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Quellen und Forschung Zum Hintergrund der in den historischen Karten verwendeten Zahlen

Kim Wünschmann

/ 5 Minuten zu lesen

Die Dimension der nationalsozialistischen Vertreibung und Vernichtung wird durch eine Vielzahl von historischen Quellen bezeugt. Dennoch sind über die genauen Zahlen der Geflohenen und Ermordeten nur annäherungsweise Angaben zu machen. Kim Wünschmann beschreibt in diesem Artikel, wie die Zahlen ermittelt wurden und vor welchen Herausforderungen Wissenschaftler/-innen bei der Suche nach definiten Zahlen über den Holocaust stehen.

Nie zuvor in der Geschichte wurden die Juden Europas in derart hoher Zahl und mit einer solch beispiellosen Systematik verfolgt und ermordet wie zur Zeit des Nationalsozialismus. An der gewaltigen Dimension des Völkermords, dessen Tatorte quer über den Kontinent verstreut lagen, besteht kein Zweifel. Originale und unanfechtbare Dokumente beweisen dieses Menschheitsverbrechen, welches gigantische Ströme von jüdischen Flüchtlingen und Überlebenden in Bewegung setzte, die auch noch lange Zeit nach Kriegsende auf der Suche nach einer neuen Heimat waren. Für die Anerkennung der historischen Tatsachen sowie deren moralische Bewertung sind absolute Zahlen und akribisch genaue Statistiken ohne Bedeutung. Wenn die Wissenschaft sich dennoch anhaltend mit den Berechnungen der Zahl der jüdischen Todesopfer sowie der Anzahl der Überlebenden und der Flüchtlinge beschäftigt, so geschieht dies mit dem Ziel, die Ausmaße des Verbrechens zu verdeutlichen und die Verfolgung und Vernichtung in ihrer zeitlichen Abfolge und regionalen Spezifik feiner auszudifferenzieren. Forschungen zur Zahl der während des Nationalsozialismus ermordeten europäischen Juden können zudem wirkungsvoll den von rechtsextremen antisemitischen Kreisen betriebenen Geschichtsfälschungen entgegentreten.

Die Quellen

Anhand einer ganzen Reihe von historischen Quellen kann jenseits aller Spekulation die Größenordnung der Vertreibung und Vernichtung der europäischen Juden ermittelt werden. Die Nationalsozialisten selbst hinterließen Dokumente, die über die zahlenmäßige Dimension ihrer Verbrechen Auskunft geben. Dazu gehören Deportationslisten und Transportverzeichnisse sowie die von den Lagerverwaltungen angelegten Zugangslisten, Häftlingsmeldungen und Sterbebücher. Einige Originalquellen, die von den Tätern errechnete statistische Angaben zum Mord an den europäischen Juden enthalten, sind für die Forschung von besonderer Bedeutung. Hierzu zählen die Meldungen der Einsatzgruppen über die Massenerschießungen vor allem ab 1941 in der Sowjetunion, das Protokoll der Wannseekonferenz vom Januar 1942 und der Bericht des SS-Statistikers Richard Korherr, der bilanzierte, dass bis Ende März 1943 bereits zweieinhalb Millionen Juden getötet wurden. Diese Überlieferung wird ergänzt durch amtliche Quellen staatlicher Stellen. In den Akten von Standesämtern, Einwohnermeldeämtern, Polizei-, Finanz- und Justizbehörden finden sich zahlenmäßige Angaben über jüdische Schicksale. Die vom NS-Terror in Gang gesetzten massenhaften Wanderbewegungen von Juden aus ganz Europa fanden ihren statistischen Niederschlag zudem in den Aus- und Einwanderungsverzeichnissen verschiedener Länder sowie in den Unterlagen jüdischer Einrichtungen und den Berichten internationaler Flüchtlingsorganisationen.

Die Forschung

Die im Rahmen des Dossiers „Gerettete Geschichten“ produzierten Karten stützen sich auf anerkannte wissenschaftliche Studien zur Errechnung der Zahl der während des Nationalsozialismus vertriebenen und ermordeten Juden Europas. Durch ein sorgfältiges methodisches Vorgehen, das in Form von Regionalstudien die Zahlen von Land zu Land einzeln untersucht, können in diesen Forschungen Doppelzählungen vermieden werden. Im Ergebnis produzieren sie eine verifizierbare Spanne zwischen Mindest- und Höchstangaben, die dann fundierte Schätzungen ermöglichen. Der wissenschaftlichen Redlichkeit verpflichtet, reflektieren diese Studien offen die Schwierigkeiten und Herausforderungen in der Zahlenberechnung. Sie stellen klar, dass die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden Europas ein historisches Ereignis war, welches sich aufgrund seines dynamischen, gewaltsamen und verbrecherischen Charakters in den Quellen nicht immer in definitiven Zahlen niedergeschlagen hat. Die Errechnung einer absoluten Zahl der Toten, für die jedes Opfer einzeln gezählt werden müsste, ist unmöglich. Ebensowenig lässt sich genau ermitteln, wie viele Juden vor und nach dem Holocaust in einem Land lebten bzw. wie viele ein- und ausgewandert waren. Lückenhafte Aufzeichnung und schlichte Nichtregistrierung, uneinheitliche religiöse, nationale und ethnische Kategorisierungen in Volkszählungen sowie Zu- und Abwanderungsverzeichnisses, sich mehrfach verschiebende Grenz- und Demarkationslinien und das Phänomen der Weiterwanderung stellen die Forschung vor ernsthafte Probleme. Zudem bestehen bezüglich des Ausmaßes und der Qualität der Dokumentation teils erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen Europas. Wohingegen die Quellenlage für das Deutsche Reich und Westeuropa als gut zu bezeichnen ist, wird sie für Länder östlich der Tschechoslowakei – besonders für Polen, die Sowjetunion und die baltischen Staaten – lückenhaft. Die besonderen Herausforderungen für die Berechnung der in den einzelnen Karten verwendeten Zahlen werden im Folgenden kurz dargestellt.

Karte „Vertreibung und Vernichtung der Juden während der NS-Herrschaft“

Die in dieser Karte angegeben Zahlen können, wie auch die Gesamtzahl von rund sechs Millionen jüdischer Opfer des Nationalsozialismus, lediglich Schätzungen sein. Vor allem aufgrund der lückenhaften Quellenlage lässt sich eine genaue Todeszahl nicht mehr errechnen. Die Täter zerstörten bei Kriegsende den Großteil der Beweise für ihre Verbrechen; die überwältigende Mehrheit der Verfolgten starb, ohne dass sie Zeugnis ablegen konnten. Erschwert werden die Schätzungen zudem durch die Frage, wer überhaupt zur jüdischen Opfergruppe zu zählen ist. Ungeachtet persönlicher Selbstbestimmung erklärten die Nationalsozialisten auch Menschen zu Juden, die sich selbst nicht als solche betrachteten. Mit dem Ziel, eine gesicherte Mindestzahl von Todesopfern zu errechnen, wird in der dieser Karte zugrundeliegenden Forschung sorgsam darauf geachtet, Doppelzählungen zu vermeiden, die durch mehrfache Grenzverschiebungen und die sich in alle Himmelsrichtungen bewegenden Strömen jüdischer Flüchtlinge entstehen können. Dieses Problem erweist sich als besonders heikel im Fall von Polen und der Sowjetunion – Ländern, in denen die Haupttatorte des Holocaust lagen.

Karte „Exilländer der Juden aus Deutschland“

Genaue Zahlen zur jüdischen Auswanderung aus Deutschland kann es aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht geben. Systematische Aufzeichnungen waren unmöglich in einer historischen Situation, in der Menschen gezwungen waren, Grenzen vorgeblich als Touristen oder auch gänzlich ohne gültige Papiere zu überqueren, um ihr Leben zu retten. Auch die Einwanderungsstatistiken der Aufnahmeländer sind oft ungenau was die religiöse, nationale oder ethnische Identität der Immigranten anbetrifft. Schließlich bleibt zu beachten, dass viele jüdische Flüchtlinge von ihrem ersten Aufnahmeland an andere Ziele weiterwanderten. In vielen europäischen Ländern beispielsweise war ihre Sicherheit nach der deutschen Eroberung nicht mehr gewährleistet. Die strenge Quotenregelung in den USA, die pro Jahr nur knapp über 27.000 Deutschen die Einreise erlaubte, machte oft Umwege über andere Länder nötig. In der Karte sind solche Transitländer mit einem Pfeilsymbol gekennzeichnet.

Karte „Die europäischen Juden nach 1945“

Massenhafte Migrationsbewegungen sowie auch die zahlreichen Grenzverschiebungen vor und nach 1945 erschweren die Berechnung der Zahl der jüdischen Überlebenden in den einzelnen europäischen Ländern. Zentrale Siedlungsgebiete von Juden in Osteuropa standen unter mehrfach wechselnder Herrschaft, Flüchtlinge wurden nach dem Krieg zwangsumgesiedelt oder in ihre Ursprungsländer repatriiert, und so ist man besonders für den polnisch-sowjetischen Raum weitgehend auf Schätzungen angewiesen. Die Quellenlage insgesamt ist lückenhaft und uneinheitlich. Eine systematische Registrierung jüdischer Überlebender durch staatliche Behörden, jüdische Einrichtungen und internationale Hilfsorganisationen war in den Wirren der Nachkriegszeit kein einfaches Unterfangen. Unterschiedliche Definitionen der religiösen und nationalen Zugehörigkeit führten in offiziellen Erhebungen zu abweichenden Ergebnissen. Hinzu kommt, dass angesichts der repressiven Minderheitenpolitik und des Assimilationsdrucks der kommunistischen Regime viele Überlebende in Osteuropa es vorzogen, in Volkszählungen ihre jüdische Herkunft zu verschweigen.

Forschungsliteratur

  • Benz, Wolfgang (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1996.

  • Pohl, Dieter, Menschenleben und Statistik. Zur Errechnung der während des Nationalsozialismus ermordeten Juden Europas, in: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Hrsg.), Materialien zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin 2005, S. 72-77.

  • Proudfoot, Malcolm J., European Refugees 1939-53. A Study in Forced Population Movement, Evanston, Illinois 1956.

  • Stiftung Jüdisches Museum Berlin/ Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933, Frankfurt am Main 2006.

Fussnoten

Die Historikerin Dr. Kim Wünschmann ist Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Sie forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, zur jüdischen Geschichte und Kultur, zum Schicksal von Zivilist:innen im Krieg und zu Geschichte im Comic.
Email: E-Mail Link: kim.wuenschmann@igdj-hh.de