Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

"Die Vergangenheit ändert und ändert sich" | Die Wohnung | bpb.de

Die Wohnung Der Film Ihr Freund, der Feind "Die Vergangenheit ändert und ändert sich" "Die Akteure im Rahmen ihres damaligen Horizontes wahrnehmen" Das Haavara-Transfer-Abkommen Die Artikelserie "Ein Nazi fährt nach Palästina" Familiengedächtnis und NS-Vergangenheit in Deutschland Erinnerungskulturen in Israel - Eine Generationenfrage Susanne Lehmanns letzter Brief Arbeitsblatt und Unterrichtsvorschläge Redaktion

"Die Vergangenheit ändert und ändert sich" Ein Gespräch mit dem Regisseur Arnon Goldfinger über die Entstehungsgeschichte von "Die Wohnung"

Oliver Kaever

/ 4 Minuten zu lesen

Im Interview auf fluter.de erzählt der Regisseur Arnon Goldfinger, wie ihn die Entdeckung seiner Familienvergangenheit auf eine unerwartete Reise führte und dabei ein Film entstand.

Arnon Goldfinger (© Tali Goldfinger / zero one film)

Oliver Kaever: Als Sie mit den Dreharbeiten begannen, konnten Sie nicht ahnen, auf welche unglaubliche Geschichte Sie in der Wohnung ihrer Großmutter stoßen würden …

Arnon Goldfinger: Nein, und ich hatte nicht vor, ein so großes Filmprojekt zu stemmen. Im Gegenteil: Nachdem mich mein erster Langfilm vier Jahre Arbeit gekostet hatte, lehnte ich lange alle Angebote ab. In der Wohnung meiner Großmutter wollte ich nur eine Stimmung einfangen: Diese deutsche Welt, die sie dort konserviert hatte, die aber ohne sie schnell zerfallen würde. Es sollte ein kurzer Film werden, ohne großen Aufwand. Ich wusste nicht, wohin mich diese Idee führen würde.

Das spürt das Publikum. Es ist, als ginge man mit Ihnen zusammen auf eine unerwartete Reise in die Vergangenheit.

Wir wollten mit dem Film so nah wie möglich an den Entwicklungen bleiben, die sich in der Realität ergaben. Deshalb spiele ich selbst auch eine so große Rolle, obwohl mich das während der Dreharbeiten in Schwierigkeiten brachte.

Sie mussten die kreative Kontrolle über die Kamera abgeben, weil Sie selbst mit im Bild waren.

Genau, und ich bin ein gutes Beispiel für einen Jecke, einen deutschen Juden: Ich gehe systematisch und überlegt vor, gebe die Kontrolle ungern ab. Insofern musste ich fortwährend mit mir selbst kämpfen. Aber das passte gut zu diesem Film, denn ich wollte offen bleiben für alles, was geschah. Ich musste auf eine innere Reise gehen.

War Ihnen immer klar, dass Sie mit dem Film weitermachen würden, als Sie die ersten Hinweise auf das Geheimnis ihrer Großeltern fanden?

In meinem Kopf stritten sich der Dokumentarfilmer und das Familienmitglied. In der Tat war ich nach der Entdeckung der Freundschaft meiner Großeltern mit den von Mildensteins schockiert. Mein Motto leitete mich vom Anfang der Dreharbeiten an: Was können wir aus den Dingen lernen, die Menschen zurücklassen?

(© Salzgeber)

Sie führten die Dreharbeiten fort, ohne zu wissen, wo sie enden würden?

Ja, ständig wurden die Karten neu gemischt, immer wieder musste ich mein Konzept über Bord werfen und neu anfangen. Das war hart, aber auch sehr spannend für meine Entwicklung als Filmemacher. Ich konnte mit keiner vorgefassten Meinung arbeiten. Mein Film stellt viele Stereotypen über Nazis und deutsche Juden infrage, Stereotypen, die ich selbst verinnerlicht hatte.

Teile Ihrer Familie reagierten desinteressiert bis ablehnend auf Ihr Projekt. Stehen sie stellvertretend für einen Part der jüdisch-israelischen Gesellschaft, der sich nicht mehr so intensiv mit dem Holocaust auseinandersetzen will?

Meine vier Geschwister waren tatsächlich nicht an meinen Recherchen interessiert, aber sie respektierten mein Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen. Und ja, meine Generation hat genug vom Holocaust. Natürlich ist unsere Geschichte immer und überall präsent, und sie schweißt die Gesellschaft bis heute zusammen. Aber im alltäglichen Leben wollen die Menschen nach vorn und nicht zurück blicken.

Mit Ihrem Film holen Sie zurück ins Bewusstsein, dass unter Hitler Deutsche andere Deutsche ermordeten oder vertrieben, die sich selbst erst in zweiter Linie als Juden sahen.

Absolut! So habe ich meine Großeltern immer gesehen: Sie waren Deutsche, die in Israel lebten. Und sie blieben Deutsche, obwohl sie hier viel längere Zeit zubrachten als dort. Aber sie konservierten die deutsche Kultur, die Sprache, das Essen. Mich hat das stark geprägt, ich war bei Fußball-Weltmeisterschaften als einziger meiner Freunde immer für Deutschland.

Die letzte Szene hebt die Geschichte Ihrer Großeltern noch einmal auf eine andere, eine metaphorische Ebene. Da sieht man Sie und Ihre Mutter, wie Sie in Berlin auf einem Friedhof das Grab eines Verwandten suchen und es nicht finden. Sie scheinen zu sagen: Alles rinnt uns durch die Finger, so wie die vielen Gegenstände in der Wohnung der Großmutter ohne ihre Gegenwart in die Nutzlosigkeit fallen.

Die Vorgänge, die wir auf der Leinwand sehen, sind real. Als wir die Szene drehten, konnten wir nicht ahnen, welche Wichtigkeit sie bekommen würde. Wir wollten den Dreh sogar absagen, weil es in Strömen regnete. Wir konnten nicht ahnen, dass wir das Grab nicht finden und mit unseren Händen im Gestrüpp danach tasten würden. Erst im Kontext des Schnitts erkannte ich die Bedeutung dieser Sequenz. Ich muss dabei an eine populäre Geschichtssendung im israelischen Radio denken, die immer mit einem Slogan begann: Die Zukunft kennen wir nicht; die Gegenwart geschieht jetzt; und die Vergangenheit ändert und ändert sich. Das ist der Punkt: Selbst wenn wir viele oder sogar alle Details einer Geschichte kennen – welche Bedeutung hat sie? Diese Frage werden wir nie abschließend beantworten können.

Das Interview führte Oliver Kaever. Es wurde am 14.06.2012 erstmals auf Externer Link: www.fluter.de veröffentlicht.

Fussnoten

Journalist mit Spezialisierung im Bereich Film, TV, Medien, Unterhaltung.