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Die letzten Erben der Arbeiterklasse

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Es waren Arbeiterkinder, die den Rock´n´Roll zu seinem Triumphzug um die Welt schickten. Ohne den Blues der Teddyboys, ohne die Leidenschaft der proletarischen Mods und Rocker für ihre Musik, wäre Paul McCartney eine leidlich bekannte Lokalgröße in Liverpool geblieben.

Skinheads in der Londoner Innenstadt 1981. (CC, nicksarebi) Lizenz: cc by/2.0/de

Doch in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre stagnierte der kulturelle Siegeszug der Arbeiterkinder. Wichtige Heroen wie The Who oder The (Small) Faces überwanden die engen Grenzen der Subkultur und setzten zu weltweiten Karrieren an. Aus großmäuligen Straßenjungs wurden Stars für jedermann. Die routinierten Strandprügeleien zwischen Mods und Rockern, aufgeheizt durch eine exzessive Berichterstattung in den Medien, sprengten längst den Rahmen eines coolen Wochenendvergnügens. Die britische Gesellschaft reagierte schärfer auf die Eskalation der Gewalt und köderte die Kontrahenten gleichzeitig mit materiellen Integrationsangeboten. Die erhöhte Produktivität der Sechzigerjahre ermöglichte nun auch Arbeiterfamilien vermehrten Konsum und bescheidenen Wohlstand. Der Kampf der Klassen schien vorbei, ein Fossil aus scheinbar überwundenen kapitalistischen Tagen. Das hübsche Wort "Wohlfahrtsgesellschaft" machte die Runde, und den Besten und Fleißigsten aus der Arbeiterschaft wurde gar der Aufstieg in die Mittelschicht versprochen. So besuchten auf einmal auch Arbeiterkinder weiterführende Schulen und tauschten den Blaumann gegen Schlips und Kragen ein; anstatt im Schlachthof im Fünfminutentakt Rinder zu töten, durften sie nun Aktenberge durch Verwaltungslabyrinthe schieben. Mods, die den Sprung an die Universitäten und Kunsthochschulen geschafft hatten, liefen zu den Studenten und Hippies über. Andere, ermüdet von den endlosen Wochenendtrips, suchten sich eine feste Freundin, heirateten, setzten Nachwuchssorgen in die Welt und desertierten auf diese Weise ins "normale" Leben.

Übrig blieben nur die Härtesten. Oder, wie böse Zungen behaupten, die weniger Flexiblen. Die, die immer noch zu wenig Geld hatten, um sich die angesagten Klamotten zu kaufen. Die, die weiterhin zum Fußball gingen und jederzeit bereit waren, für eine gute Wochenendprügelei der angenervten Freundin den Laufpass zu geben. Die, die billiges Lagerbier und proletarische Schenken den aufputschenden Drogen und bunten Cocktails in irgendwelchen angesagten Clubs vorzogen. Irgendwann streiften sie auch den betont dandyhaft verfeinerten Kleidungsstil der Mods ab und kehrten zum proletarischen Urlook zurück. Jeans, oft umgekrempelt, die klobigen Bergarbeiterschuhe des bayrischen Doc Martens, Button-Down-Hemden und weiße T-Shirts, darüber demonstrativ Hosenträger, und auf dem Kopf die Schiebermütze, wurden nun auch am Wochenende getragen. Insignien der Arbeiterklasse früherer Jahrzehnte, in denen die Welt scheinbar noch in Ordnung war - konservierte Wahrzeichen einer aussterbenden Spezies, ebenso wie die proletarische Kurzhaarfrisur, praktisch eben, nicht nur beim Prügeln. Wir sind Prolls und stolz darauf, schrie der Skinhead-Stil jedem sofort entgegen. Während im restlichen Universum Jugendliche mit ihren Eltern um jeden bewilligten Haarzentimeter mehr im Clinch lagen, wurden bei den Hard-Mods die Haare kürzer und kürzer. Bald tauchten auch neue Namen auf, die Abgrenzung zu vollenden und das neue Outfit mit Worten zu begreifen: Noheads, Cropheads, Boiled eggs, Baldheads, Bootboys, Peanuts und viele andere, bis sich schließlich ein einziger durchsetzte: Skinheads.

Als die ersten britischen Tageszeitungen 1968/69 begannen, im Zusammenhang mit Fußballrandalen die "so genannten Skinheads" zu erwähnen, war bereits jede Straßenecke der traditionsbewussten Arbeiterviertel von Liverpool, Glasgow, Birmingham oder London die Heimat einer Skinhead-Gang. Rüde Jungs, wenig Mädchen, fußballvernarrt und auch dem Alkohol nicht abgeneigt, im Schnitt gewalttätiger als ihre pubertierenden Altersgenossen, aber alles noch innerhalb von absteckbaren Grenzen. "Man stößt hin und wieder auf uniform und schmucklos gekleidete Arbeiterjugendliche, die alles andere als Eleganz ausstrahlen. Häufig sind sie nicht viel älter als 15 oder 17", berichtete die Sunday Times am 21. September 1969. "Man sieht ihnen an, dass sie auf Schlägereien scharf sind. Sie stehen auf Bluebeat-Musik und aggro, dem Skinhead-Synonym für aggressives und provokatives Verhalten. Gemäß dieser Geisteshaltung fühlt sich ein Skinhead nicht wohl, wenn er abends schlafen gehen muss, ohne eine anständige Prügelei hinter sich zu haben."

Da die Skins der ersten Generation leidenschaftliche Fußballfans waren, fiel es ihnen an den Wochenenden nicht schwer, "aggro" zu finden. Doch die Gewaltlust beschränkte sich nicht auf das Wochenende, sondern eroberte schnell auch den Alltag. "Revierverteidigung" war das Schlüsselwort, mit dem jugendliche (männliche) Gangs sich schon immer in den verschiedensten Varianten Anlässe geschaffen hatten, ihre Männlichkeit kollektiv unter Beweis zu stellen. "Jede Gang scheint fortwährend auf Schlägereien und Ärger aus zu sein", berichtete der Rolling Stone im Juli 1969 und ließ einen Skinhead erzählen: "Wir legen uns mit allen an, die uns quer kommen. Das ist keine leere Drohung. Es gab Zeiten, da konnten wir uns nur dann aus unserem Viertel herauswagen, wenn wir mehr als ein Dutzend Leute waren. In dieser Gegend und auch weiter weg von hier bekamen alle gottverdammten Crews zu spüren, was wir draufhatten, kannste hinschauen, wo du willst ... Überall waren wir da und nahmen die Jungs auseinander - und die waren natürlich auch alle hinter uns her." Zu den Skins stießen Arbeiterjungen nicht trotz der damit verbundenen Gefahren und Gewaltsituationen, sondern gerade weil sie es liebten, sich zu prügeln und gegenseitig durch die Straßen zu jagen.

Gegner und Opfer von Skinheadattacken konnte jeder werden, andere Skinhead-Gangs ebenso wie jeder, der zufällig durch ihr mit "tags" gekennzeichnetes Viertel lief. Die Gewalt, die allerdings am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog, war die gegen asiatische Einwanderer: "Paki-Bashing". Jeder vierte pakistanische Student wurde 1969 in den Straßen Londons attackiert. Nicht selten von kurzhaarigen jungen Männern mit stahlbewehrten Doc-Martens-Boots. Die rassistischen Parolen zahlreicher Politiker, die erkannt hatten, dass sie die damals durchaus noch potente britische Arbeiterklasse am simpelsten mit ethnisch aufgeladenem Sozialdarwinismus spalten und entwaffnen konnten, die Schlagzeilen der Massenmedien, die bald tagtäglich vor einer angeblich "unkontrollierten Flut von asiatischen Einwanderern" (Daily Mirror) warnten, hatten der Beliebigkeit der Skinheadgewalt eine rassistische Feindbildorientierung gegeben. Skinheads begannen auf der Straße das umzusetzen, was ihre Eltern und andere "Stammtischrassisten" nur verbal zu fordern wagten: "Ausländer raus!"

Dennoch nahm das berüchtigte "Paki-Bashing" im Bewusstsein der meisten kurzhaarigen Prügelknaben noch kein höheres Gewicht und keine andere Bedeutung ein als die Überfälle auf Hippies und Studenten oder die Straßenschlachten mit gegnerischen Fußballrowdies. Gewalt als Mittel der Grenzziehung und männlicher Identitätsbildung. Skinhead-Sein, das war immer noch eine Frage des Klassenstandpunktes und nicht der Hautfarbe. Dass Skinheads einmal weltweit zum Schreckenssymbol für rassistische Gewalt werden sollten, war da noch nicht abzusehen. Schließlich war der Skinhead-Kult aus einer Liaison "weißer" schlagender Verbindungen - Mods, Fußballfans - und "schwarzer" Einwanderer-Gangs entstanden.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.