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Der jungtürkische Genozid im Ersten Weltkrieg

Hans-Lukas Kieser

/ 14 Minuten zu lesen

1915/16 kam mehr als die Hälfte der 1,5-2 Millionen osmanischen Armenier Kleinasiens als Opfer einer Innenpolitik ums Leben, die sich frontal gegen sie richtete. An der Spitze des Osmanischen Reichs stand 1913–18 eine diktatorische jungtürkische Komiteeregierung, die im Ersten Weltkrieg ihre eigene Macht und das wankende Großreich sichern wollte. Im Innern verfolgte sie eine Politik, die nach der neuen Ideologie des Türkismus darauf abzielte, in Kleinasien ein Nationalheim für Türken (Türk Yurdu) zu schaffen.

Der 'Zug' der Armenier: Fast eine halbe Million Vetriebene starb bereits bei den Deportstationsmärschen durch die Wüste. (© Public Domain)

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand die Massengewalt des Ersten Weltkriegs im langen Schatten des Zweiten Weltkriegs, auch die strategische Konditionierung des Kalten Krieges prägte die universitäre Wissenschaft. Der Völkermord an den Armeniern blieb daher lange Zeit wenig erforscht und die Historiografie zum Thema Genozid in der Ära der Weltkriege bruchstückhaft. Dies trifft insbesondere auf Deutschland, den Seniorpartner der jungtürkischen Komiteeregierung zu. Für Deutschland stellt der Völkermord an den Armeniern ein folgenreiches Kapitel dieser Ära dar. Erst nach Ende des Kalten Krieges setzte in Deutschland eine anhaltende wissenschaftliche und politische Aufarbeitung ein, die noch nicht abgeschlossen ist.

1915/16 kam mehr als die Hälfte der 1,5-2 Millionen osmanischen Armenier Kleinasiens als Opfer einer Innenpolitik, die sich frontal gegen sie richtete, ums Leben. An der Spitze des Osmanischen Reichs stand 1913–18 eine diktatorische jungtürkische Komiteeregierung, die im Ersten Weltkrieg ihre eigene Macht und das wankende Großreich sichern wollte. Im Innern verfolgte sie eine Politik, die nach der neuen Ideologie des Türkismus darauf abzielte, in Kleinasien ein Nationalheim für Türken (Türk Yurdu) zu schaffen. Zu letzteren zählten Hunderttausende muslimischer Flüchtlinge der Balkankriege von 1912/13.

Zu Zielscheiben einer Politik, die Kleinasien türkisieren wollte, wurden vor allem Christen. Sie galten seit den frühen 1910er Jahren zunehmend als Elemente im Staat, die sich nicht assimilieren ließen. Doch vor allem die Armenier sahen sich im Ersten Weltkrieg in ganz Kleinasien sowie in Thrakien und Syrien Massenraubmord, Vergewaltigung und Versklavung ausgesetzt. In den Ostprovinzen Diyarbakir, Bitlis und Van unterschieden die regionalen Entscheidungsträger und ein antichristlicher Dschihad indes kaum zwischen verschiedenen christlichen Gruppen, so dass auch etwa 200.000 assyrische Christen Opfer eines Genozids wurden, den sie seither Seyfo (Schwert) nennen.

Ahmet Cemal Pascha (1872-1922) (© Aga Ref-Nr. img090)

Ahmet Cemal Pascha gehörte dem aus "drei Paschas” gebildeten Triumvirat an, dem Führungskader der Partei Ittihat ve Terakki Cemiyeti. Armenische Waisenkinder ließ er an muslimische Familien verteilen – durch diese Zwangsislamisierung war er maßgeblich für die Entfremdung der Überlebenden von ihrer Religion, Sprache und kultureller Zugehörigkeit verantwortlich. Weniger antiarmenisch als Talat und Enver, rettete er ca. 150.000 Armenier vor dem Tod in der Wüste, indem er sie zu Muslimen erklärte und u.a. in Palästina ansiedelte.

Ein revolutionäres Komitee gelangt an die Spitze des Osmanischen Reichs

"Die orientalische Frage" in der internationalen Diplomatie drehte sich seit dem späten 18. Jahrhundert um die Zukunft des Osmanischen Reiches, und damit sowohl um Reformmöglichkeiten als auch um nachosmanische Perspektiven im Nahen Osten. Lange stand der Balkan im Vordergrund der Frage, so auch noch im Vorfeld der Jungtürkischen Revolution von 1908. Seit dem Berliner Kongress von 1878 dominierte für den Balkan die Idee nachosmanischer Nationalstaaten mit eigener ethnoreligiöser Identität. Diese Perspektive stand im Gegensatz zu den nicht-territorialen Autonomien, die der osmanische Vielvölkerstaat seinen Christen und Juden als sogenannten millet zugestand. Sie gingen seit dem Reformedikt von 1856 mit (im Prinzip) rechtlicher Gleichstellung aller Staatsangehörigen einher. Die Gleichstellung rief den Protest vieler Muslime hervor, sodass sie vielerorts nicht verwirklicht wurde.

Enver Pascha (1881-1922), Kriegsminister 1913-1918, zählte ebenfalls zu den Trägern der Partei Ittihat ve Terakki Cemiyeti. Er sah die Armenier als Hindernis auf dem Weg zum "Großtürkenreich Turan". (© Aga Ref-Nr. img089)

Die verlorenen Balkankriege von 1912/13 konfrontierten die osmanische Elite mit der Realität, dass der Balkan, der seit dem 14. Jahrhundert neben Kleinasien ein Standbein des osmanischen Staates gebildet hatte, definitiv verloren war. In der türkischsprachigen muslimischen Elite herrschte breiter Konsens, dass die osmanische Reformvision und damit rechtliche Gleichheit zusammen mit ethnoreligiöser Vielfalt überall gescheitert seien. Noch die Revolution von 1908 hatte zuvor nach dreißig Jahren autoritärer Herrschaft des Sultans Abdulhamid II. diese Vision einer Reform mit Elan aufgegriffen, die erste osmanische Verfassung von 1876 wieder in Kraft gesetzt und sie demokratisch ausgebaut.

Träger der Revolution von 1908 waren das jungtürkische Komitee Einheit und Fortschritt (KEF) und die Armenische Revolutionäre Föderation (ARF), die sich 1907 verbündet hatten. An der Frage international kontrollierter Reformen im kurdisch-armenischen Siedlungsgebiet entzweiten sich die beiden Partner am Vorabend des Weltkriegs. Allerdings wurde das Vertrauen schon im April 1909 erschüttert, als eine von KEF-Offizieren geführte Truppe und der lokale Ableger des KEF zum Massaker an Armeniern in Adana beitrugen, statt sie vor Pogromen zu schützen. Über 20.000 starben, wie auch etwa 1.000 Angreifer, da die Opfer sich wehrten. Reflexe gegen die Gleichstellung der Armenier und sunnitische Solidarität hatten bei den KEF-Männern die zarte Pflanze rechtsstaatlichen Verfassungspatriotismus erstickt.

Mehmet Talat Pascha (1874-1921), einer der einflussreichsten Politiker der Partei "Komitee für Einheit und Fortschritt" (türk.: İttihat ve Terakki Cemiyeti), hat während seiner Amtszeit als Innenminister (1911, 1913-1918) den Völkermord an den armenischen Bürgern des Osmanischen Reiches maßgeblich initiiert, geplant und organisiert. (© Aga Ref-Nr. img088)

All dies geschah, obwohl der Artikel 61 des Berliner Vertrags von 1878 Sicherheit für Leben und Eigentum der Armenier beziehungsweise "Armenische Reformen”, wie sie verkürzt genannt wurden, verlangte. Ein erstes Reformprojekt für die gemischten, namentlich kurdisch-armenischen Siedlungsgebiete im östlichen Kleinasien, unterschrieb die osmanische Regierung im Herbst 1895. Doch folgte in den Wochen danach eine beispiellose Massakerwelle in großen Teilen Kleinasiens, der rund 100.000 armenische Männer und Knaben zum Opfer fielen. Sie hat den deutschen Theologen und Publizisten Interner Link: Johannes Lepsius veranlasst, 1896 das Buch "Armenien und Europa: Eine Anklageschrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland" zu veröffentlichen, das mehrfach aufgelegt und übersetzt wurde.

Erst 1912 rückte das Reformprojekt wieder ins Rampenlicht der orientalischen Frage. Ein Hauptstreitpunkt war armenisches Land, das sich muslimische Lokalherren seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts widerrechtlich angeeignet hatten. Unter Federführung Russlands und zusammen mit Deutschland, das sich erstmals in der armenischen Frage engagierte, wurde ein Plan erarbeitet, den die osmanische Regierung am 8. Februar 1914 unterschrieb. Er gab zwei europäischen Inspektoren aus neutralen Staaten weitreichende Kompetenzen, um die Rückgabe von Land, die faire Beteiligung aller Volksgruppen in den regionalen Räten, der Verwaltung und den Sicherheitskräften sowie den offiziellen Gebrauch regionaler Sprachen durchzusetzen. Die damaligen Forderungen sind in den Kurdengebieten der Türkei heute noch aktuell.

Im Januar 1913 hatte sich das KEF nach einem halben Jahr in der Opposition an die Macht geputscht und seither zunehmend diktatorisch regiert. Damit stand im 20. Jahrhundert erstmals ein revolutionäres Komitee an der Spitze eines Großreichs. Rechtsgerichtet, setzte es auf Nationalismus, Pantürkismus und Islamismus. An Demokratie und eine gemeinsame Zukunft mit den osmanischen Christen glaubte es nicht mehr. Vielmehr führte diese Mischung aus Islamismus und völkischem Türkismus zu einer militanten Ideologie. Das KEF hatte in den Balkankriegen punktuell begründete Zweifel an der Loyalität griechisch-orthodoxer Christen (Rûm) an der Ägäisküste gehegt, reagierte indes auch aus pauschaler Rache für die Verluste im Balkankrieg, als es im Juni 1914 rund 200.000 Rûm nach Griechenland vertrieb. Die jungtürkische Regierung verklärte dies als "spontane Aktionen von Balkanflüchtlingen vor Ort", die sie danach in den Häusern der Vertriebenen ansiedelte.

Die europäische Julikrise von 1914 erlaubte Innenminister Mehmed Talat und Kriegsminister Ismail Enver, den beiden einflussreichsten Führern des KEF, das geostrategische Erdbeben, das sich abzeichnete, zu ihren Gunsten zu nutzen. Sie verbündeten sich mit Deutschland, das mit der Unterstützung des Reformplans eigentlich auf eine konstruktive Orientpolitik gesetzt hatte, und weiteten damit den Weltkrieg in die osmanische Welt aus.

Der geheime Bündnisvertrag wurde am 2. August unterschrieben und vom KEF als entscheidender Schritt hin zu ungestörter Souveränität, ja imperialer Wiedererstarkung gefeiert. Deutschland erhoffte sich davon eine Entlastung der übrigen Fronten. Es war mehr als jede andere potentielle Bündnismacht bereit, sich nicht in innere Angelegenheiten einzumischen. So akzeptierte es, dass die jungtürkische Regierung noch 1914 die Reformvereinbarung aufhob. Das Osmanische Reich mobilisierte ab August 1914 in einem Ausmaß, wie nie zuvor in seiner Geschichte. Die Mobilisierung ging einher mit einer intensiven pantürkistischen und islamistischen Propaganda. Deutsche Orientexperten beteiligten sich an der Dschihad-Propaganda, von der sie sich Aufstände im Machtbereich der Entente versprachen.

Nachdem sich im Frühjahr 1915 die Übergriffe auf die armenische Landbevölkerung häuften, flüchteten zahlreiche Armenier in die ostanatolische Stadt Van, wo Armenier die relative Bevölkerungsmehrheit bildeten. Die Selbstverteidigung von Van galt aus jungtürkischer Sicht als "Aufstand" – und damit als Vorwand der landesweiten Armeniervernichtung. (© Aga Ref-Nr. 027 )

Der Genozid

Nach längerem Zögern entschied die Komiteespitze im Oktober 1914, in den Krieg gegen Russland einzutreten. Sie beauftragte deutsch-osmanische Kriegsschiffe, Russland mit Aggressionen auf dem Schwarzen Meer zu provozieren. Ihre Propaganda stilisierte den Krieg gegen Russland zu einer Jahrhundertabrechnung mit dem "moskowitischen" Erzfeind empor. Doch endete der Russlandfeldzug in den Südwestkaukasus Anfangs Januar 1915 in einer Katastrophe. Mehr als die Hälfte der 120.000 osmanischen Soldaten starben und Epidemien breiteten sich in den Ostprovinzen aus. Auch Feldzüge in den Nordiran und an den Suezkanal missglückten, banden aber dennoch umfangreiche Kräfte der Entente.

Die Ostfront vom Schwarzen Meer bis Nordiran wurde zum Schauplatz einer erbitterten muslimisch-christlichen Polarisierung und eines Dschihads, der mehr im Innern des Reichs als nach außen stattfand. Im Bereich dieser Ostfront bekämpften sich Milizen, die entweder beim Osmanischen Reich Rückhalt fanden, oder, nämlich Armenier, Assyrer und Teile der Kurden, bei Russland. Im Irak sah sich das Reich durch eine britische Invasion, im Westen ab Februar 1915 durch Angriffe der Entente auf die Dardanellen und damit die Hauptstadt Istanbul bedroht.

Die jungtürkische Regierung sah sich mehr denn je im totalen Krieg, was sie in ihrem revolutionären Selbstverständnis noch bestärkte. Sie nahm die extreme Gewalt in Europa deutlich wahr: darunter Massenschlachten, U-Bootkrieg auch gegen Passagierschiffe, Einsatz von Giftgas in Belgien im April 1915, oder Zwangsmaßnahmen wie die russischen Massendeportationen von Juden, Polen und Deutschen im Sommer 1915. Doch die antiarmenische Politik, zu der sie sich im März/April 1915 entschied, war einzigartig. Raphael Lemkin, der Pionier der UN-Genozidkonvention, benannte sie drei Jahrzehnte später mit dem neuen Begriff "Genozid", den er ausdrücklich auf die Armenier im Ersten und die Juden im Zweiten Weltkrieg anwandte.

Innenminister Talat definierte am 24. April 1915 in Telegrammen an die Provinzgouverneure und die Armeespitze die Situation in Kleinasien als eine allgemeine armenische Rebellion, obwohl Armeeberichte die Lage anders einschätzten. Talat verwies auf organisierten armenischen Widerstand in Van nahe der Ostfront. In der Nacht vom 24. zum 25. April ließ er in Istanbul, in den kommenden Wochen auch in den Provinzstädten Kleinasiens, Mitglieder der armenischen Elite festnehmen und verschleppen. Die Verhafteten wurden verhört, gefoltert und meist getötet. Dies beraubte die osmanischen Armenier ihrer Führer, so dass sie ab Ende Mai Provinz um Provinz aus ihrer Heimat vertrieben werden konnten. Männer im dienstpflichtigen Alter standen an der Front. Im östlichen Kleinasien wurden sie Arbeiterbataillonen zugeteilt und großenteils ermordet; diejenigen, die keinen Dienst taten, noch vor Abmarsch verhaftet und getötet.

Armenische Zwangsarbeiter beim Straßenbau. (© Aga Ref-Nr. img022)

Die Vertriebenen mussten aus dem Osten zu Fuß, aus dem Westen zum Teil mit Viehwagen der Bagdadbahn in die syrische Wüste jenseits von Aleppo gelangen. Schätzungsweise die Hälfte, das heißt etwa eine halbe Million, kamen bereits vor dem Aufbruch oder unterwegs ums Leben. In den Provinzen Diyarbakir, Bitlis und in Teilen von Van wurden die meisten Christen vor Ort ermordet. Verschiedene Kategorien von Personen gehörten zu den Tätern: Mitglieder einer bewaffneten Spezialorganisation, die dem Komitee nahestand; türkische Gendarmen; Kriminelle, denen der Staat die Gefängnisstrafe erließ; sowie einzelne kurdische Stämme. Über diese Kategorien hinaus beteiligten sich zahlreiche Gelegenheitstäter, darunter ganze Dorfbevölkerungen. Auch Offiziere gehörten zu denen, die Zehntausende von Mädchen, Knaben und Frauen vergewaltigten. Einzig kurdische Aleviten im Dersim und Jesiden im Sindschar, beides unzugängliche Berggebiete, boten den Verfolgten Schutz. Einzelne muslimische Freunde ermöglichten ein individuelles Untertauchen in Städten.

Materielle Anreize, die Versklavung von Christinnen eingeschlossen, spielten eine große Rolle beim Massenraubmord. Zeitgenossen nahmen ihn einhellig als historisch einmalig wahr. Lediglich der vernichtende Feldzug unter dem römischen General Titus könne als Analogie für den Mord an den Armeniern dienen, schrieb Aaron Aaronsohn, Zionist und Mitglied des jüdischen Untergrunds in Palästina im November 1915. Gemäß dem römisch-jüdischen Historiker Josephus hatte Titus' Feldzug über einer Million Juden das Leben gekostet.

In Ostanatolien wurden Jungen und Männer systematisch ermordet. Viele Armenier, auch Kinder, Betagte und Hochschwangere, mussten wochenlang zu Fuß gehen, hungern, dürsten und sich schikanieren lassen. Viele Kinder verloren beide Elternteile und zogen allein weiter. Vom "Entsetzen, von dem jeder erfasst wird, der mit den verhungernden, absichtlich dem Hungertode preisgegebenen Massen der Vertriebenen in nahe Berührung kommt", berichtete der deutsche Konsul in Aleppo, Walter Rößler, in einem Brief an den Reichskanzler.

Armenisches Flüchtlingsmädchen in Van, Frühjahr 1915. (© Aga Ref-Nr. img029)

An einigen Orten stieß die Ausrottung auf Hindernisse. Aber nur in Van und am Musa Dagh ermöglichte armenischer Widerstand die Rettung der Verfolgten. In Urfa blieb er erfolglos: Jakob Künzler, Leiter eines aus Deutschland und der Schweiz unterstützten örtlichen Spitals, hat das Massaker in der Stadt, die trostlose Verschickung vieler Bekannter und die Verschacherung armenischen Gutes eindringlich beschrieben. Zusammen mit seiner Frau zog er eine Hilfstätigkeit für Untergetauchte auf. Besonders erschütterten ihn die massenhaften "Vergewaltigungen, Entehrungen, Schändungen, besonders auch der Knaben" – Offiziere "leisteten Unglaubliches, Unaussprechliches" in dieser Hinsicht.

Fluchthilfe für armenische Männer war bei Todesstrafe verboten; trotzdem wurde sie mit der Unterstützung muslimischer Freunde gewagt. Die amerikanische Missionarin Tacy Atkinson organisierte umfangreiche Schlepperdienste aus der Provinzhauptstadt Elaziz: Alevitische Kurden holten Untergetauchte beim amerikanischen Spital ab und brachten sie in die Berge. Von da führten Schleichwege in russisch besetzte Gebiete. Die russischen Truppen stießen 1916 bis nach Erzincan vor, zogen aber nach der russischen Revolution ab. Mit ihnen abziehende Armenier verübten damals Gräueltaten an Sunniten und Aleviten der Region. Massengräber von Muslimen beziehen sich meist auf diese Episode von Anfang 1918, falls sie richtig identifiziert werden.

Der türkische Leiter des Rothalbmond-Spitals in Elaziz setzte sich zusammen mit Atkinson für die Verschickten ein, wurde aber alsbald abgesetzt. "Schlachthaus" hieß die Provinz deshalb, weil viele Deportierte in die idyllische Hügellandschaft am Gölcük-See geleitet, dort aber ermordet und ausgeraubt wurden. Grauen und Obszönität beherrschten das Bild, das sich dem amerikanischen Arzt Atkinson, Tacys Ehemann, und dem amerikanischen Konsul Leslie Davis bei einem Erkundungsritt Anfang Oktober 1915 bot. Sie schätzten die Zahl der Leichen von meist nackten Frauen und Kindern auf mindestens 10.000. "Die meisten Körper wiesen klaffende Bajonettwunden auf, meist im Unterleib oder in der Brust, bisweilen in der Kehle. Wenige waren erschossen worden, da Munition zu wertvoll war. Es war billiger, mit Bajonetten und Messern zu töten", schrieb der Konsul.

An manchen Orten weigerten sich osmanische Beamte, die Befehle auszuführen. In der Provinz Diyarbakir wurden Kreisgouverneure, die die Befehle verweigerten, ermordet, weitere abgesetzt. In Istanbul, mit seinen vielen ausländischen Botschaften, blieben viele alteingesessene Armenier verschont, die übrigen wurden wie anderswo verfolgt. Ähnlich wurden in Izmir die Eliten eliminiert, viele konnten danach aber bleiben, da General Liman von Sanders, der Chef der deutschen Militärmission im Osmanischen Reich, sich für sie einsetzte. An zahlreichen Orten Kleinasiens nahmen muslimische Familien eine unbekannte Zahl armenischer Frauen und Kinder auf. Dieses Thema betrifft viele Familien in der Türkei, wurde indes lange veschwiegen. Erst im frühen 21. Jahrhundert haben die Nachkommen "armenischer Großmütter” begonnen, sich zu äußern.

Alltägliche Qualen der Deportierten - hier der Versuch, ein Mädchen von Kopfläusen zu befreien. (© Aga Ref-Nr. img050 )

Mehrere Hunderttausende von Überlebenden trafen in schlecht improvisierten Lagern in der Wüste zwischen Aleppo und Deir ez-Zor ein. Es waren Orte des Massensterbens durch Hunger, Hitze und Krankheit. Das Versprechen der Wiederansiedlung in Mesopotamien erwies sich als staatliche Zwecklüge. Die Komiteespitze hatte vielmehr das Ziel verfolgt, "die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten", wie der deutsche Botschafter am 7. Juli 1915 dem Reichskanzler in seltener Offenheit schrieb. Damit wollte sie ihre eigene Macht in Kleinasien ohne Konkurrenz und Einmischung politisch, demografisch und wirtschaftlich verankern. Zugleich zerstörte sie damit das Prinzip der osmanischen Koexistenz und die demokratischen Ansätze von 1908.

Ein armenisch-amerikanisch gesponsertes Flüchtlingscamp in Aleppo, Syrien, um 1922. Die Originaldarstellung wurde als Postkarte genutzt, um Spendengelder einzuwerben. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd.)

Bei den Lagern handelte es sich um riesige Sterbeanstalten, wo Tausende jeden Tag an Hunger, Durst oder Krankheit starben. Islahiye hieß eines von über zwanzig Lagern. Beatrice Rohner, eine Lehrerin aus Basel, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in der osmanischen Türkei arbeitete, ritt im Dezember 1915 nach Aleppo und kam an Islahiye vorbei. Sie schrieb: "Gleich beim Eingang lag ein Haufen unbeerdigter Leichen ..., gleich dabei die Zelte der Leute, die an schwerer Dysenterie krank lagen. Die Unreinlichkeit in den Zelten und darum herum ist unbeschreiblich. An einem Tage hat die Toten Commission 580 Tote begraben."

Armenische Massakeropfer in der Provinz Ankara. (© Aga Ref-Nr. img078)

Eine gewollte Todesmaschinerie: Die meisten Überlebenden hätten angesiedelt werden können; aber das Komitee ließ dies nicht zu. Menschlich denkende Beamte setzte es ab, so Ali Fuad, den Gouverneur des Wüstenstädtchens Deir ez-Zor. Er hatte vielen Überlebenden einen bescheidenen Neubeginn in seiner Stadt ermöglicht, wurde jedoch im Juli 1916 durch Salih Zeki, einen Vollstrecker der Vernichtung, ersetzt. Alle Lager wurden liquidiert, die überlebenden Insassen der Lager bei Aleppo weiter nach Osten Richtung Deir ez-Zor getrieben.

Mossul, 1915: Leichen verhungerter Armenierkinder. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd.)

Schädel und Knochen als Zeugnisse des Massensterbens auf den Todesmärschen. (© Aga Ref-Nr. img062)

Da dennoch nicht alle Armenier in der Wüste starben, wurden die verbleibenden 100.000-200.000, darunter viele Kinder, im Sommer 1916 jenseits von Deir ez-Zor getrieben und mit unglaublicher Brutalität massakriert. Rohner schätzte die Zahl etwas zu niedrig ein: "Die in Deir ez-Zor und Umgegend zur Ruhe Gekommenen wurden, etwa 80.000 an der Zahl, in große Lager zusammengezogen, um dann karawanenweise über den Euphrat gesetzt zu werden. Es gab ein neues trostloses Wandern und dann abseits der großen Verkehrswege, fern von den Augen jedes Europäers, warteten Freischärler-Banden im Auftrag ihrer Regierung auf diese letzten Überlebenden, um ihnen ein blutiges Ende zu bereiten. Flüchtlinge, selbst verwundet, brachten uns die furchtbare Kunde." Eine Ausnahme waren die ca. 150.000 Armenier, die Cemal Pascha frühzeitig islamisiert und weiter im Süden neu angesiedelt hatte. Cemal war Marineminister sowie Militärgouverneur von Grosssyrien (Libanon, Palästina, Syrien und Jordanien). Danach suchte Innenminister Talat, der 1917 zum Grosswesir avancierte, die innere Lage zu stabilisieren, die durch den Genozid schwer geschädigt war. Er trieb eine rein muslimische Nationalökonomie voran und nutzte dafür das umfangreiche armenische Raubgut.

Vor dem Tor der "Waisenstadt" (Alexandropol, später Leninakan, heute Gjumri, Armenien). (© Aga Ref-Nr. img070)

Ein Paradigma für Revolution von rechts

Der russische Austritt aus dem Weltkrieg und der Vertrag von Brest-Litowsk schienen Talats nationalimperiale Vision eines modernen türkischen Staates mit pantürkischem Einfluss bis nach Zentralasien noch bis in den Sommer 1918 zu bestätigen. In Brest-Litowsk hatte die spätosmanische Diplomatie erstmals einen großen Erfolg erzielt und umfangreiche Gebiete zurückgewonnen, nämlich diejenigen zwischen Batum und Kars, die das Osmanische Reich 1878 im Vertrag von Berlin verloren hatte.

Erst bei seinem Besuch in Berlin im September 1918 realisierte Talat, dass der Weltkrieg verloren war. Er musste sich damals vom Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger sagen lassen, dass deutsche Demokraten in Zukunft die Türkei wegen ihres schändlichen Verbrechens an den Armeniern nicht decken würden, wie es Deutschland bisher getan hatte.

Der Massenraubmord an den Armeniern diente dem Ziel, Kleinasien zu einem exklusiv muslimisch-türkischen Machtbereich umzugestalten für eine Nation, die fortan nicht mehr multikulturell osmanisch, sondern rein türkisch und muslimisch sein sollte. Der Krieg um Kleinasien 1919–22 und der Aufbau der 1923 gegründeten Republik Türkei folgten derselben Zielvorstellung, doch verzichteten die Kemalisten auf pantürkische Ansprüche. Der Genozid des KEF steht beispielhaft für die Idee, durch Zerstörung einer rassischen oder ethno-religiösen Gruppe den Aufbau der eigenen Nation zu betreiben. Im Unterschied zum Holocaust ging er für die Täter im Vertrag von Lausanne 1923 straffrei und somit erfolgreich aus.

Nach 1923 begannen radikale Nationalisten auch in Europa und Deutschland Massenraubmord an einem Volk als effizientes Mittel für einen "nationalen Aufbau" zu begreifen. Für viele Deutsche galt das Verbrechen an den Armeniern in der Zwischenkriegszeit zwar als abstoßend, aber dennoch als Bestandteil einer erfolgreichen nationalen Revolution. Dafür gab ihnen der ehemalige Kriegspartner umso mehr ein attraktives Vorbild ab, als er 1923 die harten Friedensregelungen von Paris zu seinen Gunsten hatte revidieren können.

Quellen und Literatur:

  • Die bisher ausführlichste Studie zum Völkermord an den Armeniern ist Raymond Kévorkian, Le génocide des Arméniens, Paris 2006 / The Armenian genocide: a complete history, London 2012 / Ermeni Soykırımı, Istanbul 2015.

  • Eine umfangreiche Veröffentlichung einschlägiger deutscher Dokumente durch Wolfgang Gust und seine Mitarbeiter findet sich auf www.armenocide.net.

  • Weitere Literaturverweise und ausführliche Quellenangaben, auch türkische, finden sich in folgenden Artikeln des Autors, die online zugänglich sind:

  • "Deutschland und der Völkermord an den Armeniern von 1915”, http://www.zeitgeschichte-online.de/rubrik/thema (ab Sept. 2015).

  • "The Destruction of Ottoman Armenians: A Narrative of a General History of Violence”, Studies in Ethnicity and Nationalism 14-3, 2014, S. 500-515.

  • "Minorities (Ottoman Empire/Middle East)”, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10512, 28 July 2015.

  • Hinweis: In diesen Artikel wurden einige Passagen übernommen aus meinem Beitrag in Wege ohne Heimkehr, hg. von Corry Guttstadt, Berlin 2014, S. 10-25.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Künzler hat seine Erlebnisse niedergeschrieben in Im Lande des Blutes und der Tränen. Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1914–1918), neu herausgegeben und um weitere Berichte ergänzt, Zürich 1999.

  2. Leslie A. Davis, The Slaughterhouse province. An American diplomat's report on the Armenian genocide, 1915-1917, ed. with an introduction and notes by Susan K. Blair, New York 1990.

  3. Beatrice Rohner, "Pfade in grossen Wassern", in Sonnenaufgang 36 (1934), 14 f., 21, 30 f., 38 f., 45 f., 54-56; dieselbe, Die Stunde ist gekommen. Märtyrerbilder aus der Jetztzeit, Frankfurt am Main ca. 1920. Vgl. Hans-Lukas Kieser, "Beatrice Rohner's work in the death camps of Armenians in 1916", in Jacques Sémelin et al. (Hg.), Resisting Genocide: The Multiple Forms of Rescue, New York 2011, S. 367-382.

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Prof. Dr. Hans-Lukas Kieser ist Historiker und hat eine Titularprofessur am Historischen Seminar der Universität Zürich, sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der osmanischen und nachosmanischen Welt.