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Juden in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts

Kim Wünschmann

/ 6 Minuten zu lesen

Der Fall der Berliner Mauer im November 1989 und der politische Systemwechsel in Ostmitteleuropa, der 1991 im Zusammenbruch der Sowjetunion gipfelte, hatten dramatische Auswirkungen auch für die europäischen Juden. Das Ende der kommunistischen Diktaturen und der fortschreitende Einigungsprozess zur Europäischen Union bewirkten große gesellschaftliche Neuordnungen, die auch Angehörige der jüdischen Minderheit vor die Frage stellte, wo sie leben wollten und wie sie sich selbst definierten.

Neue Synagoe Berlin (© dpa)

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das europäische Judentum vielfältiger denn je. Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft ist nicht mehr allein identitätsstiftend. In den multiethnischen Gesellschaften Europas, in denen verschiedene Kulturen und individuelle Lebensstile nebeneinander existieren, gestalten sich auch jüdische Identitäten zunehmend komplexer. Von den geschätzt beinahe zwei Millionen Juden Europas sind heute bei weitem nicht mehr alle auch Gemeindemitglieder. Nationale und regionale Unterschiede prägen zudem die jüdischen Lebenswelten, deren Zentren sich nach 1989/90 von Ost- nach Westeuropa verlagert haben.

Späte Entschädigung für NS-Unrecht

Der Zerfall der Sowjetunion brachte bis dahin gültige Geschichtsbilder ins Wanken und führte zu einem anderen Umgang mit der Vergangenheit. Der Völkermord an den europäischen Juden, der während des Kommunismus in seiner Bedeutung stark heruntergespielt worden war, wurde nun in seiner Besonderheit anerkannt. Post-kommunistische Regierungen bekannten sich zu einer Mitverantwortung ihres Landes am Leid der jüdischen Bevölkerung. Ungarns Staatspräsident Árpád Göncz beispielsweise kam in seiner Rede anlässlich der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden im April 1994 kritisch auf die Beteiligung von Staat und Gesellschaft bei der Judenverfolgung zu sprechen. In der Tschechischen Republik wurde zur gleichen Zeit ein Gesetz verabschiedet, das die Rückgabe von im Nationalsozialismus konfisziertem jüdischem Eigentum vorsah. In Polen, wo Anfang der 1990er Jahre noch etwa 6.000 Juden lebten, wurde 1991 von den Kanzeln im ganzen Land ein Hirtenbrief verlesen, in dem die Spitzen der katholischen Kirche in vorher nie dagewesener Weise den Antisemitismus verurteilten. Die polnischen Bischöfe riefen außerdem zu einem christlich-jüdischen Dialog auf, der von gegenseitigem Respekt für die Religion des anderen geleitet sein solle.

Mit dem Prozess zur deutschen Einheit verpflichtete sich die Bundesrepublik, im Gegensatz zu ihrer bisherigen Praxis der Wiedergutmachung, nun auch Personen in Ost- und Südosteuropa zu entschädigen, die während des Zweiten Weltkriegs durch nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen schwere Schäden erlitten hatten. Jüdische Verfolgte mit Wohnsitz in Osteuropa erhalten im Hinblick auf ihr besonderes Leiden zusätzliche Ausgleichsleistungen aus dem 1998 eigens eingerichteten „Osteuropa Fond“. Er wird bis heute von der Jewish Claims Conference verwaltet, einer Organisation, die die Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer vertritt. Um die ehemaligen Zwangsarbeiter des NS-Regimes zu entschädigen, wurde im Jahr 2000 die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ errichtet und mit Mitteln in Höhe von 10 Milliarden DM ausgestattet – einem Betrag, der je zur Hälfte von der Bundesregierung und von deutschen Wirtschaftsunternehmen aufgebracht wurde.

Durch diese späten Entschädigungsleistungen konnten Holocaust-Überlebende wie Interner Link: Matilda Kalef-Cerge in Serbien oder Interner Link: Larry Anzhel, der während des Krieges in einem Arbeitslager im bulgarischen Vratsa interniert war, ihre wirtschaftliche Situation zumindest geringfügig aufbessern. Neben staatlichen Reparationen konnten Juden in Osteuropa auch Unterstützung durch jüdische Hilfsorganisationen wie dem amerikanischen Joint Distribution Committee bekommen. Jüdische Organisationen investierten vor allem auch in den (Neu-)Aufbau von Gemeindestrukturen, jüdischen Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Interner Link: Matilda Albuhaire, die vom Joint eine kleine Rente erhält, berichtet, wie in ihrer Gemeinde im bulgarischen Bourgas nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wieder ein reges jüdisches Leben entsteht. Sie selbst besucht, so oft es ihr möglich ist, die Synagoge und engagiert sich im Seniorenverein, in einem hebräischen Debattierklub und bei der Errichtung eines Gesundheitszentrums.

Jugoslawienkriege und neuer Antisemitismus

Ab 1991 bis 1999 brach auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens eine Serie von Kriegen aus, die mit dem Zerfall des Staates und den Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Teilrepubliken und Bevölkerungsgruppen verbunden waren. Die bewaffneten Konflikte, in denen ethnische Zugehörigkeit und Religion eine entscheidende Rolle spielten, verschärften auch die Situation der jüdischen Minderheit auf dem Balkan.

Bis dato konnten die etwa 12.000 jugoslawischen Juden ihre Religion relativ frei ausüben und waren im Gegensatz zu Juden in anderen kommunistischen Staaten von antisemitischen Kampagnen weitgehend verschont geblieben. Im Krieg, in dem Serben und Kroaten sich gegenseitig des Antisemitismus und der Beteiligung an nationalsozialistischen Gräueltaten bezichtigten, fanden Juden sich zwischen den Fronten. Zunehmend unsicher wurde ihre Lage in der durch Truppen der bosnischen Serben belagerten und stark umkämpften Stadt Sarajevo – vormals eine multi-ethnische Metropole. In Evakuierungsaktionen brachten 1991 jüdische Organisation etwa 1.500 bosnische Juden aus dem Kriegsgebiet vor allem nach Israel, wo die meisten von ihnen sich dauerhaft niederließen. Traumatische Erinnerungen an die NATO-Luftangriffe auf Serbien während des Kosovokriegs 1999 plagen Interner Link: Matilda Kalef-Cerge. Mit Erleichterung stellte sie nach Ende des Krieges fest, dass das Haus, welches ihre Familie an der kroatischen Küste besitzt, von der Zerstörung verschont geblieben war.

In vielen anderen europäischen Staaten brachten die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Wendezeit nicht nur neue Freiheiten, sondern sie führten auch zu einem Erstarken von Nationalismus und Rechtsextremismus. Rechtspopulistische Parteien wie die Republikaner (REP) oder die NPD in Deutschland, Jörg Haiders FPÖ in Österreich oder der Front National in Frankreich mobilisieren ihre Wähler mit fremdenfeindlichen und rassistischen Parolen. Im wiedervereinigten Deutschland kam es in den frühen 1990er Jahre zu zahlreichen Angriffen auf Immigranten und Asylbewerber. Auch antisemitische Vorfälle, darunter Brandanschläge wie der gegen die „Jüdische Baracke“ in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in September 1992 oder die Schändungen jüdischer Friedhöfe, häuften sich.

Massenauswanderung aus der ehemaligen Sowjetunion

Mit dem Zerfall der Sowjetunion fielen auch die Reise- und Auswanderungsbeschränkungen für Juden. Die Folge war ein Massenexodus, durch den die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde in Russland auf nur noch etwa 210.000 im Jahre 2009 fiel. Zwischen 1989 und 2002 verließen mehr als 1,5 Millionen Juden die ehemalige Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten (GUS). Nahezu eine Million (940.000) wanderten nach Israel ein – das einzige Land, in dem sie auf eine Politik der „offenen Tür“ trafen und sofort die Staatsbürgerschaft erhielten. Im Vergleich zu früheren Einwanderungswellen waren unter den russischen Immigranten der frühen 1990er Jahre auch viele alte und gebrechliche Juden, deren Versorgung das israelische Sozialsystem vor große Herausforderungen stellte. Als Altersgründen beschloss auch Interner Link: Haya-Lea Detinko nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“, dass ein Neuanfang in Israel für sie nicht mehr in Frage kam. Sie nutzte jedoch die neugewonnene Reisefreiheit für einen langersehnten und ausgedehnten Besuch, bei dem sie nach über 50 Jahren ihre Familie und viele alte Freunde aus ihrer polnischen Heimatstadt Rowno wiedertraf.

Geschätzte 300.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion siedelten nach 1989 in die USA über. Ihre Zahl wäre wohl größer gewesen, hätte die US-Regierung nicht im selben Jahr beschlossen, die Einreise von russischen Juden zu beschränken und ihnen nicht mehr automatisch einen Flüchtlingsstatus anzuerkennen. Deutschland wiederum öffnete nach der Wende seine Grenzen für die Zuwanderung russischer Juden. Bis 2005 trafen mehr als 200.000 Personen ein. Ihre Aufnahme wurde von 1991 bis Ende 2004 durch das sogenannte Kontingentsflüchtlingsgesetz geregelt, das es Deutschland ermöglicht, im Rahmen internationaler humanitärer Hilfsaktionen eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen aus Krisenregionen aufzunehmen. Als Kontingentsflüchtlinge erhielten die jüdischen Zuwanderer aus Russland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, eine Arbeitserlaubnis sowie Ansprüche auf Sozialleistungen und Ausbildungsförderung.

Juden im wiedervereinigten Deutschland

Durch die massive Zuwanderung russischer Juden entwickelte sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach Frankreich und Großbritannien zur heute drittgrößten in Westeuropa. Aus einer kommunistisch, anti-religiösen Gesellschaft kommend, hatten die Zuwanderer kaum Bezüge zur Religion und Kultur des Judentums. Jahrzehntelang unterdrückt war ihre jüdische Identität nur sehr schwach ausgeprägt. So schlossen sich auch nur etwa 80.000 russische Juden – weniger als die Hälfte der Einwanderer – einer der über 80 jüdischen Gemeinden in Deutschland an. Gleichwohl stellten sie im Verhältnis zu den beinahe 30.000 alteingesessenen Mitgliedern eine überwältigende Mehrheit da. Auseinandersetzungen um die Inhalte und die Organisation des Gemeindelebens blieben nicht aus. Das Selbstverständnis der jüdischen Religionsgemeinschaft als Einheitsgemeinde, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem orthodoxen Ritus folgte, wurde angefochten. Neue Strömungen etablierten sich.

Jenseits der Konflikte halfen die jüdischen Gemeinden, die durch die russischen Zuwanderer enorm verjüngt worden waren, diesen aber auch bei der Integration in die deutsche Gesellschaft. Während die erste Generation russischer Juden, die zwar durchschnittlich ein hohes Bildungsniveau aufweist, mit Sprachbarrieren kämpfte und teils große Schwierigkeiten hatte, auf dem angespannten Arbeitsmarkt eine ihren Qualifikationen entsprechende Anstellung zu finden, beginnt die zweite Generation bereits, erfolgreich in die Mittelschicht aufzusteigen. Die jüdische Gemeinde in Deutschland gehört dank der russischen Zuwanderer heute zu den weltweit am schnellsten wachsenden. In vielen deutschen Städten entsteht neues jüdisches Leben. Kulturzentren, Synagogen, Schulen aber auch Restaurants eröffnen.

Fussnoten

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Die Historikerin Dr. Kim Wünschmann ist Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Sie forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, zur jüdischen Geschichte und Kultur, zum Schicksal von Zivilist:innen im Krieg und zu Geschichte im Comic.
Email: E-Mail Link: kim.wuenschmann@igdj-hh.de