Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kriegsziele der Alliierten | Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg | bpb.de

Nationalsozialismus Untergang der Republik Vom Kaiserreich zur Republik 1918/19 Kampf um die Republik 1919-1923 Zwischen Festigung und Gefährdung 1924-1929 NS-Bewegung: Hintergründe NS-Bewegung: Aufbau Zerstörung der Demokratie NS-Bewegung: Ursachen Erste Widerstände NS-Staat Machteroberung "Volksgemeinschaft" Beseitigung des Rechtsstaates Ausbau des Führerstaates Wirtschaft und Gesellschaft Verfolgung und Widerstand Massenmord und Holocaust Shoah und Antisemitismus Ein Tag in meinem Leben Gegenwehr von Verfolgten Studentenopposition Widerstand im Alltag Der 20. Juli 1944 Stille Helden Kommunen und Verfolgung Militärischer Widerstand Literatur und Presse Überblick Werke und Autoren Krieg, Flucht und Vertreibung Weg in den Krieg Kriegsverlauf Kriegsende Kriegsziele der Alliierten Erinnerungen an den Luftkrieg Die Vertreibung der Deutschen Durch den Bombenhagel zum Bunker Deutschland nach 1945 Nachkriegsalltag Besatzung Infrastruktur und Gesellschaft Bestrafung der Schuldigen Entnazifizierung und Erziehung Essay: Soviel Anfang war nie Deutsche Teilung im Kalten Krieg Der Beginn der Bipolarität Deutschland der Sieger Weg in den Kalten Krieg Ursachen des Kalten Krieges Das geteilte Berlin Doppelte Staatsgründung Geschichte und Erinnerung Video-Interview: Aleida Assmann Video-Interview: Raul Hilberg Forschungskontroversen Der 20. Juli 1944 Die Deutschen und ihr "Drittes Reich" Erinnerung an Vertreibung Erinnerungsboom in der Kritik Holocaust in Israel und Deutschland Deutsch-polnische Vergangenheit Deutschlandbild in Frankreich Integrierte Geschichte Wiedervereinigung und NS-Vergangenheit Zwei deutsche Diktaturen? Erinnerung in BRD und DDR Regieren nach Auschwitz Redaktion

Kriegsziele der Alliierten

Prof. Dr. Wolfgang Benz Wolfgang Benz

/ 8 Minuten zu lesen

Bereits im Januar 1943 hatte die Anti-Hitler-Koalition auf der Konferenz von Casablanca die bedingungslose Kapitulation Hitler-Deutschlands zu ihrem Ziel erklärt. Kurz vor der Kapitulation im Frühjahr 1945 musste sich die ungleiche und von Misstrauen geprägte Allianz über die Zeit nach der Niederwerfung verständigen.

Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin (v.l.n.r.) besprechen auf der Konferenz von Jalta die politische Gestaltung Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges. (© AP)

Einleitung

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Säkulares Ausmaß erreichte er mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 und der Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941. Es war ein Krieg der Ideologien und ein Vernichtungskrieg ohne Parallele in der Geschichte. Auf 33 Millionen wird die Zahl der Opfer nichtdeutscher Nationalität geschätzt, zwischen vier und fünf Millionen Deutsche fanden den Tod. Beispiellos war der Zweite Weltkrieg auch wegen der Verbrechen, denen er als Hintergrund gedient hatte: der Völkermord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma, die Ermordung von Kriegsgefangenen, die Ermordung von Behinderten und die Versklavung der polnischen und russischen Zwangsarbeiter. Dem Vernichtungsfeldzug im Zeichen der nationalsozialistischen Ideologie des deutschen "Herrenmenschentums" und des Weltherrschaftsstrebens wurde im Verständnis der westalliierten Demokratien ein Kreuzzug zur Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus entgegengesetzt. Die Sowjetunion strebte nach Befreiung von Besatzung und Bedrohung und dann, im Zeichen ihrer expansiven Ideologie, nach Erweiterung und Befriedung ihres Einflussgebiets. Dieser Krieg endete mit der vollkommenen Niederlage des Aggressors, der Eliminierung seiner Ideologie und der Bestrafung eines Großteils seiner Exponenten durch öffentliche Gerichtsverfahren.

Konferenz von Jalta

Über die Behandlung Deutschlands nach seiner Niederlage hatten sich die Alliierten auf mehreren Konferenzen verständigt. Vom 4. bis 11. Februar 1945 trafen sich in Jalta auf der Halbinsel Krim die "Großen Drei", US-Präsident Franklin Delano Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Diktator Josef Stalin.

Stalin ging es in Jalta vor allem darum, Ost- und Südosteuropa weitgehend als Interessensphäre der Sowjetunion anerkannt zu erhalten. In Ansehung der Widerstände Churchills wollte er doch wenigstens auslegungsfähige Formeln hinsichtlich Polens (Anerkennung der verschobenen Ostgrenze zur Sowjetunion und der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze zu Deutschland) erzielen und die sowjetische Rolle gegenüber den Balkanstaaten festschreiben lassen. Ferner war Stalin an der Festlegung der Reparationssumme interessiert, die Deutschland auferlegt werden müsste und am Anteil, den die UdSSR davon erhalten sollte. Stalin schlug 20 Milliarden US-Dollar als Gesamtsumme vor, davon verlangte er 10 Milliarden Dollar. Diese Forderung war in Jalta noch theoretisch zu erörtern, ein halbes Jahr später in Potsdam trug sie erheblich zur Verschlechterung der Beziehungen zu den Westmächten bei.

Das Anliegen des amerikanischen Präsidenten Roosevelt bei der Jalta-Konferenz bestand vor allem darin, von Stalin die Zusage zum Kriegseintritt gegen Japan (nach der Niederlage Deutschlands) zu erlangen, und er wollte sich der Kooperation der Sowjetunion bei der Errichtung der Vereinten Nationen versichern. Die Gründung einer dauerhaften Friedensorganisation war seit der Atlantik-Charta von 1941 das feierlich deklarierte wichtigste Kriegsziel der USA. Drittens wollte Roosevelt, ebenso wie Churchill, den Expansionsdrang der Sowjets in Ost- und Südosteuropa nicht ganz außer Kontrolle geraten lassen.

Die Verhandlungen in Jalta waren ziemlich chaotisch, weil die westlichen Verbündeten dem östlichen Partner misstrauten, weil so viele Wechsel auf eine ungewisse Zukunft ausgestellt werden mussten und weil die Interessen der Beteiligten so differierten. Die Tragweite einiger Verabredungen sollte sich deshalb erst viel später herausstellen. Etwa die verhängnisvollen Konsequenzen für Hunderttausende von Sowjetbürgerinnen und -bürgern, die im Gefolge der deutschen Wehrmacht - freiwillig oder unfreiwillig - ihre Heimat verlassen hatten. Sie wurden nach dem 8. Mai 1945 durch Repatriierungskommissionen, ob sie wollten oder nicht, in die Sowjetunion zurückgebracht, wo auf die meisten eine düstere Zukunft wartete.

Wichtig für Deutschland war der Beschluss der Großen Drei, die vollständige Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands sicherzustellen und dem besiegten Gegner hohe Reparationen aufzuerlegen. Und von erheblicher Bedeutung war auch das Übereinkommen, Frankreich (das hieß, dessen provisorische Regierung unter Charles de Gaulle) als vierte Macht zur Teilnahme an der alliierten Kontrolle Deutschlands einzuladen und den Franzosen eine eigene Besatzungszone einzuräumen. Die französische Besatzungszone wurde im Südwesten aus den bereits festgelegten amerikanischen und britischen Okkupationsgebieten herausgeschnitten, die sowjetische Zone sollte unverändert bleiben. Und an der gemeinsamen Verwaltung der Hauptstadt Berlin sollte Frankreich ebenfalls beteiligt sein. Die ursprünglich vorgesehene Einteilung Berlins in drei Sektoren wurde korrigiert, Frankreich erhielt einen eigenen Sektor zugewiesen.

Ebenso wie zum Gipfeltreffen in Jalta im Februar wurde de Gaulle aber auch nicht zur letzten Kriegskonferenz nach Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 eingeladen. Das Bewusstsein, nur als Größe zweiten Ranges betrachtet und behandelt zu werden, kränkte in Paris ungemein. Für die französische Deutschlandpolitik der nächsten Jahre hatte dies Folgen, weil Frankreich, um seine eigenen Ziele durchzusetzen, zunächst alle gemeinsamen Beschlüsse über Deutschland blockierte.

Pläne zur Aufteilung Deutschlands

Die Pläne und Überlegungen zur Aufteilung und Zerstückelung Deutschlands erwiesen sich in der Endphase des Krieges ziemlich rasch als überholt. Ein britischer Planungsstab war schon im Herbst 1944 zu dem Ergebnis gekommen, dass eine politische Zergliederung Deutschlands dessen Wirtschaftskraft so schwächen würde, dass mit ernsten Problemen zu rechnen sei: Es drohe die Abhängigkeit der neuen Staatsgebilde von anderen Ländern, das Absinken des Lebensstandards, wodurch die Unabhängigkeit der neuen Staaten in Gefahr geriete und die Reduzierung der deutschen Leistungsfähigkeit im Hinblick auf die zu zahlenden Reparationen. Zu den wichtigsten Argumenten der britischen Experten gehörte die Überlegung, dass eine Zerstückelung die Verarmung Deutschlands zur Folge haben, die Erholung der ganzen Welt von den Kriegsschäden verlangsamen und somit auf lange Sicht auch den britischen Wirtschaftsinteressen schaden würde. Ebenso war der legendäre "Morgenthau-Plan", mit dem der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau Deutschland zum Agrarland ohne Industrie machen wollte, schon Ende 1944 wieder vom Tisch.

Der britische Schatzkanzler John Anderson hatte sich Anfang März 1945 gegen Pläne zur Aufteilung Deutschlands gewandt. Auch er führte ökonomische Gründe an, als er in einem Memorandum schrieb, nach seiner Auffassung könne Großbritannien entweder eine Reparations- oder eine Zerstückelungspolitik verfolgen, aber bestimmt nicht beides auf einmal.

Die Absicht, Deutschland zu zergliedern, wie sie auf der Teheraner Gipfelkonferenz der Anti-Hitler-Koalition im November 1943 propagiert, auf der Krimkonferenz im Februar 1945 scheinbar bekräftigt und durch die Einsetzung einer entsprechenden Kommission institutionalisiert worden war, wurde tatsächlich schon im Februar 1945 begraben. Die ökonomisch denkenden Politiker in Washington und London wollten sich nicht selber Schaden zufügen: Eine kontrollierte deutsche Industrie würde bei gleichzeitiger Entwaffnung und Entmilitarisierung Deutschlands sowohl Sicherheit garantieren als auch den britischen Wirtschaftsinteressen entsprechen.

Davon versuchte der britische Außenminister Robert Anthony Eden die Politiker zu überzeugen, die nur an die Niederhaltung Deutschlands dachten: Eine Handvoll deutscher Kleinstaaten würde für die Sieger des Weltkrieges ökonomisch ein Ballast und politisch ein Unruheherd sein. Beides zusammen würde für die erhoffte neue Ordnung Europas eine schwer erträgliche Hypothek bilden.

Die antikommunistischen Schlagworte der nationalsozialistischen Propaganda haben die Vorstellungswelt der Deutschen weit über das Jahr 1945 hinaus beeinflusst. Ein Teil dieser Parolen war, weil er im Westen auch in der Zeit des Kalten Krieges verwendet wurde, besonders wirksam und dauerhaft, und diente auch als Trost in der Niederlage. Die antikommunistischen Parolen erleichterten dem Westen Deutschlands die Unterwerfung unter die Sieger, weil man diese bald als Schutzmächte vor der stalinistischen Sowjetunion begreifen lernte.

Kalter Krieg statt Friedensordnung

Vom 17. Juli bis 2. August 1945 trafen sich im Schloss Cecilienhof in Potsdam die Regierungs- bzw. Staatschefs der drei Großmächte zu ihrer letzten Kriegskonferenz. Das Treffen sollte eigentlich in Berlin stattfinden (und amtlich hieß es auch "Berliner Konferenz"), aber in der zerstörten Reichshauptstadt waren weder Unterkünfte noch Konferenzräume vorhanden. Das benachbarte Potsdam bot, nach einiger Improvisation, die Möglichkeiten zu einer solchen Veranstaltung.

Aus Washington war der neue US-Präsident Harry S. Truman, Nachfolger des im April 1945 verstorbenen Roosevelt, gekommen; Großbritannien war durch Premierminister Winston Churchill vertreten, der allerdings auf dem Höhepunkt der Konferenz eine Wahlniederlage erlitt und durch den Führer der siegreichen Labour Party Clement Attlee ersetzt wurde. Stalin war als einziger Regierungschef der Anti-Hitler-Koalition seit Kriegsbeginn dabei gewesen.

Potsdamer Abkommen

Das als "Potsdamer Abkommen" bekannte Dokument ist eine Kurzfassung des "Protocol of Proceedings", in dem die Beschlüsse, Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Regierungschefs der drei Großmächte festgehalten sind. In rechtlicher Hinsicht ist das "Potsdamer Abkommen" kein völkerrechtlicher Vertrag, was die Gültigkeit und Wirkung der Verabredungen jedoch keineswegs behinderte. Das "Verhandlungsprotokoll" ist nicht zu verwechseln mit wörtlichen Berichten über den Gang der einzelnen Sitzungen. Die wichtigsten Verabredungen der Potsdamer Konferenz waren:

Die Errichtung eines Rats der Außenminister der fünf Hauptmächte (USA, Großbritannien, Sowjetunion, Frankreich und China) zur Vorbereitung von Friedensverträgen mit Deutschlands Verbündeten, zur Regelung ungelöster territorialer Fragen und zur Beratung und Lösung der deutschen Frage. Die Festlegung politischer und wirtschaftlicher Grundsätze für die Behandlung Deutschlands in der Besatzungszeit, und zwar: Ausübung der Regierungsgewalt durch die Oberbefehlshaber der Streitkräfte der vier Großmächte in ihren Besatzungszonen und gemeinsam im Alliierten Kontrollrat; völlige Abrüstung und Entmilitarisierung, Auflösung aller Streitkräfte, einschließlich der SS und SA, Auflösung der NSDAP, Aufhebung aller nationalsozialistischen Gesetze, Entnazifizierung der Bevölkerung, Verhaftung und Verurteilung der Kriegsverbrecher, Demokratisierung des Erziehungssystems, der Justiz, der Verwaltung und des öffentlichen Lebens; Verbot der Waffenproduktion, BeschrÀ¤nkung der Industriekapazität, Dezentralisierung und Dekartellisierung der Wirtschaft unter alliierter Kontrolle.

Deutschland sollte trotz der Einteilung in Besatzungszonen als wirtschaftliche Einheit betrachtet werden. Reparationen: Die Sowjetunion sollte ihre Ansprüche (und die Polens) aus ihrer Besatzungszone befriedigen, die Ansprüche der Westmächte und aller anderen Gläubiger sollten aus den westlichen Besatzungszonen erfüllt werden, die Sowjetunion sollte darüber hinaus Industrieausrüstungen und andere Reparationsleistungen aus den Westzonen erhalten.

Königsberg und das nördliche Ostpreußen fielen ("vorbehaltlich endgültiger Friedensregelung") an die Sowjetunion. Die Oder-Neiße-Linie bildete ("bis zur endgültigen Festlegung") die Westgrenze Polens. "Ordnungsmäßige Überführung" - wie die euphemistische Umschreibung im Protokoll lautete - der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland.

Zu den Grundlinien des westalliierten Verständnisses gehörte die Betonung der zeitlich befristeten Funktionen der Potsdamer Beschlüsse über Reparationen, Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands ebenso wie über territoriale Fragen. Und zum Grundverständnis gehörte es in den ersten Nachkriegsjahren auch noch, dass Potsdam die erste Station auf dem Weg zu einer Friedensregelung sein würde, die, vom dazu institutionalisierten "Rat der Außenminister" vorbereitet, in einem Friedensvertrag mit Deutschland gipfeln würde. Darauf setzten auch die Deutschen ihre Hoffnungen, und dazu gehörte anfänglich die Vorstellung der Vereinigung der vier Besatzungszonen zu einem neuen deutschen Staat - das war in Aussicht gestellt - und die Vorstellung des Rückgewinns wenigstens eines Teiles der verlorenen Ostgebiete.

Vertreibung der Deutschen

Flucht und Vertreibung

Auf der Potsdamer Konferenz hatten im Sommer 1945 die drei Großmächte festgeschrieben, was längst beschlossen war: die Vertreibung der deutschen Minderheiten aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn. Die deutschen Ostgebiete, die an Polen fallen sollten und die von der Roten Armee bereits der Verwaltung durch die provisorische polnische Regierung unterstellt worden waren, seien menschenleer. Die Deutschen seien alle geflohen, hatte Stalin in Potsdam behauptet und damit die Konferenzteilnehmer beruhigt, sofern sie überhaupt beunruhigt waren.

In humanen Formen sollte die Vertreibung erfolgen, die Churchill im Dezember 1944 vor dem britischen Unterhaus "das befriedigendste und dauerhafteste Mittel", Frieden zu stiften, genannt hatte: "Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen wie zum Beispiel im Fall von Elsass-Lothringen. Reiner Tisch wird gemacht werden". Der Begriff "ethnische Säuberung" existierte damals noch nicht, aber er war gemeint.

QuellentextVertreibung aus dem Sudetenland

Ich wohnte mit meinen drei Kindern in Freiwaldau, Ostsudetenland. [...] Am 26. Juli 1945 kamen plötzlich drei bewaffnete tschechische Soldaten und ein Polizist in meine Wohnung, und ich mußte dieselbe binnen einer halben Stunde verlassen. Ich durfte gar nichts mitnehmen. Wir wurden auf einen Sammelplatz getrieben und wußten nicht, was mit uns geschehen wird. [...] Unter starker Bewachung mußten wir auf dem Sammelplatz viele Stunden warten, gegen Abend wurden wir unter gräßlichen Beschimpfungen und Peitschenschlägen aus dem Heimatort fortgeführt.
Nach sechsstündigem Fußmarsch mußten wir im Freien übernachten und wurden dann eine Woche lang in einem primitiven Lager, einem Kalkwerk, festgehalten. Verpflegung gab es keine, und wir mußten mit dem wenigen, was wir uns an Essen mitgenommen hatten, auskommen. Es wurde uns immer noch nicht gesagt, was mit uns geschehen soll, bis wir am 2. August 1945 zum Bahnhof mußten und auf offenen Kohlenwagen und Loren verladen wurden. Vor Abfahrt des Transportes bekamen wir pro Eisenbahnwagen 1 Brot. Während der Fahrt regnete es in Strömen, und wir wurden bis auf die Haut naß, abgesehen davon, daß wir dabei Todesangst ausstehen mußten. Die Kinder wurden krank, und ich wußte mir vor Verzweiflung bald keinen Rat. Nach zwei Tagen wurden wir in Tetschen ausgeladen. Wir waren hungrig und erschöpft und mußten in diesem Zustand den Weg bis zur Reichsgrenze zu Fuß antreten. Wir wurden mit Peitschenhieben und Schreckschüssen immer wieder angetrieben, und viele sind am Wege liegen geblieben. [...] Beim zweiten Schlagbaum wurden unsere Ausweise von russischem Militär geprüft, und dann waren wir für den weiteren Weg auf uns selbst gestellt. [...] Wir wurden von einem Ort zum anderen gewiesen, bis wir endlich am 22. August 1945 eine Unterkunft zugeteilt erhielten.
Mein Mann wurde im Juni 1946 als Schwerkriegsbeschädigter aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, und wir müssen hier, da wir vollständig mittellos sind, in großer Not und Sorge unser Leben fristen. Die in der Heimat zurückgelassenen Sparguthaben und andere Vermögenswerte betragen 112.000,- RM. Ich und mein Mann waren in der Heimat nicht politisch tätig, und die menschenunwürdige Ausweisung, durch die wir zu Bettlern gemacht worden sind, ist ein himmelschreiendes Unrecht. Wir sehnen uns in unsere geliebte Heimat zurück und hoffen, daß uns das geraubte Menschenrecht wiedergegeben wird.

Wolfgang Benz (Hg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt a. M. 1995, S. 138f.

Weitere Inhalte

Geb. 1941, Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Kunstgeschichte. Seit 1990 Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Vorsitzender der Gesellschaft für Exilforschung. Mitherausgeber der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.