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Gefühl und Härte – die Autonomen | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Gefühl und Härte – die Autonomen

Klaus Farin

/ 6 Minuten zu lesen

Die autonome Bewegung war sozial durchmischter, jünger und in ihrer Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft radikaler: Forderten die "68er" noch Reformen ein, glaubten die "81er" nicht mehr an die Reformierbarkeit des "Systems".

Mit ihrer "Befreiungsaktion" protestieren Mitglieder der Autonomen Tierschützer 1984 gegen die Hühnerhaltung in Legefabriken. (© AP)

Die Hausbesetzerbewegung machte auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar, dass sich seit der Anti-Atomkraft-Bewegung Mitte der Siebzigerjahre innerhalb der jungen radikalen Linken eine neue Widerstandskultur herausgebildet hatte: die Autonomen. Obwohl die Mehrheit ihrer Aktivisten ebenfalls bildungsbürgerlichen Familien entstammt, unterschieden sich die Autonomen in vielem von den studentischen Rebellen der Sechzigerjahre. Zunächst gab es keine Vordenker, "weder Drahtzieher noch Rädelsführer. Es gibt keinen Rudi Dutschke der 81er, auch keinen Che Guevara. Es gibt auch keine eindeutigen Entscheidungsstrukturen, so gut wie keine Delegationsformen, kein Zentrum." (Härlin 1981, S. 23) "Wir haben keine Organisation an sich, unsere Organisationsformen sind alle mehr oder weniger spontan, Besetzerrat, Telefonkette, Autonomen-Plenum und viele, viele kleine Gruppen, die sich entweder kurzfristig zusammensetzen, um irgendwelche Actions zu machen, oder langfristigere Gruppen, die Sachen wie Zeitungen, Radios oder irgendwelche illegalen Actions machen. Es gibt keinerlei festere Strukturen wie Parteien etc., auch keinerlei anerkannte Hierarchie." (radikal 97, August 1981, S. 10)

Die autonome Bewegung war sozial durchmischter, jünger und in ihrer Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft radikaler: Forderten die "68er" noch Reformen ein, glaubten die "81er" nicht mehr an die Reformierbarkeit des "Systems". – "Wir kämpfen nicht gegen die Fehler des Systems, sondern gegen seine Vollkommenheit." Gesucht: das "richtige Leben im falschen". Nicht nur die Gesellschaft im Ganzen, sondern auch jede/r Einzelne musste sich verändern – und damit die Utopie der befreiten Gesellschaft von morgen schon heute ein Stück weit in sich widerspiegeln. Die Szene – und jedes einzelne Mitglied – sollte schon heute vorleben, was dem Rest der Gesellschaft aufgrund der kapitalistisch-repressiven Verblendung noch nicht möglich war.

Die Szene wird so zur befreiten Zone inmitten einer feindlichen Umwelt und für die Angehörigen zum Mittelpunkt allen Seins. Politische Aktionseinheit und Lebensstilexperiment in einem, man lebte, arbeitete und kämpfte gemeinsam. "Dass ein Leben ohne Lohnarbeit, oder besser gesagt, mit so wenig entfremdeter Arbeit wie möglich, realisierbar ist, das beweist die Existenz von mehreren tausend arbeitsscheuen Aussteigern, Chaoten, Hausbesetzern und umherreisenden Berufsrevolutionären. Ein Minimum an Konsumbedürfnissen – was sich mit der Zeit von ganz alleine einstellt – und ein Maximum an Aneignung von produzierten Überflüssen macht ein solches Leben nicht nur theoretisch möglich. Praktisch heißt das, hier ein bisschen Bafög oder Arbeitslosenunterstützung, klauen, dort ein bisschen Obst von Kaisers, keine Miete mehr zahlen, jedes Jahr ein kleiner Versicherungsbetrug (es müssen ja nicht immer gleich Banken sein), nicht mehr so anfällig sein für die Ersatzbefriedigungsscheiße, die uns überall von Plakatwänden anschreit, in größeren Gruppen zusammenleben, Kommunen und Banden bilden – und wenn´s gar nicht mehr anders geht, ein paar Tage jobben gehen." (radikal 100, Januar 1982, S. 14)

"Die 68er Opas haben immer noch nicht begriffen, dass wir nicht für die Öffentlichkeit kämpfen, sondern für uns", melden sich im Zentralorgan der Neuen Linksradikalen, radikal, Szeneangehörige zu Wort. "Und zwar nicht gegen einen "Missstand", sondern für ein selbstbestimmtes Leben in allen Bereichen. Wir machen Aktionen nicht für die tierisch-ernste Revolution, sondern weils Spaß macht." (radikal 85, Oktober 1980, S. 11) Wie bei fast allen Jugendkulturen geht es auch bei den Autonomen im Kern um Selbstverwirklichung und Selbstinszenierung. "Die Bewegung verkleinerte die Welt zu einer Bühne, auf der man selbst Akteur sein konnte und nicht mehr nur Zuschauer massenmedialer Ereignisse war." (Agentur Bilwet 1991, S. 7) Die Politik der autonomen "Bewegung", wie sie sich selbst – trotz der Diskreditierung des Begriffs durch die nationalsozialistische "Bewegung" – vorzugsweise nennt, ist eine "Politik der ersten Person": "Wir kämpfen für uns und führen keine Stellvertreterkriege, alles läuft über eigene Teilnahme, Politik der ersten Person. Wir kämpfen nicht für Ideologien, nicht fürs Proletariat, nicht fürs Volk, sondern für ein selbstbestimmtes Leben in allen Bereichen." (radikal 97, August 1981, S. 10) Man besetzte Häuser nicht, um diese anschließend sozial marginalisier-ten kinderreichen Familien zur Verfügung zu stellen, sondern für sich selbst und zur Schaffung eines eigenen autonomen "Rückzugsgebietes" mit Szenekneipen, Infoläden, "Volxküchen" etc.; die ersten Antifa-Gruppen bildeten sich nach neonazistischen Überfällen auf Szeneangehörige und -strukturen; das Lieblingsthema der autonomen Szene – Sexismus – wurde nicht theoretisch oder am Beispiel gesamtgesellschaftlicher Diskriminierungen von Frauen oder Homosexuellen debattiert, sondern fast ausschließlich zur Herausbildung szene-eigener Denk-, Sprach-, und Verhaltensvorschriften genutzt.

"PC" zu sein, sich stets "politisch korrekt" zu verhalten, ist für die autonome Szene extrem wichtig, und da sie sich als eine alle Lebensbereiche umfassende Bewegung versteht, existiert kein einziges Alltagsmoment, das nicht den Kriterien der political correctness unterworfen würde. Ob Sprache, Kleidung, Gesten, Musikgeschmack oder freundschaftliche Beziehungen zu Szenefremden – alles wurde von den PC-Kontrolleuren der autonomen Szene registriert und bemerkt. "Leute, deren eigene Plattensammlung einmal von Interesse wäre, schwangen sich auf zur zentralen Prüfstelle und entschieden für andere, dass eine Veranstaltung nicht gut für sie sei" (Hillenkamp 1997/2001, S. 177). Was nicht gut war, wurde gnadenlos verbannt. "Entweder du bist ein Teil des Problems oder du bist ein Teil der Lösung", hatte es der – in autonomen Magazinen oft zitierte – RAFler Holger Meins auf den Punkt gebracht. Diese radikale Freund-Feind-, Gut-Böse-Logik schafft nicht nur ein identitätsstiftendes Wir-Gefühl, sondern vermittelt den Szeneangehörigen zusätzlich noch das elitäre Gefühl, zu den (wenigen) Guten gegenüber der unbewussten oder reaktionären Masse zu gehören.

Da die autonome Szene sich aus Menschen zusammensetzt, die oft ihrerseits wieder anderen Szenen – Hausbesetzern, Punks, Skins – angehören, gab es immer wieder Versuche, die rigiden Lebensvorstellungen der Autonomen auf diese anderen Szenen auszuweiten, was den Beliebtheitsgrad der Autonomen nicht gerade förderte, vor allem, wenn es sich um Szenen handelte, die selbst die Provokation der Mehrheitsgesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben hatten. "Autonome wurden unweigerlich zu Grenzern im Niemandsland, zu Regelsetzern in Szenen, die die Regelverletzung zur Regel gemacht haben – und handeln sich demgemäß jede Menge Ärger ein." (Hillenkamp 1997/2001, S. 178)

Eine durch Außendruck und heroische Selbstisolation verstärkte Abnabelung von der Mehrheitsgesellschaft führte bei nicht wenigen dazu, dass sie buchstäblich im "Ghetto" ihrer Szene versackten, das ihnen ein Leben ohne jeglichen Kontakt zur "Außenwelt" ermöglichen konnte. "Ein Großteil der Leute, die in den Häusern wohnen, leben da ja wie im Feindesland, verbarrikadiert, ohne Außenkontakt. Keine Überlegungen in die Richtung, welche Funktion kann unser Haus im Stadtteil haben, sondern: "Hier haben wir endlich einen Punkt, wo uns zugehört wird, und jetzt haun wir in die Scheiße rein und entlarven die ganze Sache in einem Abwasch." (in: Penth/Franzen 1982, S. 169)

Das Ziel war nicht mehr, "die Gesellschaft", also alle außerhalb der eigenen Szene, zu erreichen. "Wir werden nicht mehr über unsere Beweggründe mit Leuten diskutieren, die diese Gesellschaft reformieren wollen, statt sie zu bekämpfen." (radikal 134,1988, S. 20) Wer nicht mit Haut und Haaren dazugehörte, verschwand aus dem Blickfeld der Szene. Eine Bewegung spielt sich in einer anderen Dimension als "die Gesamtgesellschaft" ab, ihre Symbole ziehen nie alle an. Aber nur um die, die sich angesprochen fühlen, geht es. Bewegungen betreiben keine Politik, sie wollen mit keiner Aufklärungs-Pädagogik auf unbekannte Andere einwirken; sie versuchen nicht, sich auf die Ebene, die sie verlassen haben, zu vermitteln." (Agentur Bilwet 1991, S. 11) "Die Jugend" wurde – zumindest aus der Perspektive der etablierten Politik – "sprachlos", verweigerte sich dem Dialog. Sie fürchtete (und hatte aus der "Sozialdemokratisierung" der APO gelernt): Der Weg vom "Verstehen" zur sozialen Kontrolle ist nicht weit. Zu offensichtlich war das einzige Ziel des angebotenen "Dialogs": Die Jugendlichen sollten sich ändern, sonst nichts und niemand.

Das Misstrauen der Autonomen richtete sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die theorielastige Linke, die aus Sicht der jüngeren Autonomen inzwischen saturiert in ihren "Politzirkeln und Diskussionsgrüppchen" beisammensaß, ihr "revolutionäres Bewusstein" pflegte, aber nichts Reales mehr tat: "ihr wichte, die ihr uns die ideen erst ins ohr geblasen habt, um jetzt, wo es mal ans handeln geht, in der ecke zu sitzen, abseits, um zuzusehen, und euch, so nach und nach, zu distanzieren. von den steinwürfen. von der gewalt. als ob es ohne gewalt ginge, als ob ein staat, der jede art von gewalt benutzt, um sich zu erhalten, sich plötzlich überreden ließe, doch bitte abzutreten, sich aufzulösen. als ob die macht, die in extremen situationen zwangsläufig gewalt werden muss, nicht jede gegenmacht, nicht jeden widerstand, der ohne gewalt etwas zu ändern sucht, zumantscht. oder ins leere laufen lässt. in kultur abgleiten lässt, auf hochschulinseln vielleicht, auf lange märsche. in lehrersprüchen sich auflösen lässt, die mit den jahren noten werden, denn ohne noten keine disziplin. ihr erbärmlichen nichtse, die ihr alles, wie bequem, auf wohnungsnot, sanierungspolitik zurückgedreht habt, auf sprachlosigkeit, wie blind!, als wäre ein stein gegen eine bank, ein buttersäurebömbchen in ein delikatessengeschäft oder ein molli ins kaufhaus, in eines dieser protzigen schaufenster nicht sprache genug!" (Wildenhain 1983, S. 78f.)

Quellen / Literatur

Agentur Bilwet: Bewegungslehre. Botschaften aus einer autonomen Wirklichkeit. Berlin 1991.

Härlin, Benny: Von Haus zu Haus – Berliner Bewegungsstudien, in: Kursbuch 65, 1981, S. 1–28.

Hillenkamp, Sven: Glatzköpfe und Beton- köpfe. Skinheads und Autonome, in: Farin (Hrsg.) 1997/2001, S. 173–208.

Penth, Boris/Franzen, Günther: Last Exit. Punk – Leben im toten Herzen der Städte. Reinbek 1982.

radikal 85/1980

radikal 97/1981

radikal 100/1982

radikal 134/1988

Wildenhain, Michael: zum beispiel k.. Berlin 1983.

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.