zu lesen

Auch die Fehler und Versäumnisse der 68er-Bewegung müssen benannt werden, wie die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, die antiautoritäre Erziehung sowie das Nicht-Aufbegehren gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.

Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP)

Einleitung

Vor kurzem hielt ich als Zeitzeuge einen Vortrag über die 68er vor dem Abiturjahrgang eines Gymnasiums. Die Schüler und Schülerinnen wirkten mäßig interessiert. Für sie war es ein sehr weit zurückliegendes, schwer verständliches Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik, für mich auch nach vierzig Jahren noch immer eine äußerst lebendige und aufregende Zeit. Der politische Kampf gegen den SDS in Berlin einerseits, das Engagement für Reformen an der Hochschule und in der Gesellschaft gegen das verknöcherte Establishment andererseits, dieser Zweifrontenkampf war aufreibend. Im Sommersemester 1964 hatte ich nach drei Jahren Dienst als Zeitsoldat mein Studium am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität begonnen. Dort war die Zahl der Studenten, die sich durch eine Ummeldung nach Berlin als "Drückeberger" dem Wehrdienst entzogen hatten, besonders hoch. Im OSI wurden meine wenigen Freunde vom Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) und ich als "Faschisten" beschimpft, in der CDU dagegen galten wir als linke Revoluzzer.

Bewusst zitierte ich vor den Abiturienten aus den damaligen Schriften der SDS-Theoretiker Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, aber schnell bestätigte sich meine Vermutung, dass meine Zuhörer sie nicht verstanden und sich langweilten. Kein Wunder, denn auch damals haben die meisten Studenten sie weder gelesen noch verstanden. Diese komplizierten neomarxistischen Analysen waren nur etwas für Eingeweihte; verstanden haben dagegen viele Studenten den Sinn der SDS-Aktionen gegen den autoritären Uni-Rektor, gegen die Notstandsgesetze, den Springer-Konzern und gegen den Vietnamkrieg. Unterstützung fand der SDS als der politische Kern der APO für seine geschickt ausgewählten Aktionen gegen bestimmte Missstände, aber nicht für sein eigentliches Ziel, die Abschaffung des bestehenden Ordnungssystems in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Im Gegensatz zum SDS war die Außerparlamentarische Opposition (APO) eine thematisch und politisch breit gefächerte Protestbewegung, die weit über den SDS und die Universität hinausreichte und eine liberalere, tolerantere, weniger autoritäre Gesellschaft anstrebte, ohne gleich, wie der SDS, die Systemfrage zu stellen. Es gab damals in der jungen Generation ein tief sitzendes Unbehagen über die Muffigkeit, die Autoritätsgläubigkeit, die spießige Kleinkariertheit und geistige Enge ihrer Familien und ihres Lebensumfeldes. Diesen latent vorhandenen Protest artikulierte und mobilisierte der SDS. Dies führte zu zahlreichen Protestaktionen gegen die etablierten Autoritäten auch in der Provinz.

Der "Mief" der 1960er Jahre

Ich gab den Schülern folgendes Beispiel: 1965 wohnte ich in Tempelhof, meine Freundin und jetzige Frau dagegen in Dahlem. Wenn ich meine Freundin besuchte, klopfte spätestens um 22 Uhr ihre Wirtin an die Tür und rief: "Herr Schönbohm!" Das bedeutete, ich musste baldmöglichst das Zimmer verlassen, damit sich die Wirtin, wie sie uns entschuldigend erklärt hatte, nicht wegen des Verstoßes gegen den Kuppeleiparagraphen strafbar machte. Ich musste also raus aus dem Bett in die kühle Nacht, um auf dem Motorroller zu meinem Domizil zu fahren.

APO-Postkarte: "Make Love not War". Sex und nackte Haut waren ein absolutes gesellschaftliches Tabu und daher eine beliebte Protestform. (© Günter Zint)

Das fanden die 18-/19-Jährigen nun interessant, ja geradezu kurios. So war das eben noch vor vierzig Jahren: Kein Damen- oder Herrenbesuch nach 22 Uhr, kein Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten. In Bonn hatte meine Wirtin sogar meiner Sekretärin, die mir als RCDS-Vorsitzendem ein wichtiges Telegramm überbringen wollte, am helllichten Tage den Zutritt zum Haus verweigert. Ich zog sofort wieder aus und trat gegenüber meiner neuen Wirtin gleich zu Beginn als Verheirateter auf, damit meine Freundin bei mir übernachten konnte. Eltern ließen damals den Freund ihrer Tochter selbstverständlich nicht in ihrem Zimmer schlafen, Homosexualität war mit Strafe bedroht, Nacktheit in der Öffentlichkeit oder in den Medien galt als unschicklich, es gab sogar eine entsprechende Kampagne gegen Schmutz und Schund; über Sexualität und sexuelle Aufklärung wurde öffentlich nicht geredet.

An der Universität trug ich Jackett, und man sprach seine Studienkollegen mit "Herr Kommilitone" an. Studentische Wohngemeinschaften hatten keine Chance, einen Mietvertrag zu bekommen. Die Geburt eines unehelichen Kindes war eine Schande für die Mutter und deren Familie. Jede Abtreibung - mit Ausnahme der Schwangerschaftsunterbrechung bei medizinischer Indikation - war verboten. Eine Ehescheidung erfolgte nach dem Schuldprinzip. Die kirchliche Trauung zwischen einem Protestanten und einer Katholikin war nur möglich, wenn der Protestant sich schriftlich gegenüber der katholischen Kirche verpflichtete, dass die Kinder katholisch getauft und erzogen würden. Ehefrauen mit Kindern benötigten für ihren künftigen Arbeitgeber die Genehmigung ihres Ehemannes, wenn sie eingestellt werden wollten. Wenn ein Mann eine Verlobung, also ein Eheversprechen, aufhob, musste er seiner früheren Verlobten als Entschädigung ein "Kranzgeld" zahlen. Ich werde nicht vergessen, wie ablehnend ich auf die langen Haare der Beatles reagierte, die ich 1962 zufällig im Starclub in Hamburg gehört und gesehen hatte. Männer mit langen Haaren wie Frauen - einfach lächerlich!

Berlin verstand sich damals als Frontstadt im Kalten Krieg gegen die kommunistische Diktatur, als Symbol der Freiheit. Am 1. Mai versammelten sich in den 1960er Jahren noch über 100 000 Berliner vor der Ruine des Reichstages, um gemeinsam mit den Gewerkschaften und allen Parteien ihren Freiheitswillen und ihren Antikommunismus zu bekräftigen. Die Amerikaner wurden verehrt, denn ihnen hatte die Stadt während der Blockade durch die Sowjets ihr Überleben zu verdanken. Auf die Amerikaner ließ der Berliner nichts kommen.

Aufgebrachte Berliner Bürger verbrennen die roten Fahnen der Studenten. (© Günter Zint)

Kein Wunder also, dass die Berliner auf die antiamerikanischen Demonstrationen, die Stürmung des Amerika-Hauses, die Verhöhnung und Beleidigung von Staatsgästen durch, wie sie fanden, langhaarige, linksextremistische Studenten gereizt und empört reagierten. Der SDS trieb unter Dutschke die Eskalation bewusst durch gezielte Regelverletzungen voran: vom sit-in und teach-in über die Besetzung von Universitätsinstituten bis zur Gewalt gegen Sachen und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die überforderten Beamten und Politiker, die völlig unvorbereitete, überreagierende Polizei trugen das Ihre zur Anheizung der Auseinandersetzungen bei, die mit dem Tod von Benno Ohnesorg im Juni 1967 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten.

Die Berliner Springerpresse hat mit ihrer polemischen und simplifizierenden Berichterstattung, die wahrscheinlich die damalige Mehrheitsmeinung der Berliner Bevölkerung wiedergab, sicherlich zur Verschärfung der Konfrontation beigetragen. Wer aber, wie ich, erlebt hat, mit welcher Skrupellosigkeit die SDS-Vertreter die "Charaktermasken" des Systems beleidigten und beschimpften, der wundert sich doch ein wenig über die Empfindlichkeit dieser Revolutionäre gegenüber grobschlächtiger Kritik.

Ich habe im Mai 1965 am OSI den ersten Vorlesungsstreik an der FU miterlebt, der vom SDS aus Protest gegen das Kuby-Veranstaltungsverbot des Rektors ausgerufen wurde. Durch die arrogante Selbstgewissheit der SDS-Matadore fühlte ich mich auf dieser Protestversammlung herausgefordert. Meine dort vorgetragene Kritik an dem Begriff und dem Sinn eines "Streiks" - schließlich seien Studenten keine Arbeitnehmer und ein Verzicht auf die Vorlesung schade nicht der Universität, sondern den Studenten, die dort etwas lernen wollten - wurde unter dem donnerndem Beifall der Versammelten als kleinbürgerliche Kritik eines autoritätsgläubigen Lakaien der Professoren abgetan. So begann meine Karriere als "Faschist". Arroganz, Intoleranz und aggressive Feindlichkeit gegenüber Andersdenkenden waren Wesenszüge dieser Bewegung, obwohl sie selbst doch die Intoleranz und Repression des "Systems" kritisierte. Im weiteren Verlauf dieser innerstudentischen Auseinandersetzungen zwischen linken und alternativen 68ern gewann ich den Eindruck, dass die immer schärferen Abwehrreaktionen auf unsere kritischen Einwände darauf zurückzuführen waren, dass die Linke den Verweis auf die Realitäten, auf Vernunft und Augenmaß deshalb so hasste, weil er ihre utopische und rücksichtslose Radikalität offen legte.

Aus meiner keineswegs vollständigen Auflistung von Merkmalen der deutschen Gesellschaft in den 1960er Jahren wird deutlich, wie radikal sich die deutsche Gesellschaft inzwischen geändert hat. Nach 1968 wurden Autoritäten und Regeln infrage gestellt, die NS-Vergangenheit nicht mehr tabuisiert, Sex offener diskutiert und praktiziert, denn schließlich gab es Oswalt Kolle und die Pille. Die Emanzipation der Frau wurde zu einem beherrschenden Thema. Unter dem Einfluss paralleler Veränderungen in den USA und in Großbritannien revolutionierten Rock 'n' Roll und Pop die Musik, lange Männerhaare wurden ebenso Mode wie Miniröcke und Schlabberlook, Drogenkonsum entwickelte sich zu einem Dauerproblem. Eine radikale Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems wurde nur in Deutschland durch den SDS angestrebt. Da war nichts von Flower Power zu spüren, aber viel von utopischer Heilsgewissheit und ernsthafter Arbeit für die Revolution.

Von seinen eigentlichen systemüberwindenden politischen Zielen hat der SDS kein einziges durchgesetzt. Im Nachhinein kann man den SDS - zugespitzt formuliert - als "nützlichen Idioten" des Systems bezeichnen, denn er hat es nicht, wie angestrebt, beseitigt, sondern gefestigt und wetterfest gemacht. Von einer politischen Neugründung der Bundesrepublik Deutschland durch den SDS oder die APO kann also keine Rede sein, wohl aber von einer Veränderung der Gesellschaft.

Die gescheiterte Revolution

Meine Generation hat den Aufstieg unseres zerstörten Landes am eigenen Leibe erlebt. Unsere Eltern haben das Land in kurzer Zeit wieder aufgebaut, die Wirtschaft flott gemacht, die Demokratie zum Laufen gebracht. Arbeit, zunehmender Wohlstand und soziale Sicherheit waren in den 1960er Jahren für beinahe jeden in erstaunlichem Umfang garantiert. Die Bundesrepublik Deutschland war in das westliche Staatensystem politisch und wirtschaftlich integriert. Die europäische Einigung machte sichtliche Fortschritte. Jeder in meiner Generation wird sich auf seine Weise daran erinnern, wie es in seiner Familie aufwärts ging, das erste Auto angeschafft, der erste Urlaub in Italien möglich wurde - und wie es praktisch unmöglich war, mit dem Vater zum Beispiel in Ruhe über den Nationalsozialismus zu sprechen, wobei wir es den Vätern auch schwer gemacht haben, weil wir als besserwisserische Ankläger aufgetreten sind.

Nicht alle APO-Aktivisten waren auch mit den Ideen des SDS einverstanden. Berliner Demonstranten am 1. Mai 1968. (© AP)

Am Ende der 1960er Jahre herrschte in meiner Generation das weit verbreitete Gefühl vor, die materielle Not sei beseitigt und es gehe jetzt darum, sich den immateriellen Defiziten einer erstarrten Gesellschaft jenseits von Wohlstand, Ordnung und Tradition zuzuwenden. Mitbestimmung in den Unternehmen, Familienpolitik, Reform des Bildungssystems, des Sexualstrafrechts und des Eherechts, die Liberalisierung des Rechtsstaates, Entspannungs- und neue Ostpolitik - diese Reformthemen kamen in den 1970er Jahren auf die Tagesordnung der Politik.

Die politischen Ziele des SDS basierten auf einer neomarxistischen Analyse des spätkapitalistischen Systems, das sie auf Grund seiner Irrationalität und Inhumanität in der Krise sahen. Durch Manipulation, Repression und Konsumterror würden die Massen unmündig gehalten und seien daher für eine sozialistische Umgestaltung des Systems nicht ansprechbar. Nur die Intellektuellen, zu denen sich natürlich auch die Studenten zählten, seien in der Lage, die Manipulation zu durchschauen, die Massen aufzuklären und gegen das System zu mobilisieren. Durch die Provokation der Reaktionäre, durch die illegale und im Notfall auch gewaltsame Durchbrechung der ehernen Spielregeln des Systems, müsse in harten Auseinandersetzungen dessen repressiver Gewaltcharakter offen gelegt und das richtige Bewusstsein für den notwendigen Kampf geschaffen werden. Die Unterstützung der revolutionären Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt und deren endgültiger Sieg werde die sozialistische Revolution in die Metropolen der Industrieländer tragen.

Parlament, Regierung und Parteien seien nur noch die Fassade zur Verschleierung der Realität des autoritären, präfaschistischen Staates, der im Auftrag des Großkapitals die Massen manipuliere und den Klassenkampf unmöglich mache. Die Klassenjustiz sei das wichtigste Instrument des Großkapitals, um die einzig wahre Opposition, nämlich die demokratisch-sozialistischen Kräfte, zu unterdrücken.

Dieser Totalverriss des Systems durch den SDS, diese unversöhnliche, prinzipielle Ablehnung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung Deutschlands, ja des gesamten Westens, demonstriert seine realitätsblinde, fanatische Ideologie, mit der kein Kompromiss möglich war, die durch keine Reform zufrieden gestellt werden konnte. Gesellschaftlicher Pluralismus, die Garantie der Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaat, parlamentarisch-repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung und Soziale Marktwirtschaft, die ich als Politologe am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität als große politische Errungenschaften verinnerlicht hatte, wurden von den SDS-Utopisten verachtet und als zu beseitigende Hürden auf dem Weg zur wahrhaft humanen, sozialistischen Gesellschaft bekämpft. Die anti-demokratische Zielsetzung des SDS war von Beginn an offensichtlich, aber kaum jemand hat damals die schon früh vorgetragenen Warnungen ernst genommen. Auch die Medien nicht, denn sie gaben größtenteils das revolutionäre Pathos, die pauschalen Verurteilungen und spektakulären Aktionen unkritisch wieder, denn das waren außergewöhnliche Ereignisse und fernsehgerechte Bilder. Die wenigen Studenten, die die systemüberwindenden Ziele dieses Rebellionsversuches bekämpften und auf deren Folgen hinwiesen, wurden von den Medien souverän ignoriert.

Rudi Dutschke im April 1968: ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. (© AP)

Für die hohe Aufmerksamkeit und das Ansehen von APO und SDS war nach meiner Einschätzung Rudi Dutschke besonders wichtig. Obwohl er im SDS nie ein wichtiges Amt innehatte, wurde er ab 1966 zunehmend zur zentralen Figur der studentischen Rebellion, denn er war die treibende Kraft für alle zu der Zeit in Berlin stattfindenden Demonstrationen, Aktionen und Kongresse gegen die Notstandsgesetze, gegen den Schah-Besuch und den Vietnamkrieg. Dutschke vertrat die Überzeugung, dass durch gezielte, durchaus illegale Provokationen des Establishments und dessen Reaktionen darauf der unterdrückerische Charakter des Systems verdeutlicht werde, was zu einer Bewusstseinsänderung der Massen führe und dann ihre Mobilisierung ermögliche.

Wenn Dutschke sprach, wurde es immer still im Auditorium, und jeder seiner Diskussionsbeiträge dauerte mindestens eine halbe Stunde. Er wirkte wie ein leidenschaftlicher Prediger, ein von seinen revolutionären Ideen besessener Sendbote aus einer anderen Welt. Ich habe ihn häufiger erlebt und auf dem Podium mit ihm gestritten. Ich gestehe offen, dass er der einzige mir sympathische Linke war. Er machte den Eindruck eines ehrlichen Idealisten, der an der Welt litt und der glaubte, sie mit seinem Konzept retten zu können, ja zu müssen. Sein Charisma, seine Leidenschaft und bezwingende Rhetorik faszinierten die Studenten, auch wenn sie seine häufig sehr verschlungenen theoretischen Ausführungen nicht vollständig verstanden. Er war ein freundlicher, bescheidener, glaubwürdig wirkender junger Mann. In mancher Hinsicht war er auf rührende Art altmodisch oder gar kleinbürgerlich: Er trug keine langen Haare und Parka, dafür aber eine Baskenmütze und hatte immer seine Aktentasche mit Büchern dabei. Er war ein disziplinierter Arbeiter an und mit Texten. In der Zeit freier Liebe heiratete er und bekam einen Sohn, den er nicht in die sozialistische Kinderkrippe gab, sondern zusammen mit seiner Frau aufzog.

Ich weiß, dass ihm von einigen meiner früheren RCDS-Kollegen vorgeworfen wird, er habe die Gewalt befürwortet. Habermas hat ihm als Reaktion auf seine voluntaristischen Thesen auf dem Kongress in Hannover 1967 "linken Faschismus" unterstellt. In jedem Fall hat er in seinen theoretischen Schriften die gezielte, illegale Provokation und Eskalation befürwortet und diese auch praktiziert. Damit hat er die Verletzung von Menschen einkalkuliert. Von ihm stammt auch das erste Stadtguerilla-Konzept. Trotzdem war er nie an einer gezielten Gewaltaktion beteiligt. Dutschke hielt den Tyrannenmord und die gewaltsamen revolutionären Bewegungen in den Ländern der Dritten Welt für legitim, verurteilte aber eindeutig die Morde der späteren RAF als individuellen Terror. Als Horst Mahler ihn später in London besuchte, um ihn für den bewaffneten Kampf zu gewinnen, lehnte er ab. Illegale Regelverletzungen und Gewalt gegen Sachen erschienen ihm notwendig, aber Gewalt gegen Menschen verurteilte er als Pazifist und Sozialist als inhuman. Einen persönlichen, von ihm ausgeführten Gewaltakt gegen eine Person konnte ich mir, trotz seiner ambivalenten Haltung zur Gewalt in seinen theoretischen Schriften, bei ihm nicht vorstellen, auch wenn sich die Trennung von Gewalt gegen Sachen und Personen sehr bald als völlig unrealistisch erwies. Rudi Dutschke ist am 11. April 1968 in Berlin von einem verwirrten Attentäter niedergeschossen und schwer verletzt worden. Davon hat er sich nie wieder richtig erholt.

Schon 1969 zerfiel ohnehin der ideologische Kern der APO in zahlreiche kommunistische, maoistische und trotzkistische Kleingruppen, der SDS löste sich 1970 selbst auf, die APO war am Ende, der RAF-Terror begann. Es gibt zahllose Artikel, Pamphlete und Bücher aus der SDS- und APO-Szene, die die zwangsläufigen Defizite des spätkapitalistischen Systems in allen Details beschreiben und über den richtigen Weg und die richtige Methode zur Beseitigung des verhassten Systems streiten. Dagegen gibt es praktisch keine Veröffentlichung, die die nahe liegende Frage beantwortet, wodurch denn das bestehende, nicht reformfähige System ersetzt werden sollte. Klar ist nur, dass Dutschke das kommunistische Herrschaftsmodell nach dem Vorbild der Sowjetunion als undemokratisch ablehnte.

Wenn man versucht, die Bruchstücke eines sozialistischen, humanen und freiheitlichen Modells als Alternative zum bestehenden zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Bild: Gemeineigentum und demokratische Planwirtschaft, überschaubare und direktdemokratisch bestimmte Kommunen und Räte sind die entscheidenden Strukturelemente einer neuen Gesellschaft, in der die Ausbeutung und Vereinsamung des Menschen, die Trennung von Produktionsstätte und Lebensmilieu aufgehoben sind und die Herrschaft von Menschen über Menschen auf ein Mindestmaß reduziert ist. Dieser Traum von einer utopischen Gesellschaft war sehr schnell, nämlich schon nach gut drei Jahren, ausgeträumt. Trotz zahlloser Demonstrationen, einiger harter Straßenschlachten mit der Polizei und hoher Medienresonanz: All die bekämpften Prinzipien, Strukturen und Institutionen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Wirtschaft gelten und existieren noch. Sie sind nicht untergegangen, sondern haben sich durch Reformen verbessert, sie wurden liberaler und weniger autoritär.

Politische Folgen von 1968

Durch die ernüchternde Erfahrung, dass in Deutschland keine revolutionäre Situation bestand und keine Revolution möglich war, begann zu Beginn der 1970er Jahre der Zerfall des SDS in die verschiedenen sektiererischen Splittergruppen, die sich untereinander spinnefeind waren und bis aufs Messer bekämpften. Die Entstehung der terroristischen Rote Armee Fraktion (RAF) aus Teilen der studentischen Protestbewegung ist ohne diese nicht denkbar. Deshalb hat diese ziel- und sinnlose Mordorganisation, die den Rechtsstaat auf eine harte Probe stellte, auch noch so lange und so häufig Unterstützung durch frühere APO-Anhänger erfahren, die sich zur Solidarität verpflichtet fühlten, auch wenn sie die RAF ablehnten.

"Die Grünen" wurden politisch stark von der APO beeinflusst. Mit Eintritt in den Bundestag wurde aus der außerparlamentarischen eine parlamentarische Opposition. (© AP )

Die Entstehung zahlreicher Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen zu ganz verschiedenen Einzelthemen sind auch eine Folge der Öffnung und Politisierung der Gesellschaft nach 1968, in der die Bürger sich mitverantwortlich fühlen für deren Entwicklung. Sie entdeckten eigene Ziele und Projekte und versuchten, sie häufig im Gegensatz zu den Planungen staatlicher und kommunaler Behörden durchzusetzen. Dies betraf insbesondere das neue Thema Umweltschutz, welches dann von der neu gegründeten Partei "Die Grünen" aufgegriffen und zu einem politischen Gesamtkonzept kondensiert wurde.

Die Grünen beschlossen auf ihrem Gründungsparteitag, dass ökologisch, basisdemokratisch, sozial und gewaltfrei ihre tragenden politischen Prinzipien seien. Diese Partei wurde politisch wesentlich durch die APO beeinflusst, weshalb sich auch viele ihrer früheren Aktivisten und die ehemaligen Mitglieder der radikal-sozialisischen Splittergruppen der Nach-APO-Zeit dort wiederfanden. Das Prinzip "ökologisch" war neu und wurde bald das politische Markenzeichen der Grünen, "sozial" war dagegen eine politische Pflichtübung und entwickelte bei ihnen keine besondere Wirksamkeit. Das Prinzip "basisdemokratisch" wurde direkt von der APO übernommen, die immer eine räte-, also direktdemokratische Willensbildung befürwortet hatte. Die Gewaltfreiheit - eigentlich für jede Partei eine nicht erwähnungsbedürftige programmatische Selbstverständlichkeit - wurde jedoch in bewusster Abgrenzung zu APO, SDS und RAF hervorgehoben. Auch die vom SDS erfolgreich angewandte Organisation von themenzentrierten, sprachlich zugespitzten politischen Kampagnen übernahm die grüne Partei; zum Beispiel bei Themen wie Volkszählung, Atomenergie, Atommüllentsorgung, NATO-Doppelbeschluss. Die anti-amerikanische Grundeinstellung der APO sowie die pazifistische der Friedensbewegung übernahm sie ebenfalls.

Die Kinder der 68er wurden Teil der Revolte. Fragen der Erziehung und Debatten um Autorität wurden besonders in Deutschland geführt.

(© Günter Zint)

Für die APO waren die imperialistischen USA das Feindbild Nummer 1, die revolutionären Befreiungsbewegungen der Dritten Welt dagegen ihr großes Vorbild. Che Guevara, Ho Chi Minh, Castro und Mao galten bei ihnen als Freiheitskämpfer, die sie bei Demonstrationen beinahe wie Heiligenfiguren vor sich her trugen, denn diese Helden kämpften, wie sie, gegen den Imperialismus und für die sozialistische Freiheit. Die "antiautoritäre Bewegung", die alle offiziellen Repräsentanten und Autoritäten im Westen verabscheute, hatte ihre eigenen Autoritäten gefunden, denen sie bedingungslos glaubte und unkritisch folgte.

Sieht man von Che Guevara ab, zeigt die Verehrung all dieser rücksichtslosen und brutalen Diktatoren, mit welch wirklichkeitsblinder Nonchalance über Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen wurde, wenn der Diktator sich antikapitalistisch, sozialistisch und antiamerikanisch gebärdete. Die Kommilitonen in den osteuropäischen, kommunistischen Staaten haben ihren SDS-Genossen damals zu Recht bittere Vorwürfe gemacht, dass sie 1968 keinen flammenden Protest organisiert haben gegen die brutale militärische Niederschlagung des Prager Versuchs, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu schaffen. Der Protest gegen den Vietnamkrieg der USA war wichtiger.

Ein politisch wichtiges Ziel war für SDS und APO die radikale Umgestaltung des Bildungssystems. Eine neue Gesellschaft könne langfristig nur aufgebaut werden mit neuen, sich ihrer selbst bewussten Menschen, die sich der umfassenden Manipulation und Repression durch das System entzögen. Deshalb sei eine antiautoritäre, repressionsfreie Erziehung in Kindergarten, Schule, Familie und Hochschule so wichtig. Durch den Leistungsterror werde an den Schulen und Hochschulen der angepasste, autoritätsgläubige Fachidiot herangezüchtet, der im Sinne des Systems widerstandslos funktioniere. Deshalb sah es der SDS als seine wichtigste Aufgabe an, innerhalb des Bildungssystems die Autorität der Lehrer und Professoren infrage zu stellen, sie lächerlich zu machen und die Leistungsanforderungen und -kontrollen abzubauen. Mit der Reduzierung der Leistungsanforderungen im Bildungssystem ist die APO sehr weit gekommen. Die Aufgeschlossenheit einiger Länderregierungen gegenüber derartigen Ideen und die Verbeamtung ehemaliger 68er als Lehrer und Hochschullehrer beförderten diesen Prozess.

Aber für beinahe noch schwerwiegender als die Senkung der Leistungsanforderungen halte ich die Folgen der antiautoritären Erziehung für die Kinder und Jugendlichen. Dieses Erziehungskonzept wurde Ende der 1960er Jahre konsequent angewandt in den neu gegründeten Berliner Kinderläden. Jede Erziehung der Kinder zu Ordnung, Gehorsam, Rücksichtnahme und Gemeinschaftsgefühl war verpönt, weil man von der Annahme ausging, dass sich Kinder selbst am besten erziehen würden und daher jede Art von Vorgabe, Zwang oder gar Strafe schädlich sei. Bekanntlich ist dieses Konzept gescheitert, und viele der Kinder, die dieser Nichterziehung unterworfen waren, gehören zu den Opfern dieser Verirrungen. Die Frage, welche Folgen der Aufstand gegen die Gesellschaft und der Rückzug in die eigene Welt der extremistischen Gruppen, des Terrorismus, der Hausbesetzer, der Autonomen, der Drogenabhängigen für die betroffenen Personen selbst gehabt hat, wäre eine eigene Untersuchung wert.

Die Wirkungen der antiautoritären Erziehung auf die Kinder und Jugendlichen thematisiere ich deshalb, weil sie dazu geführt haben, dass ihnen von Seiten der verunsicherten Eltern und Lehrer gar keine oder nur noch wenige Grenzen aufgezeigt wurden. In Bezug auf Kleidung, Sex, Benehmen, Pünktlichkeit, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme, Leistungswillen und Anerkennung von Autoritäten wurde von meiner Generation sicherlich zu viel, wurde aber von der nachfolgenden eher zu wenig verlangt.

Quellen / Literatur

Quelle: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 14-15/2008)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Der CDU-Politiker und Politologe Wulf Schönbohm, geboren 1941, war in den Jahren 1967-1968 Bundesvorsitzender des RCDS. 1969 veröffentlichte er das Buch "Die Thesen der APO. Argumente gegen die radikale Linke".