Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Schulden und Schuld - die Euro-Krise aus der Perspektive der Medien | Deutsch-griechische Beziehungen | bpb.de

Deutsch-griechische Beziehungen Debatte Ist in Griechenland die Normalität wiederhergestellt? Die "Griechenlandkrise" als Weltwirtschaftskrise Die Erfolge geben Recht Politik der "Austerität" Euro-Krise aus der Perspektive der Medien Schwarz-Weiß-Malerei – Stereotypen und ihre Hinterfragung im griechisch-deutschen Mediendialog Der "Schatz der Kommunen" – eine deutsch-griechische Erfolgsstory Einführung Die Entstehung des griechischen Staates und der Geist des Philhellenismus Zur Kritik des Philhellenenismus Literarische Beziehungen Deutsche Besatzungszeit Die Juden von Saloniki Griechische Arbeitsmigration nach Deutschland Der demokratische Kampf gegen die griechische Obristendiktatur (1967-1974) Griechenlandtourismus der Deutschen Soziale Realität in Griechenland heute Zur Lage der kreativen Szene in Griechenland Der Aufstieg der Rechtsextremen in Griechenland Meinung: Das Zeitalter der Opfer Perspektiven deutsch-griechischer Beziehungen Redaktion

Schulden und Schuld - die Euro-Krise aus der Perspektive der Medien

Michalis Pantelouris

/ 7 Minuten zu lesen

"Betrüger in der Euro-Zone": Eine mit "Stinkefinger" ausgestattete Venus von Milos zierte im Oktober 2010 das Cover des "Focus". Und bildete den Auftakt einer langen und einseitigen Kampagne in verschiedenen deutschen Medien, in der die Griechen oft nur noch als "Pleite-Griechen" bezeichnet wurden. Michalis Pantelouris sieht die nationalen Vorurteile allerdings bis in die Sphären der hohen Politik reichen.

Mit diesem Titelbild löste der "Focus" einen Medienstreit zwischen den Ländern aus. (© picture-alliance/dpa)

Symboliken und Koliken

Genau genommen weiß niemand, wie die Venus von Milos ihre Hände hielt. Die Arme der mehr als 2000 Jahre alten Statue sind nie gefunden worden. Eher unwahrscheinlich ist, dass sie aussah wie sie die Grafiker des Magazins Focus im Februar 2010 auf dem Titelblatt darstellten: Mit ausgestrecktem Mittelfinger. Diese internationale Geste dafür, dass man seinem Gegenüber so deutlich wie möglich den Respekt versagt, stand unter der Schlagzeile "Betrüger in der Euro-Zone". Für die Griechen, die zu den Symbolen ihrer Nation eine enge, emotionale Beziehung haben, war das eine furchtbare Beleidigung (die sogar – völlig fruchtlose – Gerichtsprozesse nach sich zog). Die Symbolik des Titels, in der die Venus wahrscheinlich eher stellvertretend für "die Griechen" stehen sollte, die der Euro-Familie den Finger zeigen, wurde in Griechenland instinktiv als Verhöhnung eines nationalen Symbols verstanden, einer nationalen Reliquie – mithin des ganzen Landes.

Medienhetze

Der Magazintitel bildete zugleich den Auftakt einer langen und einseitigen Kampagne in verschiedenen deutschen Medien – angeführt von der größten deutschen Zeitung, der Bild –, in der die Griechen oft nur noch als "Pleite-Griechen" bezeichnet wurden. Für den normalen Zeitungsleser in Deutschland musste dadurch der Eindruck entstehen, die finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Euro-Zone wären vornehmlich durch eine grassierende Korruption in einem Land entstanden, das zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 2,8 Prozent der Wirtschaftskraft der Eurozone ausmachte – in etwa so viel wie das deutsche Bundesland Hessen. Schnell schlossen sich Politiker aus der zweiten und dritten Reihe der populären Stimmung an und überboten sich gegenseitig mit harschen Forderungen. Der damalige CSU-Landesgruppenchef und spätere Innenminister Hans-Peter Friedrich zum Beispiel forderte das Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone. Die Euro-Krise wurde aus der Perspektive deutscher Medien, und damit letztlich auch der deutschen Öffentlichkeit, vor allem zu einer "Griechenland-Krise" umgedeutet – ausgelöst durch "die Griechen", die auf Kosten anderer Länder ein arbeitsarmes (nicht arbeitsames!) Leben auf der satten Basis von "Luxus-Renten" führten.

Die Macht der Bilder

Einen ihrer traurigen Tiefpunkte erreichte die lautstark von der größten deutschen Zeitung angeführte Kampagne im Oktober 2010, als Politiker aus den hinteren Bänken des Bundestages schlagzeilenträchtig in der Bild fordern durften: "Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen!" So groß die suggestive Macht dieser Bilder war, so konsequent konnte sie auf der jeweils anderen Seite falsch verstanden werden. Ende April 2010 verkündete der damalige – und damals frisch angetretene – griechische Ministerpräsident Andreas Papandreou, Griechenland wäre ohne Hilfe nicht länger in der Lage, die hohen Zinsen für seine Staatsanleihen zu bedienen. Als Schauplatz für die Verkündung dieser bitteren Wahrheit wählte er die Insel Kastelorizo, den östlichsten Flecken der griechischen Inselwelt, weiter als jeder andere bewohnte Ort Griechenlands von Athen entfernt. Der Ort war bewusst gewählt: Zusammen mit der Ankündigung drastischer Spar- und Reformmaßnahmen wollte Papandreou schon durch die Kulisse zeigen, dass eine lange, harte Reise bevorstände, sogar von einer "Odyssee" sprach er: "Aber wir kennen den Weg nach Ithaka." Das wunderschöne Kastelorizo, drei Kilometer vor der türkischen Küste, muss in seinen Augen der perfekte symbolische Ort für den Start einer solchen Irrfahrt gewesen sein.

Falschverbunden

In den deutschen Medien verstand man die Symbolik indessen anders. Von dem "Hilferuf vor malerischer Kulisse" war in der Frankfurter Allgemeinen die Rede, und der Bericht der Bild-Zeitung ist geradezu ein Monument des Missverstehens: "Beim Zeus: Was hatte der Regierungs-Chef der Pleite-Griechen in diesen Tagen auf der entlegendsten Insel seines Staates verloren? Warum kämpfte er nicht in Athen gegen die Schulden?", schreibt Jan Friedrich Esser, "Insel-Hopping […] statt Haushaltssanierung in Athen! Aber warum denn bitte jetzt? In der größten Krise der europäischen Währungsunion! Ausgelöst durch Griechenlands Schulden!"

Viel besser kann man es nicht zuspitzen, als dieser Leitartikel in der größten deutschen Zeitung, der in polemischer Absicht unterstellte, der griechische Ministerpräsident würde die Probleme absichtlich herunterspielen, weil er seine Maßnahmen nicht vom Schreibtisch aus verkündet. Mit der ganzen Wirkmacht der Bild-Zeitung wurde unter den deutschen Lesern so der Eindruck verbreitet, die Griechen hätten den Ernst ihrer eigenen Lage nicht verstanden. Die Botschaft, die von Papandreou beabsichtigt war, und in Griechenland auch verstanden wurde, dagegen war: Uns stehen harte Zeiten bevor!

Den Spieß umdrehen

Siegesgöttin mit Hakenkreuz in der griechischen Tageszeitung "Eleftheros Typos". (© picture-alliance/dpa)

In den Monaten danach fanden griechische Boulevard-Medien mithilfe von Demonstranten ihren Weg, eigene Provokationen in Richtung Deutschland zu senden. Bereits als direkte Antwort auf besagten Focus-Titel hatte die Zeitung Eleftheros Typos den "reizenden" Versuch unternommen, deutsche Wahrzeichen per Fotomontage mit Hakenkreuzen zu versehen. Die Provokation versandete praktisch unbeachtet – ein deutliches Zeichen dafür, dass es in Deutschland eine ähnlich emotionale Bindung an die nationalen Symbole des Landes nicht gibt. Eine Fotomontage mit dem Engel – der "Gold-Else" – auf der Siegessäule? Ein Berliner mag das vielleicht geschmacklos finden, wirklich beleidigen lässt er sich davon aber nicht.

Besetzungs-Phantasien

Dennoch fanden die Hakenkreuze ihren Weg in die öffentliche Debatte: Bei Protesten gegen die Sparvorschriften der "Troika" aus EU, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank trugen Demonstranten vor dem griechischen Parlament eine EU-Flagge, in deren Sternenkreis sie ein Hakenkreuz gemalt hatten. Für Europäer muss die Symbolik eigentlich unverständlich bleiben: Dass ein Vielvölkerbund wie die Europäische Union mit einem rassistischen Faschismus in Verbindung gebracht wird, ergibt eigentlich keinen Sinn. Allerdings wird das Symbol in Griechenland grundsätzlich anders verstanden als in Deutschland: Eine Flagge mit einem Hakenkreuz gilt in dem Land, das während des Zweiten Weltkriegs von der Wehrmacht besetzt wurde, als Chiffre jedweder "Besatzung". Die Botschaft der Demonstranten vor dem griechischen Parlament war also nicht "Die EU ist eine Nazi-Organisation", sondern vielmehr "Die EU besetzt uns" – eine angesichts der von außen aufgedrückten Spar-Vorschriften sicher polemische, aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffene Behauptung. Die Berichterstattung in Deutschland hingegen fühlte sich bestätigt: "Mit dem Hakenkreuz verhöhnen die Griechen Europa", schrieb Bild, "und kriegen trotzdem Milliarden."

Accessoires des Augenblicks

Erst Monate später setzten griechische Zeitungen die deutsche Politikerin Angela Merkel selbst mit Nazi-Symbolen in Verbindung – ganz offensichtlich, weil sie bemerkten, dass sie auf diese Weise in der deutschen Berichterstattung endlich doch noch Aufsehen erregten. Seit dem Beginn der Krise ist in Griechenland die internationale Presseschau – also der Blick darauf, was in anderen Ländern und vor allem in Deutschland über Griechenland geschrieben und gesendet wird – Teil der Hauptnachrichten. Jeder Demonstrant vor dem griechischen Parlament weiß spätestens am Morgen danach, welches Bild es in die deutschen Zeitungen "geschafft" hat. So wurde das Hakenkreuz, gemeinsam mit Bildern, auf denen Merkel ein Hitlerbärtchen oder eine Nazi-Uniform ziert, bei einer kleinen aber lauten Minderheit der Demonstranten zum Accessoire des Augenblicks.

Aufeinander eingeschossen

Wie international die Finanzkrise auch immer war: Mit dem Auftauchen der überschriebenen EU-Fahne konzentrierte sich der Protest in Griechenland so sehr auf Deutschland, wie sich die deutsche Berichterstattung (und in der Folge die öffentliche Meinung) bei der Krise auf Griechenland fixiert hatte. So kommen Irland und Portugal in der Krisen-Berichterstattung fast nicht vor – auch deshalb, weil es kaum greifbare Symbole für ihre Krise gibt. In Spanien stehen wenigstens Bauruinen pompöser Urlaubsanlagen, die man fotografieren und zu Ikonen der spanischen Krise stilisieren kann. Was sich nicht in Bildern erklären lässt, dringt in dieser Krise kaum durch. Das ist um so gefährlicher, da viele der Bilder, die unsere Vorstellungswelt "besetzen", auf Vorurteilen basieren.

Klischees vom Anderen

So erklärte die Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer später viel kritisierten Rede vor Parteifreunden noch 2011 mit Blick auf die Eurokrise: "Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen." Und ein paar Sentenzen später: "Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen." Die Worte entsprachen offensichtlich ihrem – von vielen Deutschen geteilten, nicht ganz neidlosen Gefühl – Südeuropäer machten sich einfach ein schönes Leben. Mag sein, dass es mit der protestantischen Arbeitsethik Nordeuropas zusammenhängt, jedenfalls scheint man hierzulande noch immer tief überzeugt, dass wer Schulden hat, auch irgendeine "Schuld" auf sich geladen haben müsse (im Englischen sind dagegen "debt" und "guilt" zwei völlig verschiedene Begriffe). Mit anderen Worten: während "wir" tugendhaft, tüchtig und fleißig sind, haben "die" schuldigen Schuldenmacher nichts anders verdient, als Strafe.

Realitätscheck

Mit den echten Zahlen hat dieses Gefühl indes nichts zu tun. In den von Merkel genannten Kerndaten einer (Lebens-) Arbeitszeit liegt Deutschland tatsächlich sogar hinter den genannten Ländern. Die Wochenzeitung Die Zeit nannte Merkels Behauptungen deshalb spitz "Das Märchen vom faulen Portugiesen". So ließe sich eine Argumentationsfigur aufdecken, die mit der "Stinkefinger"-Berichterstattung des Focus anhebt – mit der suggeriert wurde, "die Griechen" würden als levantinische Hochstapler auf Kosten anderer leben und sie dafür noch verhöhnen – und die bis in die Sphäre der hohen Politik reicht, welche ebenfalls nicht ganz frei zu sein scheint von nationalem Vorurteil.

Weitere Inhalte

Deutsch-griechische Beziehungen

Politik der "Austerität"

Unter "Austerität" versteht man einen politischen Kurs, der Ausgabenkürzungen und Privatisierungen verfolgt. Seit 2010 betreiben die Regierungen in Athen auf europäischen Druck eine Politik der…

Deutsch-griechische Beziehungen

Ist in Griechenland die Normalität wiederhergestellt?

Zwar hat Griechenland wieder begonnen, sich am Markt zu finanzieren. Normalität ist aber noch nicht eingekehrt, meint Cerstin Gammelin. Die vergangenen Jahre hätten noch einmal gelehrt, dass es…

Deutsch-griechische Beziehungen

Meinung: Das Zeitalter der Opfer

In der aktuellen Krise denkt kaum einer an die Migranten in Griechenland, meint der Schriftsteller Petros Makaris. Sie treffe die Wirtschaftskrise am härtesten. Die EU-Flüchtlingspolitik hält er…

Deutsch-griechische Beziehungen

So lange das Theater noch steht

Die kreative Szene in Griechenland ist von der Krise ebenso in Mitleidenschaft gezogen worden wie alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Wie ist es, in einer solch "dramatischen"…

Jahrgang 1974, ehemaiger Bild-Reporter, heute freier Journalist und Blogger, ist Sohn einer Deutschen und eines Griechen. Er lebt mit Frau und Kindern in Hamburg und im Internet unter Externer Link: pantelouris.de.