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Die Situation eskaliert: Berlin, 2. Juni 1967 | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Die Situation eskaliert: Berlin, 2. Juni 1967

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Erstaunlicherweise kam "nur" ein Opfer zu Tode: Benno Ohnesorg, Germanistikstudent, 26 Jahre alt, verheiratet und werdender Vater, zum ersten Mal auf einer Demonstration, wurde in einem Hinterhof von mehreren Polizeibeamten gestellt und erschossen.

Studentendemonstration am 5. Juni 1967 nach dem Tod Benno Ohnesorgs. (© AP)

Die Große Koalition hatte beschlossen, dem Schah von Persien während seines Staatsbesuchs am 2. Juni 1967 in Berlin einen pompösen Empfang zu bieten, auch hier realitätsblind gegenüber den zahlreichen Protesten und mahnenden Stimmen im Land und ungeachtet der Tatsache, dass in einer Zeit, in der längst nicht nur Studenten für internationale Entwicklungen sensibilisiert waren, die Hofierung eines von den USA an der Macht gehaltenen Diktators, dem Folterungen und Morde an Hunderten von Politikern, Journalisten, Studenten und Arbeitern nachgewiesen worden waren, zwangsläufig zu Gegendemonstrationen und Kundgebungen führen musste. Um dies zu verhindern, griff die Berliner Polizei mit brutalsten Mitteln ein. "Heute können diese Burschen sich auf etwas gefasst machen, heute gibt´s Dresche!", hatte Peter Herz, Leiter des Presse- und Informationsamtes des Berliner Senats, bereits mittags ganz ungeniert angekündigt (Kursbuch 12/1968, S. 36). Polizeibeamte – unterstützt von "Jubelpersern" (persischen Geheimpolizisten) – schlugen denn auch weisungsgemäß auf alles ein, was ihnen vor die Knüppel kam. Aufgeheizt wurde die Stimmung unter den eingesetzten Beamten, bewusst durch die zunächst als Flüsterparole, dann sogar über Lautsprecher verbreitete Falschmeldung, ein Polizist sei durch Messerstiche von Demonstranten erstochen worden (a.a.O., S. 84 und 113ff.). "Sie [die Polizei, kf] verhielt sich, wie ein Mensch sich allenfalls gegenüber Tierherden verhalten darf, und selbst dort käme er mit den Tierschutzvereinen in Konflikt", fasst der Polizeiberater und -psychologe Helmut Kentler das Resultat seiner Untersuchung des 2. Juni 1967 wenige Wochen später zusammen – und kündigt seinen Job (Der Spiegel 33/1967, S. 31ff.).

Erstaunlicherweise kam "nur" ein Opfer zu Tode: Benno Ohnesorg, Germanistikstudent, 26 Jahre alt, verheiratet und werdender Vater, zum ersten Mal auf einer Demonstration, wurde in einem Hinterhof von mehreren Polizeibeamten gestellt und von einem Polizisten erschossen. Die Kugel, ermittelt später das Gericht, traf ihn von hinten in den Kopf.

"Ziemlich schnell wurde klar, dass Benno Ohnesorg nicht nur unbewaffnet war, sondern charakterlich völlig ungeeignet zur Aggression. Unmöglich, dass er irgendeinen Anlass gegeben hatte für die Schüsse. Viele Studenten, die sich bisher zurückgehalten und die Aktionen der Linken eher skeptisch gesehen hatten, stellen sich nun auf ihre Seite. Die Revolte erfährt eine außerordentliche Verstärkung durch das sich verbreitende Gefühl, dass die Linke mit ihrem Protest doch irgendwo im Recht sein muss, wenn die Reaktion darauf so brutal ist. Nicht bei der Berliner Bevölkerung. Die sagte, wie die Springer-Presse, die Studenten seien selber schuld, Ohnesorg auch. Aber die liberale Presse, Intellektuelle und die Studenten in der Bundesrepublik solidarisierten sich mit der Revolte. Protestdemonstrationen in fast allen Universitätsstädten. München 9000 Teilnehmer, Frankfurt 8000, Hamburg 2000. Und so weiter. Seitdem war die APO auch im Westen fest verankert." (Wesel 2002, S. 51)

Weit mehr als 100000 Studierende demonstrieren in der Woche vom 3. bis 9. Juni 1967 in zahlreichen Universitätsstädten. Am 9. Juni folgen über 10000 Menschen in einem sieben Kilometer langen Schweigemarsch durch die Innenstadt von Hannover dem Sarg Benno Ohnesorgs.

Der Berliner Senat bleibt lange bei der Linie, die der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz schon wenige Stunden nach der Tat verkündete: Die Polizei habe sich "bis zur Grenze des Zumutbaren zurückgehalten", der Tote gehe "auf das Konto der Demonstranten". Schnellgerichte sollen eingerichtet werden – jedoch nicht etwa zur Aufklärung der polizeilichen Übergriffe, sondern gegen die Studenten. Erst am 19. September 1967 tritt Innensenator Büsch wegen inzwischen aufgeklärter "Fehler" der Polizei am 2. Juni zurück. Drei Tage später beantragt Polizeipräsident Duensing seine vorzeitige Pensionierung. Am 26. September tritt auch Heinrich Albertz zurück. Doch von ohnehin "nur" 92 Verfahren gegen Polizeibeamte werden schließlich 82 eingestellt. Der Todesschütze, Kriminalobermeister Karl Heinz Kurras, der Ohnesorg nach Zeugenaussagen regelrecht exekutiert haben soll, wird wegen einer "zum Zeitpunkt der Tat eingeschränkten Urteils- und Kritikfähigkeit" freigesprochen. Dies alles geschah in einer "Atmosphäre pogromähnlich ausgewachsener emotionaler Radikalisierung" (Lindner 1996, S. 202) in der Berliner Bevölkerung. "Sie müssen Blut sehen. Hier hören der Spaß und der Kompromiss und die demokratische Toleranz auf", hatte die Bild-Zeitung am 3. Juni die Tötung Benno Ohnesorgs kommentiert. "Frauen, die gekommen waren, um den Schah zu sehen, brachen von Steinen getroffen blutend auf dem Mittelstreifen der Bismarckstraße zusammen", berichtet die Springer-Zeitung BZ am gleichen Tage. Das zur Illustration dieses studentischen "Terrors" auf der Titelseite veröffentlichte Foto – Unterzeile: "Eine blutüberströmte Frau wird in Sicherheit gebracht" – zeigt allerdings in Wirklichkeit eine von Polizeiknüppeln verletzte Augenzeugin.

Auch der Tagesspiegel untertitelt am 3. Juni ein Foto, auf dem kaisertreue "Jubelperser" mit Latten und Totschlägern auf wehrlose Demonstranten einschlagen: "Anhänger des Schahs erwehren sich der provozierenden Demonstranten." So eingestimmt, meldet sich Volkes Stimme schnell in Leserbriefen an Tageszeitungen und (zum Teil nicht einmal anonymen) Drohbriefen an studentische Vereine etc. zu Wort:

Anlässlich einer "nach Ost-Berliner Methoden" (Der Spiegel) vom Berliner Senat organisierten Massenkundgebung gegen die studentischen Rebellen im Februar 1968 fielen Berliner Bürger über ein Mädchen her, das allein durch ihre langen Haare als "Studentin" identifiziert wurde: "Schneidet ihr die Haare ab, schlagt sie tot!" grölten Berliner und schlugen vor dem Rathaus auf das Mädchen ein, als es bereits am Boden lag", berichtete Der Spiegel (7/1968, S. 24). Ein Verwaltungsangestellter, der das Pech hatte, Rudi Dutschke ähnlich zu sehen, konnte nur knapp von der Polizei vor einem Bürger-Mob gerettet werden, der dem zu Tode Geängstigten mit Rufen wie "Schlagt den Dutschke tot!" und "Hängt ihn auf!" hinterherlief. Als Rudi Dutschke eines Nachts von einem Freund nach Hause gefahren wird, erkennt ihn ein Taxifahrer, der sofort über Funk seine Kollegen zusammenruft. Sie umzingeln das Auto, steigen aus und kommen auf den Wagen, in dem Rudi Dutschke sitzt, zu – offensichtlich nicht, um sich Autogramme zu holen. Der Freund kann ihn nur eben durch eine rasante Flucht im Rückwärtsgang retten (vgl. Wesel 2002, S. 67).

Die Springer-Presse – und das bedeutete damals: 39,2 Prozent der deutschen Tageszeitungen, 100 Prozent der Sonntagsblätter – gerät nun immer mehr als Anheizer der Hetzstimmung ins Visier der außerparlamentarischen Opposition. "Bild schoss mit!" war schon nach dem 2. Juni 1967 auf Transparenten zu lesen. Am Abend des 1. Februar 1968 wird während einer Vorbereitungsveranstaltung für ein geplantes Springer-Tribunal ein Film vorgeführt, der die Herstellung von Molotowcocktails erläutert. Das letzte Bild des Films zeigt das Springer-Verlagshochhaus in der Kochstraße. Der Student, der diesen Film produziert hatte, hieß Holger Meins, später Mitglied der Roten Armee Fraktion.

Das war vielen doch zu heiß. Das Springer-Tribunal wird abgesagt. Doch in der Nacht vom 2. zum 3. Februar werden in der Tat in mehreren Filialen des Springer-Verlages die Fensterscheiben eingeworfen. Dieser präsentiert sich tags darauf als Opfer von "SA-Methoden". "In diesem ausartenden Szenario spitzte sich das wechselseitige Abrufen von Empörungsreflexen und "Terrorismus"-Vorwürfen zu. Wirkliche Dialoge oder Spielräume, in denen nachdenkliche Stimmen Resonanz finden konnten, wurden rar, wo die prätendierte Ungeheuerlichkeit des Gegners auf beiden Seiten zur Legitimierung eigener Grenzüberschreitungen diente. Die Atmosphäre war stellenweise derart aufgewühlt, dass Horst Mahler [auf dem Kongress in Hannover am 9. Juni 1967, anlässlich der Beisetzung von Benno Ohnesorg, kf] unter Verweis auf das NS-Regime bereits an die im Grundgesetz festgelegte Pflicht, notfalls vom Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, erinnerte." (Lindner 1996, S. 181f.)

Quellen / Literatur

Lindner, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn. Opladen 1996.

Spiegel 7/1968

Spiegel 33/1967

Wesel, Uwe: Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen. München 2002.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.