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Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland | Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg | bpb.de

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Die Erinnerung an den Holocaust in Israel und Deutschland

Dan Bar-On

/ 23 Minuten zu lesen

Nach 1945 mieden Israelis und Deutsche zunächst die Erinnerung an den Holocaust. Heute wird sie hier wie dort öffentlich betrieben – und instrumentalisiert. Am Beispiel des Palästinenser-Konfliktes erläutert Dan Bar-On die politischen und privaten Strategien des Erinnerns und Vergessens.

Eine Zusammenstellung von Fotografien ehemaliger jüdischer Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz an einer Wand der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. (© AP)

Einleitung

Die Kultur der Erinnerung an den Holocaust hat sich in den letzten sechs Jahrzehnten sowohl in Israel als auch in Deutschland dramatisch verändert. In den ersten Jahren nach dem Krieg wurde der Holocaust in beiden Ländern an die Seite gedrängt, denn es gab dringlichere Themen auf der Agenda: Israel hatte soeben den Unabhängigkeitskrieg beendet und eigene Kriterien für Heldentum und Verlust gefunden (die einzig die Ghetto-Kämpfer und die Partisanen erfüllen konnten), und das geteilte Deutschland wurde zum Austragungsort des Kalten Krieges. Die Strategie des Verschweigens der Vergangenheit und die Normalisierung der Gegenwart wurden in beiden Ländern verfolgt. Das versetzte die Regierungen beider Länder in die Lage, bereits 1952 ein Wiedergutmachungsabkommen zu unterzeichnen, einen Vertrag, den Israel dringend für sein wirtschaftliches Überleben und Deutschland ebenso dringend für seine moralische Rehabilitierung im Kreis der demokratischen Nationen des Westens benötigte.

Erst Mitte der fünfziger Jahre verabschiedete die Knesset ein Gesetz, das Yad Vashem zur offiziellen Gedenkstätte zur Erinnerung an den Holocaust bestimmte und einen jährlichen Gedenktag im April festlegte, in der Woche zwischen Passah und Unabhängigkeitstag. Noch in den siebziger Jahren war Letzterer für junge Israelis der bedeutungsvollere Feiertag; seit den frühen neunziger Jahren wurde der "Memorial Day of the Holocaust" zum bei weitem wichtigsten offiziellen Gedenktag in Israel, und zwar selbst unter den jungen israelischen Juden, deren Eltern einst aus arabischen Ländern eingewandert waren. Dieser Vorgang belegt den dramatischen Wandel, der sich in Israel hinsichtlich der kollektiven Erinnerung an den Holocaust ereignet hat, und er unterstreicht dessen Rolle als Eckpfeiler der kollektivenisraelischen Identität seit den achtziger Jahren.

Auch in Deutschland herrschten lange Jahre Verschweigen und Verzerrung. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche inder nationalsozialistischen Ära begangen worden waren, wurden weder im Schulunterricht behandelt, noch waren sie Teil des inoffiziellen täglichen Diskurses. In einer Erhebung unter deutschen Studierenden stellte sich noch in den frühen neunziger Jahren heraus, dass nur elf Prozent wussten oder zugaben, dass ihre Großeltern in der NSDAP gewesen waren, während 16 Prozent glaubten, jene seien im Widerstand gewesen; 49 Prozent wussten gar nichts über das Verhalten ihrer Vorfahren in jener Zeit.

Vielleicht war es kein Zufall, dass ein offizieller Holocaust-Gedenktag in Deutschland erst nach der Wiedervereinigung 1990 deklariert wurde: der 27. Januar, der Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit worden war. Das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin wird demnächst fertig gestellt, nach einer langen Kontroverse über Ort und Zweck: Soll die Nation, aus der die nationalsozialistischen Täter stammten, nur der jüdischen Opfer gedenken? Inwiefern tritt ein solcher Ort in Konkurrenz zu den authentischen Orten des nationalsozialistischen Terrors? Heute ist es eine offene Frage, ob das Mahnmal Teil eines jeden offiziellen Besuchs der Hauptstadt werden wird, wie es in Yad Vashem in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu bemerken, dass es sich die Deutschen erst seit kurzer Zeitgestatten, ihre eigenen Opfer zu betrauern, etwa in Dresden oder bei Flucht und Vertreibung aus dem Osten. Vielleicht habendie Deutschen zu lange geglaubt, dass sie angesichts dessen, was den Opfern der Nationalsozialisten während des Holocaust geschah, kein Recht hätten, eigene Verluste zubetrauern.

Meine These lautet, dass in Israel und Deutschland die Erinnerungskultur und die Kultur des Vergessens des Holocaust eng miteinander verwoben sind. Beides geschieht auf wenigstens zwei Ebenen: zum einen auf der öffentlichen bzw. politischen Ebene, wo die Erinnerungskultur zunehmend für politische Ziele instrumentalisiert wird, zum anderen auf der individuellen Ebene, auf der das Durcharbeiten der Vergangenheit von aktuellen Anlässen abgegrenzt wird. Letzterer ist der wichtigere Prozess, aber es ist schwieriger, die Vergangenheit auf der individuellen Ebene durchzuarbeiten. Manchmal schlagen politische Bemühungen einer Überbetonung der Erinnerung an den Holocaust in ihr Gegenteil um und befördern das Vergessen auf der eher individuellen Ebene, und umgekehrt.

Weil mir die israelische Erinnerungskultur näher liegt als die deutsche, werde ich mich im Folgenden auf Israel konzentrieren. Ich hatte kürzlich die Möglichkeit, parallel die Nachwirkungen des Holocaust auf die zweiten und dritten Generationen wie auf den aktuellen israelisch-palästinensischen Konflikt zu erforschen. Einige meiner Eindrücke und Gedanken über die Wechselwirkungen werde ich nun schildern. Ich betrachte Israels aktuelle Situation als Zustand verdichteter Interaktion von Konflikten, bei denen wir nicht das Privileg haben, sie getrennt durcharbeiten zu können. Ich werde mich vor allem auf die Graswurzelebene konzentrieren.

Vergangenheit und Gegenwart trennen oder verbinden

Gewöhnlich beherrschen Bilder einer geordneten Abfolge von Wandlungsprozessen unsere Vorstellungen. Wir glauben, dass man erst die Traumata der Vergangenheit durcharbeiten müsse, bevor man die Energie aufbringt, sich der Gegenwart zuzuwenden. Oder: Man sollte zuerst aktuelle Konflikte befrieden, bevor man sich den Luxus leistet, ungelöste Konflikte der Vergangenheit zu bearbeiten. Ich bin davon überzeugt, dass die Realität viel chaotischer ist: Wir können keine der beiden Abläufe wirklich befolgen, denn wir müssen unsere gegenwärtige Situation bewältigen, während wir zur gleichen Zeitungelöste Konflikte der Vergangenheit durcharbeiten. Das gilt in besonderer Weise für den Holocaust.

Das liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen es vorziehen, Konflikte erst gar nicht anzugehen. Wir bevorzugen ein klares Selbstbild von Harmonie und Kohärenz, und so möchten wir auch von unseren Mitmenschen wahrgenommen werden. Viele versuchen dieses Selbstbild sogar dann aufrechtzuerhalten, wenn es Signale gibt, dass es nicht mehr funktioniert, weil es nicht der Realität entspricht. Erst wenn es keine andere Wahl mehr gibt, wenn man sich einer Krise gegenübersieht oder sich in einer Sackgasse befindet, wird man gezwungen, die Konflikte im Selbst oder mit anderen anzugehen. Wenn diese Konflikte in verdichteter Interaktion auftreten, wird es umso schwieriger, sie durchzuarbeiten. Vielleicht liegt darin ein Paradoxon menschlicher Selbstreflexion: Wenn sie hilfreich wäre, wird sie vernachlässigt; wenn sie notwendig ist, ist sie häufig zu schwierig.

Israel ist ein Laboratorium der verdichteten Interaktion von Konflikten. Seit dem Jahr 2000 befinden wir uns in einer schwierigen Phase des Konflikts mit unseren Nachbarn, und die israelische Gesellschaft durchlebt zurselben Zeit eine ihrer schwersten gesellschaftlichen Identitätskrisen: säkular gegen religiös, rechts gegen links, ethnisch definierte Immigrantengruppen gegen Veteranen, Reich gegen Arm, Allmacht gegen Ohnmacht. Jeder vorstellbare Konflikt spielt sich hier ab.

Zwei meiner Studenten haben vor kurzem mit einer Gruppe von Sabras und russischen Immigranten gearbeitet. Die Teilnehmenden sollten sich zwischen zwei Polen selbst verorten: Der eine bedeutete "100 Prozent Israeli", der andere "das Gegenteil". Überraschenderweise fanden sich die meisten Gruppenmitglieder irgendwo in der Mitte wieder. "Wir wissen, warum wir hier sind, aber wie kommt es, dass ihr hier seid?", fragten die Russen die Sabras. Einige der Sabras führten an, warum sie sich nicht mehr als "100 Prozent Israeli" fühlten. Was hat das zu bedeuten? Während einige die Aussage als Regression deuteten - eine Distanzierung von einer idealisierten israelischen Identität -, sahen andere darin eine Progression, eine Bewegung nach vorne, weil man nun in der Lage sei, den künstlichen Kollektivismus der Vergangenheit kritischer zu sehen und eine Identität zu wählen, anstatt in eine solche gezwungen zu werden. Jene, die zu diesem kritischen inneren Dialog fähig sind, müssen ihn unter sehr ungünstigen Bedingungen vollziehen, begleitet von äußeren Bedrohungen, die gewöhnlich mit jenen Gruppen verbunden sind, die versuchen, diesen Erneuerungsprozess aufzuhalten.

Die Vorstellung einer derart verdichteten Interaktion von Konflikten mag dem deutschen Publikum sehr fern erscheinen, denn es befindet sich ja mitten in einer erneuerten deutsch-europäischen Gesellschaft, die ihren eigenen Wohlstand und Einfluss genießt und von vergangenen oder aktuellen Konflikten kaum berührt wird. Doch aus meiner naiven Sicht haben wir mehr gemeinsam, als es von einem politischen Blickwinkel aus den Anschein hat. Unsere beiden Gesellschaften hatten die Wahl zwischen einer Normalisierung der Gegenwart und der Vergangenheit, indem schwierige Themen unterdrückt wurden, und dem Versuch, sich diesen Konflikten zu stellen und sie angemessen durchzuarbeiten. Vielleicht haben die Israelis heute diese Wahl nicht mehr, denn unsere Konflikte, ob wir wollen oder nicht, begegnen uns an jeder Straßenecke und in jeder Zeitung. Dagegen scheint es mir möglich, dass die Deutschen ihren ungelösten Konflikten nach wie vor ausweichen können oder gar behaupten können, sie existierten nicht mehr, weil ihr Einfluss auf das tägliche Leben sehr gering zu sein scheint.

Die Israelis haben lange den Schild einer überaus selbstbewussten nationalen Selbstpräsentation benutzt, die jetzt eine kritische undschmerzhafte Phase der Neubewertung durchläuft. Wir müssen bescheidener werden, in unseren Erwartungen wie im Verhältnis zu jenen, mit denen wir als Nachbarn zu leben haben. Deutschland hingegen kann sein Wiedererstarken als wichtigste wirtschaftliche und politische Macht Europas feiern, nachdem es eine lange Periode internationaler und interner Kritik durchlaufen hat. Und doch bleibt die Frage auch für die Deutschen gültig: Was haben wir zurückgelassen - unberührt, unsichtbar, noch immer ungelöst? Gibt es Themen aus der NS-Ära und dem Holocaust, die endlich angegangen werden sollten, die in der Nachkriegsgesellschaft niemals vollständig diskutiert wurden? Das gilt auch für andere europäische Gesellschaften, und dieser Umstand kann Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und politischen Belange Europas haben. Diese Frage muss beantwortet werden, und es steht mir nicht zu, dies anstelle der deutschen Intellektuellen zu tun.

Ich werde nur einige wenige Punkte ansprechen, die ich als Beispiele für ungelöste Konflikte der Vergangenheit kennzeichne und die für Gegenwart und Zukunft Bedeutung haben. Beim ersten handelt es sich um die Identifikation mit dem Opfer und um das "Auch - wir - haben - gelitten"- Syndrom. Das sind zwei getrennte Vorgänge, die sich auf seltsame Weise gegenseitig beeinflussen - in unserer Psyche, in unserer Selbstpräsentation und in unserer Interaktion mit anderen. Mit "Identifikation" meine ich Empathie mit Opfern eines von Menschen gemachten Unheils. Diese wird häufig von einem versteckten Prozess begleitet, sich von jenen persönlich zu distanzieren: Ich kämpfe für die Rechte der Armen in Ruanda, aber ich möchte sie nicht in meinem eigenen Haus haben. Mit dem "Auch-wir-haben-gelitten"-Syndrom meine ich unsere Tendenz, eigene Leidensgeschichten zu schildern, sobald wir mit denen anderer konfrontiert werden. Dadurch schaffen wir ein psychologisches Gegengewicht gegen die Last der Asymmetrie: Sie leiden und ich nicht, insbesondere, wenn ihr Leiden in meiner Verantwortung liegt oder lag.

Ich bin überrascht, wie stark diese Argumentation sein kann und welch guten Schutzschild gegen die moralische Last der Asymmetrie sie jenen bietet, die sie gebrauchen. Wir haben dieses Syndrom zum ersten Mal bei Interviews mit Deutschen entdeckt. Im Krieg aufgewachsene Personen, deren Eltern nicht an den NS-Gräueln beteiligt waren, benutzen diesen Schild sogar noch häufiger als jene, deren Eltern nachgewiesenermaßen NS-Täter waren. Das liegt zunächst einmal daran, dass die Befragten ihre Lebensgeschichten, ihr Leiden im Bombenkrieg und im Hunger der Nachkriegszeit schilderten. Aber das Syndrom wurde zur Flucht vor der Realität, wenn der Befragte es von Anfang bis Ende benutzte: ein Schild, mit dem man das Leid der NS-Opfer relativieren konnte.

Es ist ein sehr kluger Schutzschild, denn er wird von persönlichen Erfahrungen gestützt, und was verschwiegen wird, kann leicht von jenen übersehen werden, die an einer ähnlichen psychologischen Störung leiden. Wir glauben, dass es zwei Arten der psychologischen und moralisch unangemessenen Reaktion gibt: solche, die das den NS-Opfern von ihren Familien und der Nation zugefügte Leid übersehen (der moralische Aspekt), und solche, die das ihnen, ihren Familien und ihrer Nation zugefügte Leid übersehen (der psychologische Aspekt). Wir haben in Deutschland deutlich mehr Menschen des ersten Typs getroffen als des zweiten. Wir haben nur sehr wenige Geschichten gehört, die beiden Aspekten zuzuordnen wären und so den Konflikt zwischen moralischer Sauberkeit und psychologischer Gesundheit unter Kontrolle haben. Das ist beileibe kein allein deutsches Problem, wie es manche gerne glauben mögen. Hier tritt ein menschlicher Defekt zutage, den ich auch in anderen, ähnlichen Situationen bemerkt habe.

Wenn wir die jüdisch-arabische Gruppe an unserer Universität betrachten, taucht dieses Thema immer wieder auf. Im Gegensatz zu den deutsch-jüdischen Nachkriegsbeziehungen - in denen der eine der Übeltäter, der "völlig Schlechte" war und der andere das Opfer, der "völlig Gute" - tendieren im israelisch-palästinensischen Konflikt beide Seiten dazu, sich selbst als Opfer der anderen Gruppe (und daher als "völlig Gute") zu sehen. Dieser Teil der Geschichte verschlingt sie, sodass sie die Verantwortung der eigenen Bevölkerungsgruppe für das Leid der anderen völlig übersehen. Mehr noch, die jüdische Gruppe sieht sich aufgrund ihrer Geschichte als berechtigter an, sich als Opfer zu fühlen: aufgrund des Holocaust sowie der Verfolgungen und Pogrome früherer Jahrhunderte. Hier liegt die Verbindung zwischen dem, was wir heute sind, und dem, was wir in der Vergangenheit waren. Weil wir die Opferrolle im Holocaust und während anderer Verfolgungen nicht genügend durchgearbeitet haben, kann sich heute ein Gefühl verstärken, ewig Opfer zu sein. Diesen Teufelskreis können wir nur mit einer sehr großen Schleife durchbrechen, die es sehr schwer hat, in das kollektive Bewusstsein zu dringen.

Die meisten Menschen neigen dazu, eine Rangfolge aufzustellen: Wir können menschliches Leid nicht einfach als Unterschied zwischen Menschen wahrnehmen, sondern versuchen immer, es als "Mehr" oder "Weniger" einzuschätzen. Wir wissen von Interviews mit Familien von Überlebenden, dass manche eine Art versteckter Skala des Leidens entwickelt haben, die aktuelle Anforderungen der Aufmerksamkeit oder Kompensation bewirkt: Die Auschwitz-Überlebenden haben mehr als jene gelitten, die sich versteckt haben, oder jene, die nach Russland flohen, oder jene, die sich nach Israel absetzen konnten und so dem Holocaust entgingen. Es ist ein schrecklicher Diskurs, unverständlich für Außenstehende, aber ein sehr mächtiger. Vor kurzem hat eine meiner Doktorandinnen drei Generationen der "Kastner-Familie" interviewt. Sie fand heraus, dass die meisten Mitglieder der ersten Generation sich selbst nicht als Holocaust-Überlebende ansahen, weil sie, "verglichen mit jenen, die wirklich in Auschwitz gelitten hatten", gar nicht gelitten hätten. Das war ihr subjektiver Kontext, und sie fühlten sich noch immer schuldig, weil sie gerettet wurden. Es ist kaum vorstellbar, welche Bedeutung dieser Umstand auf ihr Leben und das ihrer Nachkommen ausübt.

Es handelt sich um eine starke und wirksame Strategie der Reparatur. Sie hilft den Menschen, einen Sinn aus dem zu gewinnen, was sie im Verhältnis zu anderen durchmachen mussten, und verleiht ihm Bedeutung für ihr weiteres Leben. Die Viktimisierung der Vergangenheit unterstützt die Viktimisierung der Gegenwart und schafft einen Teufelskreis, in dem man sich für alle Zeit verfolgt oder als Opfer wähnt. Diese Strategie ist vielleicht deshalb so erfolgreich, weil unsere Kultur das Leiden (aus einiger Entfernung) hoch einschätzt und Menschen, die gelitten haben, anerkennt, während es den Tätern und ihrer Umgebung den Rücken zuwendet. Ist man einmal in der Psychologie des Opfers gefangen (selbst wenn es ursprünglich gerechtfertigt war), übersieht man nur allzu leicht die Möglichkeit, dass man im Leben niemals nur Opfer ist. Es ist sehr schwierig für uns alle, als Nachkommen von Überlebenden den Täter in uns zu erkennen. Mit dem Opfer in uns können wir frei reden, und zwar von Kindesbeinen an. Viel schwieriger ist es, eine innere Kommunikation mit dem Täter in uns zu beginnen. Die meisten von uns glauben, dass er gar nicht existiert.

Die Psychologie hat Werkzeuge entwickelt, um Opfern oder Überlebenden und ihren Nachkommen gerecht zu werden. Allan Young betont das Paradox, dass Vietnam-Veteranen, die während des Krieges Täter waren, zuerst als Opfer anerkannt werden mussten, um wegen Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTSD) behandelt werden zu können. Andernfalls hätten sie weder Aufmerksamkeit bekommen, noch wären sie für ihren Militärdienst entschädigt worden. Es gibt kein Modell, um die Tatsache angemessen zu verstehen, dass Menschen innerhalb von wenigen Tagen die schrecklichsten Verbrechen begehen können, nachdem sie mit ihren Opfern jahrelang friedlich zusammengelebt haben, wie es etwa der Fall war in Bosnien, oder wie es Christopher Browning für die NS-Täter beschrieben hat.

Ich schlage vor, dass wir uns auf die Suche nach der Beziehung der beiden Rollen in unserer Psyche machen sollten, damit man mit beiden Rollen kommunizieren und sie loslassen kann. Das bedeutet, den Kontext unserer Eltern und Großeltern zu verlassen. Wenn ich nicht mehr Opfer bin, und ebenso wenig Täter, wer bin ich dann? Eine weitere Funktion eines offenen Dialoges mit dem Opferdasein wird offenkundig: Es bedient das Bedürfnis, nicht mit schwierigen Fragen behelligt zu werden, denen wir auszuweichen versuchen.

Die jüdische säkulare Bevölkerung erleidet heute weltweit eine ihrer größten Identitätskrisen, denn der kleinste gemeinsame Nenner - die Erinnerung an Verfolgung und Völkermord - ist im Schwinden begriffen. Die Gefahr, den Holocaust zu banalisieren - eine nicht geringere Gefahr als der Revisionismus, ihn zu vergessen oder zu leugnen -, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die säkularen Juden das einigende Band verlören, sobald er beiseite geschoben wird. Für die Israelis wurde das zur realen Gefahr, nachdem der Friedensprozess 1993 zur realistischen Möglichkeit wurde. Die Palästinenser als bedrohlichen Feind zu "verlieren" und sie stattdessen als potenzielle Partner anzusehen (ein Vorgang, den sehr viele heute mit allen Mitteln verhindern wollen) ist ein schwieriger Prozess, der alle Energien bindet. Einer meiner Studenten arbeitete als Psychologe und begleitete die gemeinsamen Patrouillen der Israel Defense Force und der palästinensischen Sicherheitskräfte. Sie hatten die Erfahrung machen müssen, aufeinander zu schießen und am nächsten Tag gemeinsam auf Streife zu gehen. Können Sie sich vorstellen, was das von den Menschen verlangt hat?

Die Aufgabe der Selbstdefinition als Verfolgte könnte einen Klärungsprozess erfordern: Was ist unsere gemeinsame Basis? In Israel lernen jüdische Kindergartenkinder bereits sehr früh, dass bei jeder Feierlichkeitjemand versucht hat, uns zu verfolgen, und dass wir diese bösen Absichten jedesMal überlebt haben. Ich glaube, dasswirunseren Kindern auch ein paarandere Dinge beibringen müssen. Dies belegt die Vorstellung einer verdichteten Interaktion von Konflikten: Es gibt keine Möglichkeit, einen Einzelkonflikt zu lösen, weil die anderen mit ihm derart eng verbunden sind.

Manche Leute würden aus dem bisher Gesagten am liebsten die Konsequenz ziehen, über den Holocaust und seine Folgen nicht mehr zu diskutieren. Das wäre der falsche Weg. Mein Augenmerk liegt auf der Banalisierung des Holocaust, auf seinem Missbrauch für tagespolitische Zwecke, etwa nach dem Motto: "Wir sollten stark sein, weil wirso viel durchgemacht haben." Wir haben diesen Vorgang zuletzt bei Siedlern im Gazastreifen beobachten können, als sie sichaus Protest gegen Sharons Abzugspläneeinen Davidstern anhefteten. Ich glaube, dass diese Leute den Holocaust missbrauchen und ihn aus seinem Kontext herauslösen, aus der Erfahrung der Menschen, die ihn durchlitten haben, mit ihrem täglichen Leid und den Gefühlen des Verlustes und der Hilflosigkeit.

Ich möchte bei meiner Auseinandersetzung mit der Banalisierung des Holocaust nicht jene unterstützen, die ihn vergessen möchten oder behaupten, er habe sich nie ereignet. Wir sollten uns auf die ernsten, ungelösten Fragen konzentrieren, die uns der Holocaust überlassen hat. Er bietet uns die Möglichkeit, etwas über die menschliche Natur zu erfahren, was wir noch nicht verarbeitet haben, und vielleicht sind wir nicht in der Lage, es jemals zu verarbeiten: Wie können gewöhnliche Menschen anderen Derartiges antun, und zwar ohne Reue und über einen derart langen Zeitraum hinweg? Wie können andere zur Seite schauen oder sogar stumm applaudieren? Wie können Menschen ein normales Leben führen, nachdem sie die Hölle durchlitten haben? Was bedeutet Normalität, drei Generationen nachdem die Verbrechen stattfanden?

In Wirklichkeit sind wir immer noch unfähig, mit dem Holocaust angemessen umzugehen. Die Katastrophe ist so gewaltig, sie hat schmerzhafte Spuren in den Seelen der Überlebenden hinterlassen und Aspekte der Menschlichkeit und ihrer dünnen Schale ans Licht gebracht, die uns denken lassen, da wir einen Teil erfassen, würden wir nun die ganze Geschichte kennen. Durch jede Vita von Überlebenden, die wir interviewt haben, erfahre ich Dinge, die ich bis dahin nicht wusste. Unsere Hilflosigkeit ist so groß, dass die meisten es nicht aushalten können. Wir haben keine Möglichkeit, die Leere darzustellen, die Verlassenheit, die sie erzeugt hat und die Daniel Libeskind mit dem Jüdischen Museum in Berlin versucht hat darzustellen.

Es ist genau diese Leere, die Stille, die dem Holocaust folgte (bei Überlebenden wie bei Tätern, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), die so schwer zu benennen und Stück für Stück durchzuarbeiten ist. Wir können das nicht alleine leisten, und meist können wir es auch nicht in Gruppen (obwohl diese uns eine Illusion von Sicherheit und Kontrolle vermitteln mögen).

Es mangelt an fast allem, und zwar in emotionaler, kognitiver und behavioristischer Hinsicht. Einige haben Schwierigkeiten, Mitgefühl mit jenen zu empfinden, die gelitten haben, weil wir uns ihre Situation und ein Überleben darin nicht vorstellen können. Manche tendieren zur Vorstellung einer metaphysischen Welt: Weil diese Menschen zu Opfern wurden, müssen sie etwas begangen haben, was dies rechtfertigt. Andere haben nur begrenzte Einsicht, weil sie sofort an ihr eigenes Leiden denken. Aber es gibt auch Menschen, die sich dem Schmerz stellen und ihn aushalten; die ihren begrenzten Horizont verlassen und die Unendlichkeit des Anderen erfassen können. Das sind die Pioniere der Begegnung mit den Opfern und ihrer Hilfe.

Auf der kognitiven Seite haben wir Schwierigkeiten, die inneren Konflikte auszuhalten. Einen Konflikt angehen und zu bewältigen ist etwas anderes, als gegen jemanden zu kämpfen oder Partei für jemanden zu ergreifen; die letzteren Verhaltensweisen sind wir gewohnt. Wir sind gerne Partei für die eine Seite, die uns näher scheint, und greifen die andere an, verleugnen oder delegitimieren sie. Dadurch werden wir zu Sklaven des Konfliktes, denn wir nehmen ihn nicht mehr in seinem ganzen Umfang wahr und versuchen, die Tatsache zu bestreiten, dass jene, die den Konflikt systematisch planten, und jene, diean seinen Auswirkungen litten, Menschen mit demselben Denken, mit Seelen und Körpern waren. Aber es gibt natürlichauch jene, die über die Fähigkeit verfügen, kognitive Kontrolle und Illusionen fahren zu lassen, die systemorientiert denken, für die kognitive Komplexität und Zweideutigkeit Herausforderung und nicht Bedrohung sind.

Schließlich können wir nur wenig tun angesichts dieser riesigen Phänomene. Selbst wenn das Böse langsam an Macht gewinnt, scheint es uns anfangs nur sehr klein zu sein, zu klein, um irgend etwas dagegen zu unternehmen. Es wird immer auch Menschen geben, die wacher und auch kognitiv darauf vorbereitet sind, eine neue, vom Menschen verursachte Katastrophe zu verhindern oder eine bereits existierende an der Ausweitung zu hindern. Es ist unsere pädagogische Aufgabe, solche Menschen in den Mittelpunkt unseres Lernens aus Erfahrungen zu stellen und sie nicht etwa zu entwerten, weilsie in unserer westlichen Wettbewerbs- und Konsumgesellschaft nicht als Gewinnergelten.

Unsere Vorstellung, wie mit verdichteten Konflikten umzugehen ist, muss deshalb die bisherigen Mängel auf drei Ebenen benennen und jene bestimmen, die besser ausgestattet sind, um mit ihnen umzugehen. In diesem Diagramm werden menschliche Fähigkeiten verzeichnet, die sich fundamental von jenen unterscheiden, die in der Nachkriegsgesellschaft hoch gehalten wurden, die nämlich in Wirklichkeit die Vorkriegswerte fortführten - als ob sich der Holocaust nie ereignet hätte. Der Kalte Krieg hatte zu Stagnation geführt. Jetzt ist die Gelegenheit, diese Prozesse kritisch zu untersuchen, um den Holocaust als persönliche Erfahrung in den Mittelpunkt unserer Untersuchung der menschlichen Erfahrungen zu rücken. Wir müssen versuchen, diese Punkte in aller Bescheidenheit anzubringen, wann immer wir die Möglichkeit dazu sehen, bis sie akzeptiert werden. Darin sollte unsere gemeinsame Kultur der Erinnerung liegen.

Der Holocaust und der israelisch-palästinensische Konflikt

Ich bin häufig danach gefragt worden, ob ich als israelischer Jude und Wissenschaftler, der über die psychosozialen Nachwirkungen des Holocaust geforscht hat, verstehen kann, wie Menschen, die durch eine Hölle wie den Holocaust gegangen sind, bzw. ihre Nachfahren mit einer solchen Härte gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten vorgehen können. Wie kann es sein, dass die Juden, die nur sechzig Jahre zuvor von den Nationalsozialisten erniedrigt, verfolgt, ghettoisiert und ermordet wurden, heute eine ganze Bevölkerung durch Verfolgung quälen können - durch Checkpoints, Besatzung und Zerstörung von Land und Häusern, durch die Errichtung eines Zaunes, durch unterschiedsloses Schießen und Bomben? Wie ist dieses Paradoxon zu verstehen?

Die Fragesteller weisen sehr unterschiedliche Motivationen und Betroffenheiten auf. Zum einen handelt es sich um Antisemiten, die Freude dabei empfinden, Juden zu verletzen, und zwar aus zweifachen Gründen: darüber, was den Juden während des Holocaust angetan wurde und wofür die Antisemiten keinerlei Mitgefühl haben, zweitens wegen der komplizierten Position, in der sich die israelischen Juden derzeit befinden. Den Staat Israel sehen sie als Rechtfertigung für ihr apriori mit Hass verbundenes Denken an. Mit diesen Leuten diskutiere ich nicht, weil ich deren Position als unethisch und illegitim betrachte. Sie haben mit mir keine gemeinsame Kultur des Erinnerns.

Zum zweiten sind es Palästinenser oder ihre glühenden Unterstützer, die mich provozieren möchten: Sie möchten die Moralität des israelisch-jüdischen Besatzers in Frage stellen, indem sie das Argument, das gewöhnlich von Juden benutzt wird, um die totale Unterstützung für Israel zu erbitten, nämlich den Hinweis auf das, was den Juden während des Holocaust passiert ist, einfach gegen Israel kehren. Ich glaube, dass sie das Recht haben, diese Frage zu stellen, leben sie doch in unmittelbarem Kontakt mit den israelischen Juden, und sie leiden ganz sicher daran und haben bereits seit vielen Jahren gelitten. Aber nach meiner Erfahrung ist eine Diskussion dieser Fragen mit ihnen nur dann fruchtbar, wenn sie in der Lage und willens sind, nachzuvollziehen, was es bedeutet, dass die Juden durch die Hölle gingen, was es bedeutet, ein Drittel der weltweiten jüdischen Bevölkerung innerhalb von zwölf Jahren des Wahns einer "arischen" Vorherrschaft zu verlieren, während die Welt mehr oder weniger unbeteiligt zusah und es geschehen ließ.

In meiner israelisch-arabischen Studentengruppe beginnen manche arabischen Studenten das Seminar, indem sie die jüdischen Kommilitonen mit dieser Frage konfrontieren. Aber nachdem sie sich einige Geschichten von jüdischen Gruppenmitgliedern, deren Großeltern die Shoah durchgemacht hatten, angehört haben, verändert sich der Ton. Sie mögen das Verhalten der Israelis gegenüber den Palästinensern noch immer kritisieren, aber sie haben nun eine Vorstellung davon, was Juden erlitten haben und wovor sie sich noch immer fürchten. Auf ähnliche Weise erfahren jüdische Gruppenmitglieder vom Leiden der Palästinenser, wenn die arabischen Israeli erzählen, was sie von ihren Großeltern oder Eltern gehört haben, und sie denken wiederum über die eigenen Familiengeschichten nach, in denen die Geschichten der Palästinenser keinen Platz haben.

Zum dritten stellen Juden und ihre Freunde in der internationalen Gemeinschaft die erwähnten Fragen. Sie sind tief besorgt über ethische und Menschenrechtsfragen. Sie sind verletzt, sie empfinden tatsächlich Schmerz, zumindest seit 1967, als die Palästinenser unter israelische Besatzung gelangten. Sie können es nicht ertragen, in der Position eines potenziellen Gewalttäters und Besatzers zu sein. Was sie aus dem Holocaust gelernt haben, ist die universale und humanistische Lektion, nach der man Opfer und Minderheiten verteidigen sollte, wo immer sie sich befinden, einschließlich der Palästinenser. Sie leiden besonders an der arroganten israelischen und der dominanten jüdischen Diaspora-Position, sich nicht um Araber und um die Palästinenser im Besonderen zu scheren. Ich empfinde Sympathie für diese Einstellung, und einige gute Freunde teilen diese Position. Aber ich fürchte, dass diese Positionen ebenso einseitig ist wie die jüdische Gegenmeinung, mit der sie solche Schwierigkeiten haben. Denn die im Moment lauteste Gruppe in der Diaspora und unter israelischen Juden hat eine vollkommen andere Lektion aus dem Holocaust gelernt: "Wir können niemandem vertrauen, und deshalb sollten wir stark und dominant sein, weil wir nur so in dieser Welt überleben können, und wenn uns die Palästinenser im Weg sind, Pech gehabt, denn wir kümmern uns nur um uns selbst, weil sich niemand damals um uns gekümmert hat." Normalerweise stellen sie die oben erwähnten Fragen nicht.

Ich habe ein Problem mit beiden jüdischen Gruppen, den universalen Humanisten und den machtorientierten Isolationisten. Beide haben sie aus dem Holocaust nur jeweils eine Sache gelernt, und sie übertragen diese Lektion auf sehr verschiedene Realitäten. Sie erkennen nicht, wie sehr sich die Welt des Nahen Ostens heute von der in Europa vor dem Holocaust unterscheidet. Nach meiner eigenen psychologischen Terminologie haben sie den Konflikt nicht durchgearbeitet, und sie haben den Holocaust nicht genügend betrauert, um in der Lage zu sein, die heutigen Schwierigkeiten angemessen zu erkennen, ohne sich immer gleich auf den Holocaust zu beziehen. Ihre Logik wird entweder durch kognitive, rationale Werte (die Humanisten) oder durch ängstliche, racheerfüllte Emotionen (die Isolationisten) bestimmt. Die erste Gruppe kann Israels Vorgehen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten nicht akzeptieren, während die zweite keinerlei Kritik an Israels Besatzungspolitik ertragen kann, nicht einmal am Fehlverhalten der Vergangenheit. Die letztgenannte Gruppe überträgt ihre mit dem Holocaust verbundenen Aggressionen auf die Palästinenser, vielleicht als späte, unkontrollierte Schuldgefühle, weil man damals nicht genug getan habe zur Rettung derer, die hätten gerettet werden können.

Es gibt einen anderen Weg. Dieser wird im Moment zwischen den beiden polarisierten Meinungen zermahlen. Er wäre jedoch geeignet, mit den Schwierigkeiten angemessen umzugehen. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Trennzaun bzw. Mauer. Weil Hunderte von Israelis in den vergangenen vier Jahren von Selbstmordattentätern getötet wurden und ein Zaun diese von zivilen Zentren in Israel fern halten kann, hat Israel das Recht, seine Bevölkerung durch die Errichtung einer derartigen Barriere zu schützen. Aber weil dieser Zaun bzw. diese Mauer so gebaut wird, wie es die aktuelle israelische Regierung tut, nämlich innerhalb der Palästinensergebiete, und dadurch das alltägliche Leben für Hunderttausende von Menschen unerträglich macht, muss dieser Vorgang offen und laut kritisiert werden.

In den vergangenen vier Jahren haben Juden überall auf der Welt die Palästinenser dämonisiert, um sich nicht den wirklichen Themen zuwenden zu müssen: Israel muss die Besatzung beenden und die Siedlungen in der Westbank und in Gaza auflösen, damit die Palästinenser zu einem eigenen Staat in der Lage sind. Diese Zweistaatenlösung bedeutet nicht, dass es in der Zukunft keine Risiken mehr geben wird. Es ist nicht leicht für Juden, im Nahen Osten zu leben. Aber das bedeutet nicht, dass man alles und jedes mit dem Holocaust vergleicht, der ein anderes Ereignis zu einer anderen Zeit der Geschichte war.

Meine Kultur der Erinnerung bedeutet, kalkulierbare Risiken auf sich zu nehmen und Mitgefühl gegenüber der palästinensischen Tragödie aufzubringen, aber auch, die Palästinenser mit der unseren zu konfrontieren. Wir waren 1993 für kurze Zeit auf diesem Weg, und dahin müssen wir zurück. Wir sollten dieser Richtung Stimme und Gelegenheit geben, damit Israelis und Palästinenser erst ihre internen Schwierigkeiten austragen, bevor sie verkünden, welche Lehren sie aus der Geschichte gezogen haben.

Quellen / Literatur

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Tom Segev, The Seventh Million, Jerusalem 1992 (hebräisch/H); dt. Reinbek 1995.

  2. Vgl. Dan Bar-On/O. Selah, The "vicious cycle" between current social and political attitudes and attitudes towards the Holocaust among Israeli youngsters, in: Psychologia, 2 (1991) 2, S. 126 - 138 (H).

  3. Vgl. Dan Bar-On, The "Other" Within Us: Changes in the Israeli Identity from a Psychosocial Perspective, Jerusalem 1999 (H); dt. Hamburg (Körber-Stiftung) 2001.

  4. Vgl. ders./P. Hare/M. Brusten/F. Beiner, "Working through" the Holocaust? Comparing questionnaire results of German and Israeli students, in: Holocaust & Genocide Studies, 7 (1993) 2, S. 230 - 246.

  5. Vgl. Helga Hirsch, Schweres Gepäck, Hamburg 2003.

  6. Die Sabra ist eine tropische Frucht mit einer dornigen Schale. Sie wurde zur Metapher für den in Israel geborenen Juden, dessen Äußeres häufig rau sei, der aber einen weichen Kern aufweise.

  7. Vgl. Dan Bar-On/A. Gaon, "We suffered too": Nazi children's inability to relate to the suffering of the victims of the Holocaust, in: Journal of Humanistic Psychology, 31 (1991) 4, S. 77 - 95.

  8. Im Frühsommer 1944 wurden mehr als 15 000 ungarische Juden anstatt nach Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Österreich verschickt. Diese so genannten "Kastner-Juden" - Rudolf Kastner verhandelte als Leiter des zionistischen Budapester Hilfs- und Rettungskomitees mit der SS - wurden im Raum Wien und Niederösterreich zum Arbeitseinsatz verschleppt. Ende 1944 und im Frühjahr 1945 wurde ein großer Teil von ihnen nach Theresienstadt deportiert. Insgesamt 1 648 Juden, darunter Mitglieder seiner eigenen Familie, verdanken Kastner ihr Leben. Kastner wurde 1957 in Israel ermordet. In einem Gerichtsverfahren war ihm zuvor vorgeworfen worden, "mit dem Teufel" (Adolf Eichmann) verhandelt und nur jene Juden gerettet zu haben, die ihm nahe standen. Die Rettung war teuer erkauft: Kastner wusste von der bevorstehenden Vernichtung der über 450 000 ungarischen Juden, musste diese aber verschweigen.

  9. Vgl. Allan Young, The Harmony of Illusions, Princeton 1996.

  10. Vgl. Christopher Browning, Ordinary Men, New York 1992.

  11. Vgl. Emanuel Levinas, Totality & Infinity: An Essay on Exteriority, Pittsburgh 1990 (frz. Orig. 1961).

  12. Vgl. Dan Bar-On, Who counts as a Holocaust survivor? Who suffered more? Why did the Jews not take revenge on the Germans after the war?, in: Freie Assoziationen, 4 (2001) 2, S. 155 - 187.

  13. Vgl. ders., Erzähl dein Leben! Meine Wege zur Dialogarbeit und politischen Verständigung, Hamburg (Körber-Stiftung) 2004.

Weitere Inhalte

M.A., Ph.D., geb. 1938; Professor für Psychologie an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva/Israel; Co-Direktor des Peace Research Institute in the Middle East, Beit Jala/Palästina. Department of Behavioral Sciences, Ben Gurion University of the Negev, P.O. Box 654, Beer Sheva 84105, Israel.
E-Mail: E-Mail Link: danbaron@bgu.ac.il