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Strategien und Waffen im industrialisierten Krieg

Dr. Bernd Ulrich

/ 8 Minuten zu lesen

"Feuerwalze" und "Trommelfeuer" stehen als Begriffe sinnbildlich für die neue, industrialisierte Kriegsführung im Ersten Weltkrieg. Dazu kamen Flammenwerfer und Giftgas. Der Mensch griff nicht mehr nur den Menschen an, sondern auch seine direkte Umwelt. Vor allem das Gas gab dem Krieg eine brutale, völlig neue Qualität.

An der Westfront 1917: Deutsche Soldaten und ein Maultier mit Gasmasken. (© picture-alliance/akg)

Am 3.Dezember 1914 notierte der Schriftsteller und Anarchist Erich Mühsam in seinem Tagebuch: "Die Österreicher in Galizien und den Karpathen in Bedrängnis, die Deutschen in Polen in zuversichtlicher Position, in Frankreich alles beim Alten: Entscheidungslose Blutströme." Mühsam konnte nicht ahnen, in welchem Ausmaß sein Wort von den "entscheidungslosen Blutströmen" nicht allein die Phase des Bewegungskrieges, sondern auch die noch kommenden Jahre der Materialschlachten charakterisieren würde. Um sie vor allem soll es im Folgenden gehen.

Vom Bewegungs- zum Stellungskrieg

Gefallener deutscher Soldat an der Westfront im September 1918. (© picture-alliance / Mary Evans/Ro)

Tatsächlich wurde kurz vor Mühsams Tagebucheintrag Mitte November 1914 die enorm verlustreiche erste Flandernschlacht abgebrochen, nachdem bereits im September an der Marne ("Wunder an der Marne") das Scheitern des deutschen Operationsplans offenbar geworden war. Dies geschah weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit. Angesichts der Kriegsentwicklung an der Ostfront, vor allem aber aufgrund des spürbaren Munitionsmangels, der völligen Erschöpfung der Fronttruppe und des überraschend früh einsetzenden Winters, ordnete die 2. Oberste Heeresleitung (OHL) unter Erich von Falkenhayn auf Befehl des Kaisers mit Ende November 1914 das vorläufige Ende der Offensive an. Der Vorgänger von Falkenhayns, Helmuth von Moltke (der Jüngere), hatte nach der Niederlage an der Marne einen "Nervenzusammenbruch" erlitten und war faktisch seit dem 14. September außer Dienst.

Die Ostfront 1915 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr)

In seinen "Allgemeinen Bemerkungen" über den nun umfassend einsetzenden Stellungskrieg (vom 25.11.1914) befahl v. Falkenhayn, was auch die britischen und französischen Kommandeure anordneten, nämlich "die gewonnene Linie unbedingt zu halten". Die militärische Führung wies die Truppe überdies darauf hin, dass "zunächst die vordersten Linien mit allen Mitteln weiter zu befestigen" seien sowie - gegen den Widerstand vieler im Geiste der Offensive erzogenen Offiziere - "gleichzeitig" den "Ausbau rückwärtiger Stellungen" zu betreiben, um eventuell durchbrechende Angriffe des Feindes aufzuhalten. Dennoch betrachtete die militärische Führung zu diesem Zeitpunkt den Bau von Schützengräben als bloß vorläufig und sprach ihm "für die nächste Zeit den Charakter von Gefechtswinterquartieren" zu. "Es wird aber auch hier wiederholt", heißt es abschließend in den "Allgemeinen Bemerkungen" zum Stellungskrieg, "daß in diesen Winterquartieren der Wille, vorwärts zu kommen, unter keinen Umständen einschlafen darf".

Zwar standen zum Jahreswechsel 1914/15 die deutschen Truppen im Osten – wo große, aber nicht kriegsentscheidende Siege zu verzeichnen waren – und im Westen auf "Feindesland". Aber von nun an beherrschte der Stellungskrieg vor allem an der deutschen Westfront das Geschehen, während er an der Ostfront erst nach einer längeren Phase des Bewegungskrieges begann und auch dann immer wieder von raumgreifenden Offensiven unterbrochen wurde.

QuellentextAus dem Feldpostbrief eines Infanteristen über die Schlacht bei Verdun am 2.7.1916:

"In der Stellung angekommen legten wir uns todmüde in Gra­natlöcher - von Schützengräben oder gar Unterständen keine Rede; das Gebiet war ja erst vor zwei Tagen erstürmt, dort lagen wir vier Tage lang zuerst ganz naß und 1/2 Meter tief im Dreck - ein Trommelfeuer ging auf uns los, dass es einem von einem Loch ins andere riß; die Schmer­zensrufe und das Gestöhne der Verwundeten die elend zu Grunde gehen müssen; [...] - an ein Zurücktragen ist nicht zu denken. Tag und Nacht Granatfeuer - oft daß es in der Sekunde 10-20 Geschosse heranhagelte, uns verschüttete und wieder auf­grub. Unser Leutnant hat geweint wie ein Kind; ja wie sie da lagen, ein Fuß weg - Arme weg, ganz zerfetzt. Gott, das war furchtbar. [...] Ihr könnt Euch keine Vor­stellung von diesem Schrecken machen und niemand, ders nicht mitgemacht. [...]"

Aus: Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008, S. 64.

Die Schlacht um Verdun 1916 (© Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr)

Im Westen änderte sich hingegen bis zum Frühjahr 1918 an der rund 700 Kilometer langen, zwischen Schweizer Grenze und belgischer Nordseeküste verlaufenden Front kaum etwas. Fünfzig bis zu achthundert Meter betrug im Allgemeinen die Entfernung zwischen den feindlichen Gräben, die mit zunehmender Dauer des Krieges zu ganzen Grabensystemen ausgebaut werden sollten und nach hinten durch Auffangstellungen, Versorgungs- und Ruhezonen ergänzt wurden, um schließlich in das Etappengebiet überzugehen. Angriff und Gegenangriff bestimmten an einigen Frontabschnitten die Tage. Ganze Divisionen, so die bald dem industriellen Abnutzungskrieg angepasste Sprachregelung, "brannten" um kleinerer Geländegewinne willen "bis zur Schlacke aus". Die Westfront wurde zum Inbegriff des Weltkriegs. Die damit verbundenen Erfahrungen der Überlebenden prägten ihren Alltag und ihre Erinnerungen über den Krieg hinaus.

Trommelfeuer und "Feuerwalze"

Französisches 400mm-Artilleriegeschütz in der Schlacht an der Somme, Juni 1916. (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)

Für die militärischer Führung galt es indessen als unabdingbar, den Krieg an ausgesuchten Abschnitten wieder in Bewegung bringen zu müssen, um einen Durchbruch durch das feindliche, untereinander verbundene Grabensystem und damit Raumgewinne zu erzielen. Der vermehrt angewandte Dauerbeschuss mit Granaten aller Kaliber (Trommelfeuer) und der anschließende Infanterieangriff galten als probates Mittel. Sie sind bis heute der Inbegriff des von industriellen und menschlichen Ressourcen abhängigen Materialkrieges. Schon im Jahr 1915, mit Beginn der Winterschlacht in der Champagne, begann dieses Angriffsverfahren Realität zu werden. Vor allem aber verbindet es sich mit den Schlachten um Verdun (Februar bis Dezember 1916), an der Somme (Juli bis Dezember 1916) und mit der dritten Flandernschlacht (Juli bis November 1917). Nach mitunter monatelanger logistischer Vorbereitung – Anlegen von Munitionslagern, Bau von Anfahrtswegen für den Munitionstransport und die Geschütze, möglichst unbemerkte Massierung von Truppen – begann das Trommelfeuer, das zunächst Stunden, schließlich tagelang mit wechselnden Geschützen und Bedienungsmannschaften anhalten konnte.

In dem mit rund 3.000 Geschützen durchgeführten, zehntägigen Trommelfeuer der 3. Flandernschlacht verschoss die Artillerie ca. vier Millionen Granaten. Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass in den Phasen der Materialschlachten Artilleriegeschosse und die durch sie verursachte Splitterwirkung für bis zu 80 Prozent aller oft tödlichen Wunden verantwortlich waren. Freilich blieben die angesichts solchen Materialaufwandes kurz darauf unter hohen Verlusten errungenen Raumgewinne minimal und gingen oft schnell wieder verloren. Bereits ein oder zwei intakte, gut getarnte und geschützte Maschinengewehrnester konnten ganze Regimenter aufhalten oder vernichten.

1917: Deutsche Soldaten üben bei Sedan den Umgang mit Flammenwerfen. (© picture-alliance/akg)

Eine besondere Weiterentwicklung der Angriffstaktik stellte die eingesetzte "Feuerwalze" dar, die bereits Ende 1914 eingeübt und dann in den großen Materialschlachten des Jahres 1915 immer mehr verfeinert worden war und 1916 auch an der Ostfront zum Einsatz kam: Der Artilleriebeschuss wurde dabei in zeitlich genau festgelegten Abständen räumlich vorgeschoben, während gleichzeitig die Infanterie hinter dieser Feuerwand vorrückend an die feindlichen Gräben herangeführt wurde, um sie zu erobern. Doch brachte dieses Vorgehen ebenso wenig den erhofften durchschlagenden Erfolg wie unterirdische Minensprengungen. Dabei wurden Stollen unter die feindlichen Gräben vorangetrieben, mit Sprengstoff gefüllt und kurz vor einem geplanten Angriff in die Luft gejagt. Zurück blieben riesige Sprengtrichter, und, sofern die Erdarbeiten nicht zuvor erkannt worden waren, eine große Zahl von Toten und Verletzten. Flammenwerfer waren schon vor dem Krieg von einem Berliner Ingenieur und Feuerwehrmann entwickelt und in größerer Zahl erstmals in der Schlacht um Verdun eingesetzt worden. Sie sollten der Überwindung feindlicher Stellungen ebenso dienen wie der Einsatz von Giftgas.

QuellentextSchilderung eines typischen Sturmangriffs des Jahres 1915 aus dem dokumentarischen Roman "Heeresbericht“ von Edlef Köppen

Die französische Infanterie rückt hinter einer Feuerwalze ihrer Artillerie auf deutsche Stellungen in der Nähe der französischen Ortschaft Loos (im Artois) vor, das sich während der Herbstschlacht ab 22. September 1915 zeitweilig im Zentrum der Kämpfe befand. Nach Abbruch der Offensive ohne größere Geländegewinne waren auf Seiten der Angreifer rund 170.000 Tote, Verwundete und Vermisste zu verzeichnen, auf Seiten der ihre Stellungen haltenden Deutschen über 50.000 Tote, Verwundete und Vermisste. Der Protagonist des Romans heißt Adolf Reisiger, ist Student und Kriegsfreiwilliger und dient – wie Edlef Köppen selbst – vier Jahre lang in einem Feldartillerieregiment, zunächst als einfacher Kanonier und schließlich als Leutnant der Reserve. In der folgenden Szene ist er als Artilleriebeobachter der Infanterie im vordersten Graben zugeteilt und beobachtet das Geschehen:
"Das feindliche Feuer verdichtete sich. Die Schüsse trommelten auf den Graben. Die Einschläge drängten sich zum unaufhörlichen Donner zusammen. Der Kalk flog hoch, Bretter, Baumstämme wurden gegen den Himmel geschleudert. Neben Reisiger standen fünf Infanterieposten, reglos, Gewehr im Anschlag. Sie rückten plötzlich zusammen. Eine Gruppe erschien im Laufschritt vom Tunnel her. Ein Maschinengewehr wurde in Stellung gebracht. Die Bedienung zwängte sich zwischen den Stämmen der Barrikade hindurch, wühlte schwarzen Dreck nach hinten, schob das M.G. an die Mulde. (…) Plötzlich wurde die brüllende Rauchwalze (des gegnerischen Trommelfeuers) vom Graben abgehoben. Der Feind zog sie zurück bis an die eigene Stellung. Im gleichen Augenblick sprang ein Feldwebel auf Reisiger los: ´Der Feind greift an. Artillerie Schnellfeuer!` (…) Reisiger nahm automatisch das Telephon, wiederholte die Worte des Feldwebels. Als er den Hörer auflegte, hackten schon überall wie bissige Hunde die Aufschläge der eigenen Batterien in die Rauchwalze des Feindes. (…) Die Rauchwalze begann zu wandern, rückte wieder auf den deutschen Graben vor. Und jedesmal, wenn sie aufsprang, sah Reisiger hinter ihr laufende Menschen. Der Feind! Das ist der Feind! Er drängte sich gegen die M.G.-Besatzung: ´Da – Franzosen!`- Die Antwort, verbissen: ´Rankommen lassen …`. (…) Wie der letzte Rauch sich vom Boden gelöst hat, steht und liegt und kniet und kriecht und läuft und springt, graue lebendige Masse, der Feind. Und stürmt, Handgranaten hochgeschwungen, das Bajonett gereckt, gegen den Graben vor. Da kläfft das Maschinengewehr neben Reisiger los. Da prasselt neben ihm Schnellfeuer aller Gewehre. Herrgott, was geschieht! Dutzende von Franzosen werfen die Arme hoch und fallen rücklings zur Erde. Aber andere Dutzende dicht geballt drängen weiter vorwärts. (…) Am Maschinengewehr schreit man durcheinander. Reisiger begreift kein Wort. Manchmal lachen die Schützen, der Gewehrführer (des Maschinengewehrs) zeigt ein neues Ziel, eine triumphiert: ´Die Aasbande steht nicht wieder auf`. Doch, doch, die Franzosen sind ja schon im Graben! Reisiger sieht, wie fünf von ihnen (…) über die Brustwehr springen. (…) Um eine Brustwehr streicht ein französischer Offizier. Die aufgerissenen Augen! Der aufgerissene Mund! Da stürzt sich ein Deutscher auf ihn. Der Offizier dreht den Gewehrkolben hoch. Ehe er zuschlagen konnte, packt der Deutsche einen kurzen Spaten, haut: mit gespaltenem Kopf rollt der Franzose nach hinten. Zwischen den Gräben tanzt das deutsche Artilleriefeuer. Aber dort ist kein Feind mehr. Dort werden nur die Toten zum zweitenmal getötet, in die Luft geschleudert, zerquetscht. (…) Als Reisiger abgelöst wurde, hörte er, daß die Kompagnie vor seinem Abschnitt wenig Verluste hat. ´Nur elf Tote.` (…) Aber er hatte den ersten von diesen elf Mann angesehen. Das war ein älterer Soldat mit einem Vollbart, auf der rechten Hand einen Trauring. Das begriff Reisiger nicht."

Aus: Edlef Köppen, Heeresbericht. Mit einem Nachwort von Michael Gollbach, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 79 – 81.

"Gas!"

Die neuen technischen Möglichkeiten veränderten den Krieg massiv: Zwei deutsche Soldaten mit Maschinengewehr und Gasmasken im Stellungskrieg, 1918. (© picture-alliance/akg)

Der erste große Gaseinsatz erfolgte am 22. April 1915 bei Ypern durch deutsche Truppen. Am Morgen dieses Tages setzte das deutsche Trommelfeuer ein. Es konzentrierte sich auf ein Gebiet in Westflandern, nördlich der belgischen Stadt Ypern. Erst am späteren Nachmittag ließ das Feuer allmählich nach, sicheres Zeichen für die hier liegenden französischen und algerischen Soldaten, dass der deutsche Angriff unmittelbar bevorstand. Aber statt deutscher Infanteristen wurde gegen achtzehn Uhr eine gelbgrüne Wolke sichtbar. In einer Breite von fast sechs Kilometern bewegte sie sich langsam, aber stetig mit dem Wind auf die französischen Gräben zu. Es handelte sich um Chlorgas, abgelassen aus über 5.000 Stahlflaschen, die ein spezielles Gasbataillon Tage zuvor eingegraben hatte. Ersonnen worden war dieser erste große Giftgaseinsatz von Fritz Haber, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Physikalische Chemie in Berlin. Das von ihm empfohlene Gas verätzte die Luftröhre und Lunge. Es war ein Gefühl, so ein Überlebender, als "kotze man seine Lunge stückweise aus". Eine Wirkung, die durch Beimischung von Phosgen noch verstärkt werden konnte. Fast 1.200 alliierte Soldaten sterben an diesem Tag daran, 3.000 Männer überleben und bleiben mitunter ihr Leben lang geschädigt.

Man muss nicht so weit gehen wie der Kulturphilosoph Peter Sloterdijk, der kürzlich den 22. April 1915 ein "Zentraldatum der jüngeren Weltgeschichte" nannte. "Mit dem Ereignis von Ypern" sei "der Terrorismus als Element des staatlichen Normalkrieges eingeführt worden", weil "sich die Umstellung vom direkten Angriff auf den Feind zum Angriff auf die Umwelt des Feindes, auf seine Atemluft" vollzogen hatte. Kriegsentscheidend war die am 22. April 1915 beginnende chemische Kriegführung jedenfalls nicht. Geschätzte 90.000 Tote auf allen Seiten durch etwa 115.000 Tonnen abgelassene oder verschossene Giftgase waren in der nach Millionen zählenden Todesbilanz vernachlässigbar. Aber die so unheimliche wie demoralisierende Wirkung der Gase verdeutlichte mehr als andere Waffen den radikal neuen Charakter des Maschinenkrieges, der Menschen zu Ungeziefer degradierte.

Die starke Abhängigkeit von der Windrichtung und die mögliche Gefährdung eigener Truppen lenkte das militärische Interesse bald auf die Entwicklung gasgefüllter Artilleriemunition - und immer gefährlichere Gifte. Die sogenannten "Grünkreuz"-Gase etwa waren als Lungengifte für etwa 80 Prozent aller tödlichen Gasverletzungen verantwortlich. Von der deutschen Armee wurden im Juli 1917 zudem erstmals "Blaukreuz"-Kampfgase verschossen. Diese Gifte - im Militärjargon auch "Maskenbrecher" genannt - durchdrangen die damals üblichen Gasmaskenfilter, reizten Augen, Nase und Mundschleimhaut und erzwangen das Abreißen der Gasmaske. Unmittelbar darauf wurde dann ein todbringendes Gas verschossen, das sogenannte "Buntschießen".

Quellentext"Dulce et decorum est“: eines der herausragenden Werke des bekannten Kriegslyrikers Wilfried Owen in seiner Urfassung von 1917

Wilfried Owen (1893 – 1918) gehört zu den bekanntesten Kriegslyrikern des Ersten Weltkriegs. In dem 1917 entstandenen Gedicht "Dulce et decorum est“ konterkariert Owen in lyrisch-sarkastischer Sprache die damals in allen Nationen bekannte Sentenz des römischen Dichters Horaz (65 v. Chr. – 8 v.Chr.) aus seiner zweiten Römer-Ode (Dulce et decorum est pro patria mori), indem er einen Gasangriff an der Westfront und dessen Folgen beschreibt. Die letzte Strophe lautet:

"If in some smothering dreams you too could pace
Behind the wagon that we flung him in,
And watch the white eyes writhing in his face,
His hanging face, like a devil's sick of sin;
If you could hear, at every jolt, the blood
Come gargling from the froth-corrupted lungs,
Obscene as cancer, bitter as the cud
Of vile, incurable sores on innocent tongues,--
My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori."

"Wenn auch Du in einem Deiner erstickenden Träume
hinter dem Karren gehen könntest, in den wir ihn geworfen haben
und die weißen Augen anschaust, die in seinem Gesicht zucken,
seinem hängenden Gesicht, das dem eines sündemüden Teufels gleicht;
wenn Du ihn hören könntest, wie bei jedem Stoß das Blut
gurgelnd aus seinen schaumverdorbenen Lungen kommt
obszön wie Krebs, bitter wie Galle,
unheilbar, infame Übel auf unschuldigen Zungen, --
Mein Freund, Du würdest nicht mit so viel Begeisterung
den nach verzweifeltem Ruhm gierigen Kindern
die alte Lüge zurufen: Dulce et decorum est
Pro patria mori.“

Übersetzung B. Ulrich

Das Gedicht und weitere Informationen unter: Externer Link: http://www.oucs.ox.ac.uk/ww1lit/education/tutorials/manuscript/owen/backgrnd.html, und http://www.warpoetry.co.uk/owen1.html

Neue Kampfverfahren

Gefallene britische Soldaten an der Westfront, undatierte Aufnahme. (© picture-alliance/akg)

Am Ende waren es neue Kampf- und Schießverfahren, die auf deutscher Seite, erprobt bereits in der erfolgreichen 12. und letzten Isonzo-Schlacht (24.-27. Oktober 1917) an der österreichisch-italienischen Gebirgskriegsfront, vor allem in den letzten Offensiven ab März 1918 ("Michael") zu Anfangserfolgen führten. Ohne große - und daher immer auch verräterische - Vorbereitungen erfolgte auf zuvor ausgekundschaftete, schwach besetzte oder schlecht gesicherte feindliche Gräben und die dahinter positionierten feindlichen Geschütze ein so massiver wie kurzer Artillerieschlag. In dessen Schutz sammelten sich kleine, speziell ausgebildete und mit leichten Maschinengewehren, Granat-und Flammenwerfern, geballten Ladungen (z.B. mehrere aneinander gebundene Handgranaten) und ersten Maschinenpistolen ausgerüstete Sturm- oder Stoßtrupps. Sie griffen sofort nach dem Ende des Artillerieüberfalls und unter Umgehung von noch intakten feindlichen MG-Stellungen an und "säuberten", das heißt, töteten die noch verbliebenen Grabenbesatzungen, die oft schon durch den massiven und überraschenden Artillerieschlag demoralisiert worden waren. In die dadurch geschaffene Lücke in der gegnerischen Front sollten dann 'normale' Infanterie- und Artillerieeinheiten "einsickern" und weiter vorstoßen.

Zunächst konnten mit diesem Verfahren überraschende Durchbrüche von bis zu 80 Kilometer Tiefe erzielt werden. Doch geländebedingte Nachschubprobleme, hohe Verluste und die immer stärker spürbare Überlegenheit der nun durch amerikanische Verbände gestärkten Alliierten besiegelten die absehbare Niederlage. Auch die ab Juli 1918 grassierende Grippe-Epidemie belastete die sowieso schon erschöpfte und ausgehungerte Truppe - Angriffsdivisionen hatten sich in eroberten alliierten Lebensmitteldepots regelrecht "festgefressen".

QuellentextDer Arzt Ernst Simmel über "Kriegszitterer" und "Kriegsschüttler"

Der Arzt und Psychoanalytiker Ernst Simmel arbeitete während des Ersten Weltkriegs u.a. ab 1917 als Oberarzt im Festungslazaretts in Posen. Auf dem V. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest 1918 – an dem auch Sigmund Freud, in der Uniform eines österreichisch-ungarischen Militärarztes teilnahm – hielt er ein Korreferat über die "Psychoanalyse der Kriegsneurosen", in dem er erläuterte, wie er den bald im Volksmund "Kriegszitterern" oder "Kriegsschüttlern" genannten Soldaten durch Hypnose zu helfen versuchte. Dabei findet er auch erhellende Worte für die Gründe der Erkrankung:

"Man muß die Kriegsereignisse selbst oder ihre Rekapitulation in der (...) Hypnose miterlebt haben, um zu verstehen, welchen Anstürmen das Seelenleben eines Menschen ausgesetzt ist, der nach mehrfacher Verwundung wieder ins Feld muß, bei wichtigen Familienereignissen von den Seinen auf unabsehbare Zeit getrennt ist, sich unrettbar dem Mordungetüm eines Tanks oder einer sich heranwälzenden feindlichen Gaswelle ausgesetzt sieht, der durch Granattreffer verschüttet und verwundet, oft stunden- und tagelang unter blutigen, zerrissenen Freundesleichen liegt und nicht zuletzt der, dessen Selbstgefühl schwer verletzt ist durch ungerechte, grausame, selbst komplexbeherrschte Vorgesetzte, und der doch still sein, sich selbst stumm niederdrücken lassen muß von der Tatsache, daß er als einzelner nichts gilt und nur ein unwesentlicher Bestandteil der Masse ist."

Aus: Ernst Simmel, Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1993, S. 21-35, S. 23.

Dies verhinderte indessen nicht, dass aus den Stoßtruppsoldaten der letzten Monate nach dem Krieg jene "Siegfriednaturen" hervorgingen, die der Krieg angeblich nicht zu zerstören vermochte, die dem Materialkrieg als dessen "Bezwinger" getrotzt hatten. Bereits während des Krieges entstanden um den willensstarken, hochmotivierten, stahlhelmbewehrten Stoßtruppsoldaten ein eigener Mythos und eine eigene Ikonographie.

Die Alliierten setzten hingegen zunehmend auf Panzer (Tanks), die seit 1916 entwickelt und eingesetzt wurden. Sie waren zunächst noch gegenüber Flammenwerfern, Handgranaten sowie eigens entwickelten Geschützen und Tankgewehren hochgradig verwundbar und zugleich störungsanfällig. Doch konnten sie im Grabenkrieg bald Erfolge erzielen, weil sie Sperren niederwalzen, Gräben überwinden und Schutz für den Vormarsch zu bieten vermochten. Der strategisch entscheidende Durchbruch durch die deutsche Front am 8. August 1918 wurde mit Unterstützung von mehr als 400 Panzern erreicht.

Ausgewählte Literatur:

Tony Asworth, Trench Warfare 1914-1918. The Live and Let Live System, London 1980.

Jean-Jacques Becker, Gerd Krumeich, Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Essen 2010.

Dies. (Hg.), "Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…" Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a.M. 1996.

Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998.

Eric J. Leed, No Man’s Land. Combat and Identity in World War I, Cambridge u. New York 1979.

Jochen Oltmer (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn u.a. 2006.

Rolf Spilker, Bernd Ulrich (Hg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918,  Bramsche 1998.

Hew Strachan, Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München 2004.

Jacques Tardi, Jean-Pierre Verney, Elender Krieg, Bd. 1 1914-1915-1916, Zürich 2009; Bd.2 1917-1918-1919, Zürich 2010 (Comic).

Bernd Ulrich, Benjamin Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein Historisches Lesebuch, Essen 2008.

Dies. (Hg.), Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1997.

Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914 – 1933, Essen 1997.
Online abrufbar unter: Externer Link: http://www.erster-weltkrieg.clio-online.de/default.aspx?tabid=40208182

Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997.

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Dr. Bernd Ulrich, geb. 1956, ist selbstständiger Historiker und als Publizist, (Rundfunk-) Autor und Kurator tätig. Eine Übersicht seiner Arbeiten bietet: Externer Link: www.berndulrich.com.