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"Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich hierher" | 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei | bpb.de

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"Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich hierher" Im Ruhrgebiet zu Hause: Ali Başar

Dorte Huneke

/ 18 Minuten zu lesen

November 1961: Im zweiten Zug aus Istanbul nach München sitzt Ali Başar. Ohne Ausbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld kommt der heute 79-Jährige ins Ruhrgebiet.

Ali Başar im Frühjahr 2011 in seiner Wohung in Duisburg-Marxloh.

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.

Im zweiten Zug aus Istanbul nach München sitzt Ali Başar. Ohne Ausbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld kommt der heute 79-Jährige ins Ruhrgebiet. Seine Heimat Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien hatte er schon als 13-Jähriger verlassen, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Er landete in Istanbul, schlief auf Parkbänken, schlug sich als Tagelöhner durch. Ein Anwerbevertrag bringt ihn nach Deutschland, hier arbeitet er viele Jahre im Bergwerk und als Schweißer. Wie ein Paradies sei ihm das vorgekommen, erzählt er. Verschweigt aber nicht, dass selbst paradiesische Zustände weder Leid noch Ungerechtigkeiten verhindern.

Vor dem Wohnzimmerfenster der Familie Başar in Duisburg-Marxloh ragen heute die rauchenden Schlote der ThyssenKrupp AG ins Panorama. Ali Başar freut sich, seinen alten Arbeitsplatz jeden Tag im Blick zu haben. Gülten Başar hat Börek gebacken und ergänzt die Erzählungen ihres Mannes, vor allem wo es um nachbarschaftliche Beziehungen geht. Sie kam erst später, nach der Hochzeit Mitte der 60er-Jahre, nach Deutschland. Der älteste Sohn Cahit, Studienrat an einem Kölner Gymnasium, ist auch da, um die Lebensgeschichte seines Vaters zu hören.

Das Kapitel "Deutschland" beginnt für Ali Başar im Herbst 1961 mit einer Visitenkarte, die er in Istanbul von einem Freund zugesteckt bekommt. Darauf steht der Name eines Mannes, der ebenfalls Ali heißt und für die Deutsche Verbindungsstelle in Istanbul-Tophane arbeitet. Ali Başar gibt die Visitenkarte nicht mehr aus der Hand, bis er schnellen Schrittes bei dem Gebäude ankommt, in dem das Auswahlverfahren stattfindet. Er erkundigt sich nach Ali, landet aber wie alle anderen in der Warteschlange und schließlich bei der Gesundheitsprüfung.

"An die Atmosphäre bei den medizinischen Untersuchungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Alle waren aufgeregt, voller Hoffnungen. Wir haben viel gelacht. Wer allerdings mit einem schlechten Ergebnis aus den Untersuchungen kam, hat oft auch geweint. Die jungen Menschen, die sich für Deutschland beworben hatten, waren in der Türkei ja alle arbeitslos. Mit der Ablehnung verloren sie jede Hoffnung. Es ging bei vielen von uns ums Überleben. Ich will aber auch etwas Lustiges erzählen. Bevor ich an die Reihe kam, eilte ein Kollege auf mich zu, der gerade untersucht worden war: 'Hey, Ali! Mein Urin ist super! Willst Du was davon haben?', fragte er. Für ihn wäre das ein gutes Geschäft gewesen – 15 oder 20 türkische Lira konnte man für guten Urin bekommen.

Bei meiner Untersuchung waren eine Schwester und zwei, drei Ärzte anwesend. Ich wurde von Kopf bis Fuß untersucht: abgeklopft, abgetastet, geröntgt. Das hatte schon alles seine Ordnung so. Wenn jemand krank gewesen wäre, hätten ja die Krankenkassen in Deutschland dafür aufkommen müssen. Die Ärzte prüften meine Augen, meine Lunge, mein Herz. Eine Narbe auf meinem Bauch machte sie stutzig. Woher die Narbe stamme, wollten sie wissen. Ich wusste es nicht mehr, ich muss noch sehr klein gewesen sein, als ich sie mir zugezogen habe. Am Ende habe ich aber bestanden. Den Bescheid bekam ich eine Woche später per Post. Laut Arbeitsvertrag und Visum sollte ich zwei Jahre in Deutschland bleiben.

Was für eine Freude das war! Mein erster Gedanke war: Nun würde ich meiner Mutter, meinen Geschwistern etwas zu essen geben können. Ich bin der Älteste von uns. Meinen Vater habe ich kaum kennengelernt, er ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hat uns allein großgezogen. Sechs Geschwister! Wir besitzen kein Land, meine Geschwister hatten keine Arbeit, einer meiner Brüder ist auf einem Auge blind. Wir haben in großer Armut gelebt. Wie kann ich das beschreiben, man kann sich das hier ja nicht vorstellen. In einer Blechhütte haben wir gewohnt." Die Provinz Tunceli, in der das Heimatdorf von Ali Başar liegt, gehört bis heute zu den ärmsten Regionen des Landes und verzeichnet seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 einen kontinuierlichen Bevölkerungsschwund aufgrund von Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung. Dersim ist der alte kurdische Name der Provinz und ihrer Hauptstadt Tunceli. Die meisten Menschen in der Türkei verbinden den Namen bis heute mit dem sogenannten Aufstand von Dersim in den 30er-Jahren, bei dem sich die vornehmlich kurdisch-alevitische Bevölkerung gegen die offiziellen Bestrebungen wehrte, dem Volk der neugegründeten Republik eine türkisch-muslimische Identität aufzuerlegen. Der Aufstand wird vom türkischen Militär blutig niedergeschlagen. Bis heute finden sich die Ausgewanderten und Vertriebenen von Dersim in anderen Ländern zusammen. In Deutschland wurde 2006 die "Föderation der Dersim-Gemeinden in Europa" gegründet.

Als Anfang der 60er-Jahre die ersten Züge vom Bahnhof Istanbul-Sirkeci nach Deutschland rollen, ahnt wohl kaum jemand, dass damit Migrationsgeschichte geschrieben wird. Im Enthusiasmus, mit dem der Aufbruch der Arbeiter begleitet wird, verbirgt sich jedoch die sichere Ahnung davon, dass die Reisenden auf diesem Wege Armut, Gewalt, politischem oder sozialem Druck entkommen. Der Bahnsteig von Sirkeci verwandelt sich am Abfahrtstag zum Festplatz: Mit Jubel, Trubel und Tränen werden die Gastarbeiter der ersten Stunde von Freunden und Verwandten verabschiedet. Ali Başars Familie kann natürlich nicht aus ihrem Dorf anreisen. Aber die Studenten aus dem Istanbuler Wohnheim, in dem er zuletzt als Hausmeister gearbeitet hat, sind gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen.

"'Güle güle, Ali!' (Geh lachend), riefen sie mir zu. 'Schick uns ein Farbfoto aus Deutschland!' Es wurde gelacht, geweint, gesungen, manche haben sogar Musik gemacht. Bis Edirne an der bulgarischen Grenze ist eine Gruppe Journalisten mit uns im Zug gefahren. Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll mit uns. Wir waren ja der zweite Zug, das hat ganz schön für Aufsehen gesorgt. Vor der Grenze stiegen die Journalisten aus, und dann passierte etwas Lustiges. In Sirkeci hatte ein Mann im schicken Anzug durch ein Megafon gesagt: 'Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dem Eisernen Vorhang werden die Türen der Züge verschlossen bleiben. Bitte verlassen Sie hinter dem Eisernen Vorhang nicht mehr den Zug!' Als wir von der Türkei nach Bulgarien kamen, schauten wir also neugierig aus dem Fenster, sahen aber nichts. 'Wo ist denn nun der Vorhang aus Eisen?', fragten die Leute, 'wir können ihn ja gar nicht sehen!' Was hatten wir denn schon für eine Ahnung von der Welt da draußen!?"

Ali Başar kannte Deutschland damals nur aus den Erzählungen zweier Studenten aus dem Wohnheim, wo er vor seiner Abreise gearbeitet hatte; die beiden hatten in Deutschland studiert beziehungsweise dort ein Praktikum gemacht: Die Menschen in Deutschland hätten alle Arbeit, sie führen große Autos, das Leben sei frei und angenehm. In Ali Başars Ohren klang das noch verheißungsvoller als die Geschichten, die er seit seiner Kindheit von Istanbul gehört hatte. Anders als die meisten, die im November 1961 mit ihm im Zug sitzen, ist Ali Başar zumindest mit der Großstadt Istanbul vertraut. Die meisten anderen hatten ihre Dörfer erst wenige Wochen zuvor zum ersten Mal in ihrem Leben verlassen. Bevor Ali Başar abreist, packt er seine einzige gute Hose, ein Paar Schuhe und einige Hemden zusammen und schickt sie mit der Post zu seinem Bruder in Tunceli. Er selbst trägt seine ältesten Hosen und Schuhe, eine gef lickte Jacke, als er im November 1961 am Bahnsteig 11 des Münchner Hauptbahnhofes aus dem Zug steigt. In seinem neuen Leben würde er sich alles neu kaufen können. Am Münchner Hauptbahnhof werden Ali Başar und die mehreren hundert Mitreisenden aus der Türkei mit einem Tusch empfangen, per Megafon willkommen geheißen – und schnell in den alten Luftschutzbunker geführt.

"In einem großen Raum, einer Art Salon unterhalb des Bahnhofs, haben sie uns versammelt. Sie gaben uns Obst, frisches Brot, Käse – und Würstchen. Wir dachten natürlich, das sei Schweinefleisch und wollten es nicht essen. Die Männer schauten uns an und machten 'Muuuh!' Wir verstanden und haben die Würstchen beruhigt gegessen. Dann wurden wir eilig in Gruppen aufgeteilt – je nach Ort und Arbeitgeber. Es breitete sich Panik aus, als wir erfuhren, dass wir getrennt werden sollten und alleine weiterreisen würden. Alle riefen durcheinander: Hasan, wo gehst du hin? Mehmet, in welche Stadt fährst du? Kaum einer sah sich danach wohl je wieder. Ich wurde mit zwei anderen Männern nach Dortmund geschickt.

Auf einmal waren wir also nur noch zu dritt: Ahmet, Şükrü und ich. Wir hatten Fahrscheine, sprachen aber überhaupt kein Deutsch und waren natürlich ängstlich, als wir uns auf den Weg machten. Vor allem fürchteten wir, in die falsche Richtung zu fahren oder dass wir uns verlieren. So stiegen wir in den Zug – und staunten: Um uns herum waren überall so gut gekleidete Frauen und Männer in Nylonhemden! Das sind bestimmt Politiker, Abgeordnete, Minister, waren wir überzeugt. Alle waren so schick! Wir haben es nicht gewagt, uns in eines der Abteile zu setzen. Also haben wir die gesamte Fahrt von München nach Dortmund im Stehen verbracht.

Auf dem Bahnsteig in Dortmund erwartete uns dann ein Mann. Und was für einer! Jung, groß, toll sah er aus. 'Patron!' (Chef ), sagte er und zeigte mit dem Finger auf sich. Wir hatten also unseren Arbeitgeber gefunden. Beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes hatten wir nach der langen Fahrt Mühe, seinem schnellen Schritt zu folgen. Er setzte uns in sein Auto, einen Volkswagen. Ahmet stieg vorne ein, Şükrü und ich hinten. Bevor wir losfuhren, holte unser 'Patron' ein Päckchen aus seiner Tasche und gab Ahmet eine Zigarette. Der zog daran, kurbelte hastig das Fenster herunter und spuckte kräftig aus. Der deutsche Tabak schmeckte ihm offensichtlich nicht. Unser Patron lachte." Fast drei Jahrzehnte arbeitet Ali Başar für deutsche Unternehmen: Erst auf dem Bau, dann unter Tage, er absolviert die Schweißerschule und wird später im Reparaturbetrieb eingesetzt. Sein Kollege Manfred bringt ihm in den ersten Jahren die wichtigsten Begriffe bei: Spachtel, Meißel, Hammer, Schaufel, Hacke... In der ersten Firma dauert die Schicht acht bis zehn Stunden am Tag, in der Stunde verdienen die Arbeiter 1,90 Mark. Am Abend, wenn Ali Başar in seinen Wohncontainer kommt, den er mit zwei Kollegen teilt, ist er müde, aber lange nicht so erschöpft wie nach jenen Tagen, an denen er einst in Istanbul schwere Körbe kilometerweit durch die Stadt hatte tragen müssen. Er ist froh, in Deutschland zu sein – aber anfangs auch sehr einsam.

"In den Pausen saß ich meist alleine da, auf einem Stein. Ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor. Ich konnte mit niemandem reden, die Deutschen haben mich nicht beachtet. Bis Lorenz kam, der war anders. Er setzte sich neben mich, sprach mit mir. 'Ich: Lorenz, du: ?' – 'Ich: Ali.' So begann unsere Freundschaft. Am nächsten Tag brachte Lorenz mir von der Trinkhalle eine Sinalco mit, die er von seinem eigenen Geld für mich gekauft hatte! Ich gab ihm von meinem Brot, machte Tee für ihn. Irgendwann luden er und seine Frau Edith mich auch zu sich nach Hause ein. Die beiden haben mich aus meiner Einsamkeit befreit, sie haben mir sehr geholfen, so liebe Menschen. Wenn ich sehr traurig war, hat Lorenz mir den Arm um die Schulter gelegt und mich aufgemuntert. In Dortmund gab es damals außer Ahmet, Şükrü und mir überhaupt keine Türken.

Natürlich habe ich oft darüber nachgedacht, in die Türkei zurückzukehren, oder ich habe es mir gewünscht. Mein Plan war: Sobald ich 40.000 Mark verdient habe, verlasse ich Deutschland. Aber die Inflation in der Türkei war so groß, dass es sich überhaupt nicht gelohnt hätte, mit meinem Geld dorthin zu gehen. Ich hätte für alles nur noch die Hälfte bekommen.

Lorenz und Edith habe ich später leider nie mehr wiedergesehen. Irgendwann, nach einigen Jahren, wir wohnten schon in Duisburg, bin ich nach Dortmund gefahren, um sie zu suchen. Unter der alten Adresse waren sie nicht zu finden. Es tut mir so leid, dass wir den Kontakt verloren haben. Damals hatten aber die wenigsten von uns einen eigenen Telefonanschluss, auch die deutschen Arbeiter nicht."

Ali Başars Leben in Deutschland ist geprägt von Arbeit – und seinem Engagement für die Rechte der Arbeiter. Dass es für ihn und seine Kollegen eine Möglichkeit gibt, sich zu organisieren, und dass ihre gemeinsame Stimme auch gehört wird, ist eine einschneidende Erfahrung im Leben von Ali Başar. 1969 wird er Gewerkschaftsmitglied, besucht regelmäßig die Gewerkschaftsschule der IG Metall, organisiert Diskussionsrunden, Demonstrationen, Weihnachtsfeiern, Sommerfeste. Lange Zeit ist er der einzige Türke unter seinen deutschen Kollegen, wird aber dennoch zum Vertrauensmann gewählt, besucht Gewerkschaftsmitglieder im Krankenhaus, schlichtet Streit, malt Plakate für den 1. Mai. Sein Umfeld ist deutsch und politisch links. Dennoch begegnet er immer wieder auch Menschen, die anders denken.

"In dem Bergwerk, in dem ich gearbeitet habe, gab es einen Kollegen, Charly. 'Hey, Türke! Komm mal hier, mach mal hier fertig...', hat er immer gerufen. Einmal, in der Pause, sagte er zu mir: 'Hey, Türke, ich bin ein reinrassiger Ostpreuße. Du bist mein Sklave.' – 'Ja', antwortete ich. Ich konnte ja kaum Deutsch, hatte gar nicht verstanden, was er gesagt hatte. Zu Hause habe ich im Wörterbuch nachgeschlagen, was Sklave bedeutet. Oh, dachte ich, das ist ja etwas Schlechtes! Am nächsten Tag saßen wir wieder da, Charly sagte wieder das Gleiche zu mir. 'Hau ab, du!', rief ich und setzte mich woandershin. Meine Kollegen wollten Charlys Verhalten aber nicht akzeptieren. Sie gingen zu unserem Kolonnenführer Heinz und erzählten ihm, was Charly gesagt hatte. Daraufhin ging der Kolonnenführer zu Charly und stellte ihn zur Rede: 'Was hast du zu unserem Kumpel Ali gesagt? Wenn du so was sagst, bist du nicht mehr in unserer Kolonne!' Charly und ich wurden sogar zum Geschäftsführer gerufen. 'Charly!', sagte der Geschäftsführer. 'Wir arbeiten hier 2.000 Meter unter Tage, wir müssen zusammenhalten! Wenn du zu unserem Kumpel Ali sagst, er sei dein Sklave, bist du nicht mehr bei uns im Bergbau. Entschuldige dich bei Ali!' So war das. Vielleicht hatte ich Glück, aber ich habe wirklich sehr gute Erfahrungen gemacht mit den Deutschen.

Ich will aber meine Augen nicht verschließen. Natürlich sind auch Dinge passiert, die nicht ganz in Ordnung waren. Einige Kollegen waren nicht sehr nett zu mir, ich musste manchmal mehr arbeiten als die anderen. Aber das ist alles nicht so wichtig. Meine Arbeitgeber haben mich immer sehr gut behandelt, mich für meine Arbeit geschätzt. Das ist denen ja das Wichtigste: dass die Leistung stimmt. Manchmal hat ein Chef mich sogar in Schutz genommen, wenn Kollegen mich respektlos behandelt haben." Immer ein bisschen schneller sein als die Kollegen, damit niemand sagen kann, er sei ein schlechter Arbeiter – das hatte Ali Başar sich fest vorgenommen. Und meistens gelingt ihm das. Von seinen deutschen Kollegen bekommt er zu hören, er solle nicht so schnell arbeiten, lieber Pausen machen, so wie sie auch. Aber das führt selten zu ernsthaften Konf likten, weil Ali Başar immer wieder auch ihre Arbeiten erledigt. Dass sich seine Lage von der seiner deutschen Kollegen unterscheidet, weil sein Aufenthalt und damit sein Glück an die Arbeitsstelle geknüpft sind, stört ihn nicht. Schwierigkeiten bereiten ihm eher die eigenen Landsleute, von denen im Laufe der Jahre immer mehr nach Deutschland kommen, auch an seinen Arbeitsplatz.

"Im Bergbau fing es irgendwann an, dass türkische Kollegen mich fragten, warum ich denn nicht bete, nicht faste. Das fanden sie nicht gut. 'Wenn ich faste, kann ich aber nicht arbeiten', habe ich gesagt. 'Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich kein Geld. Wenn ich kein Geld verdiene, bleiben meine Kinder hungrig. Meiner Familie soll es gut gehen, das ist das Einzige, worum es mir geht.' Alles andere wäre in meinen Augen fanatisch. Ich weiß nicht, warum ich mein Fleisch nur von jemandem kaufen soll, der jeden Tag betet. Mir ist doch egal, wie der Mensch lebt, der das Fleisch für mich schneidet und mir verkauft. Aber der Konflikt ist bis heute geblieben: Einige, die wir seit den ersten Jahren kennen, grüßen uns nicht mehr, weil wir nicht in die Moschee oder ins Gebetshaus gehen. Das ist doch traurig.

Wir sind Kurden, Aleviten. Das ist natürlich auch wichtig für uns, aber vor allem sind wir Menschen. Welchen Glauben jemand hat, ist mir gleich; es kommt auf den Menschen an, ob er gut ist oder nicht. Nicht alle unsere Freunde sind Aleviten. Bei Begräbnissen oder ähnlichen Anlässen treffen wir natürlich die Menschen aus unserer Gemeinde, aber ansonsten sind wir mit sehr unterschiedlichen Menschen befreundet. Leider haben wir immer weniger Deutsche in unserer Nachbarschaft, sie sind alle längst aus Marxloh weggezogen. Sie haben uns allein gelassen! Ich finde das wirklich sehr schade.

Dass ich Kurde bin, wussten meine türkischen Kollegen, aber das war kein Thema. Wir haben die Konflikte aus der Türkei nicht hierher übertragen. Es gibt natürlich Fanatiker, Rassisten. Aber das sind Ausnahmen, von denen möchte ich eigentlich gar nicht reden, sie sollen uns nur in Ruhe lassen. In der Türkei gibt es keine Demokratie. Aber in meinem Alltag hier, bei der Arbeit beispielsweise, hat das zum Glück keine Rolle gespielt."

Als kleiner Junge erlebt Ali Başar, wie das türkische Militär neben vielen anderen kurdischen Siedlungen auch sein Heimatdorf räumt, brutal gegen vermeintliche Aufständische vorgeht. Die Familie flieht – und verliert so den schmalen Besitz, den sie ohnehin nur hatte. Die Lage in der Region Tunceli bleibt angespannt. Armut, Hunger, Willkür und Gewalt prägen das Leben der Menschen. Ali Başar wird als ältester Sohn der Familie im Alter von 13 Jahren zu Verwandten nach Elazığ geschickt, um Lebensmittel zu besorgen. Seine angeheiratete Tante will ihn als Viehhüter beschäftigen, sein Onkel schickt ihn zur Schule, was zu Spannungen im Hause des Onkels führt. Ali Başar möchte nicht der Grund für weitere Streitereien sein. Auf dem Weg zur Schule kommt er am Bahnhof vorbei, lässt seine Tasche dort stehen, steigt ohne Fahrkarte in den Zug – und landet in Malatya, rund 100 km südwestlich von Elazığ. Er schreibt seinem Onkel und seiner Tante einen Brief: Sie sollen sich keine Sorgen machen.

Als er nach etwa zwei Jahren in der Küche eines Hotels in Malatya 40 Lira verdient hat, steigt er wieder in den Zug, dieses Mal mit einem festen Ziel vor Augen: Istanbul. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er das Meer. Die Menschen in Istanbul sehen für ihn anders aus als dort, wo er aufgewachsen ist. Vor der Neuen Moschee am Großen Basar trifft er einen Mann mit einem Bart, der aussieht wie die Männer in seinem Dorf. "Hey, du siehst aus wie ich!", ruft der junge Ali Başar dem Mann zu. "Ich bin aus Tunceli, ich kenne hier niemanden!" Er bekommt von dem Mann einen Sesamkringel und schließlich auch einen großen Korb in die Hand gedrückt, den man auf dem Rücken trägt: Er soll den Frauen, die auf dem Markt einkaufen, die Taschen mit Obst und Gemüse nach Hause tragen. An manchen Tagen schleppt er die schweren Lasten viele Kilometer weit durch die Stadt, von Eminönü nach Beyoğlu und weiter. Nachts schläft er auf Parkbänken. Die Notunterkünfte stinken ihm zu sehr und sind dreckig. Im Winter dient ihm sein Korb als Schutz vor der Kälte. Er verkriecht sich bis zur Hälfte darin, um seinen Körper vor dem Erfrieren zu retten. An einem Tag verdient er manchmal nur 10 Kuruş, dafür kann er sich ein halbes Brot kaufen, ansonsten ist er auf Almosen angewiesen. Zehn Jahre verbringt er in Istanbul. Eine Perspektive für sein Leben wittert er erst, als er nach Deutschland geht. Der Traum, dort zu bleiben, wäre allerdings beinahe schon früh geplatzt.

"Einmal, als ich dabei war, Kies zu schaufeln, kam ein Mann auf mich zu, schick gekleidet, nahm mir die Schaufel aus der Hand und zeigte mir, wie ich das machen sollte: 'Die Schaufel ganz tief unter den Haufen schieben, voll machen und schnell abladen.' Er gab mir mein Werkzeug zurück und ging. Ich staunte einen Moment, dann lief ich empört hinter ihm her, meine Schaufel in der Luft wedelnd, und rief: 'Ey, wer bist du eigentlich, dass du mir meinen Job erklärst?!' Leider stellte sich heraus, dass der Mann unser Chef war.

In der Nacht darauf tat ich kein Auge zu: Ich war sicher, sie würden mich in die Türkei zurückschicken, alle dachten das. Was würde mich daheim erwarten? Arbeitslosigkeit, Armut, Ärger, Spott. Ich war verzweifelt. Als ich am nächsten Morgen zur Arbeit kam, sah ich meinen Chef schon von Weitem. Er lächelte mir zu! Ach, mir fiel ein Stein vom Herzen! Er würde mich nicht in die Türkei schicken. Offenbar konnte er über die Sache lachen. Da wurde mir auf einmal klar: Das ist also das Europa, von dem alle immer sprechen. Verständnisvoll und tolerant. So was hätte es in meiner Heimat nicht gegeben." Ali Başar ist 29, als er die Türkei verlässt; die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse seiner Vergangenheit verlassen ihn in Deutschland nicht. Wohl deshalb erscheinen ihm rassistische Bemerkungen, denen er in Deutschland gelegentlich begegnet, erträglich; auch Ungerechtigkeiten, die er am Arbeitsplatz erfährt. Durch sein hart erarbeitetes Geld fühlt er sich reich beschenkt. Eine Selbstverständlichkeit wird der bescheidene Wohlstand, den er im Laufe der Jahre erwirbt, für ihn nie.

"Mit 29 habe ich mir meinen ersten Anzug gekauft, ein Hemd, Schuhe und Krawatte. Zu Hause habe ich die Sachen angezogen – und mich eine halbe Stunde lang im Spiegel betrachtet. Wie schön ich aussah! Irgendwann konnte ich mir auch ein Auto kaufen, einen Opel Kapitän. 10.000 Mark hat das gekostet! Zweimal sind wir mit diesem Auto in die Türkei gefahren. Meine Mutter hatte noch nie in einem Auto gesessen. Sie konnte es gar nicht fassen, als sie uns sah, und lief aufgeregt hin und her. Zögernd stieg sie zu uns ein, hielt aber während der kurzen Fahrt die Griffe so fest umklammert, als hätte sie Angst rauszufallen. Die Hupe liebte sie allerdings sofort sehr! Alle im Dorf waren sehr beeindruckt. Sie sagten 'Ali Bey' (Herr Ali) zu mir, anstatt mich einfach beim Vornamen zu nennen. Das hat mir aber nicht gefallen. Ich habe zu ihnen gesagt: 'Nennt mich nicht Bey. Ich bin Arbeiter! So wie ihr!' Manche waren wohl neidisch, andere fühlten sich klein, jedenfalls war ich nicht mehr einfach einer von ihnen. Deshalb bin ich danach nie wieder mit dem Auto in mein Dorf gefahren. Beim nächsten Mal parkte ich mein Auto in Elazığ und fuhr mit dem Bus in mein Dorf. Alle fragten mich: 'Aber Ali, wo ist denn das Auto?' – Und ich sagte: 'Kein Auto. ICH bin gekommen – Ali.' Bei diesem Besuch war dann alles wieder normal.

In Deutschland lebten wir allerdings viele Jahre mit einem schlechten Gewissen, weil es uns hier so gut ging, wir ein friedliches Leben führen konnten. Wir konnten unseren Verwandten zwar Geld und andere Dinge schicken, aber was ist das schon, wenn dort Bomben gelegt werden?

Die Armut, die ich in der Türkei erlebt habe, hat mich zur Dankbarkeit erzogen. Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich hierher nach Deutschland, das Gefühl habe ich nie verloren. In Deutschland habe ich meinen Beruf erlernt, Geld verdient, ein Auto gekauft, eine Familie gegründet. Das ist für mich ein großes Geschenk. Die Wohnung, in der ich heute lebe, ist für mich ein Paradies. Wenn etwas zu essen auf dem Tisch steht, ist das für mich immer noch wunderbar, jeden Tag. Wir sind Deutschland in einer Art Dankbarkeit verbunden, und ich verstehe nicht, wie das jemand anders sehen kann. Wir hätten in der Türkei wahrscheinlich nicht überlebt. Deutschland hat mir das Leben gerettet, so würde ich das sagen, und es ist eine Heimat für uns geworden.

Unsere ganze Familie hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, aber erst seit Anfang der 90er-Jahre. Als wir mit unseren deutschen Pässen in die Türkei fuhren, fragte uns einmal ein Grenzbeamter: 'In der Türkei hat es euch wohl nicht gefallen!?' Nun ja. Das würde ich so nie sagen. Als ich den deutschen Pass in den Händen hielt, war ich froh und traurig zugleich. Traurig, weil wir in all den Jahren nicht die Möglichkeit hatten, in die Türkei zurückzugehen. Und froh, dass wir im Türkischen Konsulat nicht mehr Schlange stehen mussten. Ich lebe nun seit fünfzig Jahren in diesem Land, viel länger, als ich in der Türkei gelebt habe. Unsere drei Kinder sind hier zur Welt gekommen, inzwischen haben wir vier Enkelkinder. Wir sind eine multikulturelle Familie – mit einer spanischen Schwiegertochter, einem deutschen und einem irischen Schwiegersohn.

Manchmal sage ich auch: Das Leben hat mir meine Bildung verpasst. In der Türkei habe ich die Schule des Lebens in Armut absolviert. Mein Arbeitsleben in Deutschland glich einem Studium. Ich habe gelernt, dass man für alles, was man bekommt, dankbar sein muss und anderen Menschen mit Respekt begegnet. Ich habe gelernt, dass man sich für seine Rechte einsetzen kann. Jetzt bin ich Rentner und schreibe, wenn man so will, an meiner Doktorarbeit – und erzähle anderen von meinen Erfahrungen."

Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der bpb-Publikation Auf Zeit. Für immer., Oktober 2011.

Fussnoten

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