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Die "Wende-Jugend" | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Die "Wende-Jugend"

Klaus Farin

/ 4 Minuten zu lesen

Eine "positive Jugend" entwickelt im Rückenwind der konservativen Politik ein neues Selbstbewusstsein. Mehr Leistungsbereitschaft und Vaterlandsliebe, Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit, Wertevermittlung statt kritischer Diskussion heißen die Schlagworte.

"Die Grünen Alternative für alle" - bei der Wende-Jugend ist Abgrenzung zu den "Traumtänzern" der linken und alternativen Szene angesagt. (© AP)

Die (frühen) Achtzigerjahre gelten heute als die große Zeit der Jugendrebellion - sicherlich zu Recht. Doch es gab auch die anderen, die konservativen Jugendlichen, die Popper, die "Wende-Jugend", wie sie die Illustrierte Bunte im Frühjahr 1984 in einer Serie porträtierte. "Die neue Generation hat weiß Gott keine Ähnlichkeit mehr mit den Lemmingen, jenen seltsamen Tieren, die sich ohne Not von hohen Felsen in den Tod stürzen", freut sich Autor Joachim Lottmann. "Solche Mentalität hatte die APO-Generation. Aber die ist nun runtergestürzt und somit nicht mehr da. Da ist: eine neue, leistungswillige, positive Jugend - ob einem das nun passt oder nicht. Was aus jungen Menschen, die auf so altmodische Dinge wie Disziplin und Etikette setzen, einmal wird, bleibt abzuwarten. Aber mehr als aus ihren Vorgängern allemal." (zitiert nach Farin/Müller 1984, S. 18) "Einsteigen statt Aussteigen" ist nun angesagt - auch unter Jugendlichen findet die auf der politischen Bühne proklamierte "geistig-soziale Wende" ihren Widerhall. Eine "positive Jugend", die nicht kritisieren, sondern schaffen will, entwickelt im Rückenwind der konservativen Politik ein neues Selbstbewusstsein. Mehr Leistungsbereitschaft und Vaterlandsliebe, Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit, Wertevermittlung statt kritischer Diskussion heißen die Schlagworte. Abgrenzung zu den "Traumtänzern" der linken und alternativen Szene ist angesagt.

Die schon zitierte Bunte-Serie startet mit einer Reihe Fotos und Bildtexten, bei der die "Jugend heute" und "früher" kontrastiert wird.

"Früher: Haltlose Jugendliche irrlichtern durch die Stadt. Beruf und Leistung sind ihnen vergällt. Heute: Ein Junge küsst seiner Tisch-'Dame' die Hand. Früher: 'Alles egal, prost!' Junge Leute flohen in den Alkohol. Heute: Drei frische 'Popper' fühlen sich wohl in ihrer Haut und in ihren Klamotten."

Im Folgenden werden ein halbes Dutzend "Wunsch-Jugendliche" porträtiert:

  • "Bettina S. (25) gehört zu einer neuen, zupackenden Generation, zur 'Jugend mit Biss'. Sie ist typisch für eine breite Mehrheit der jungen Leute, die nicht mehr rummäkeln und kritisch verharren will." - "Emanzipation? Ihr Gesicht verzieht sich, ihr Pferdeschwanz wippt mädchenhaft. Emanzipieren musste sie sich nur von den 'armen Künstlern', von der lähmenden Attitüde der 'brotlosen' und somit 'guten' Kunst. Heraus wollte sie aus dem Milieu der Versager, der Kaffeehauskünstler, der ewigen Kunststudenten mit ihren depperten Diskussionen und dem gepflegten Phlegma. Zum Glück geht diese Welt - seit den Bafög-Kürzungen - von selbst den Bach runter."

  • Hagar G. (16), Gymnasiastin mit immer neuen Berufswünschen: Immobilienmaklerin, Drehbuchredigeuse, Kameraassistentin. Sie "hasst ihre Lehrer", weil die ständig Gesellschaftskritisches in den Unterricht bringen: "Mülldeponien, Aluminiumreste und Umweltskandale". Doch: "Bei der munteren Hagar fruchtet alle Agitation nicht. Für sie gibt es Interessanteres als Umweltskandale. 'Ich will Geld verdienen. Ich will einmal zur James-Bond-Premiere nach New York fliegen können!'"

  • Andreas M. (23), Student der Geschichte, Berufswunsch: Presseattaché im Auswärtigen Amt, Gehalt: 6.000 DM im Monat. Lieblingslektüre: Bismarck, Clausewitz, Thomas Dehler. "Viele wissen leider nicht mehr, dass Deutschsein noch anderes ist als die Nationalmannschaft."

  • Oliver B. (24), "verdient ein Heidengeld mit selbst geschriebenen Computerprogrammen" und "strahlt die Zuversicht eines Öl-Erben aus: immer sonnig, unverbindlich, freundlich."

  • Eschi F. (22), genannt "Giggimaus". Sie managt ein neues Kabelfernsehprogramm mit dem beziehungsreichen Titel "Schön ist die Welt".

  • Sven V. (20), Hotellehrling: "'Festliche Essen bei den Erwachsenen finde ich ausgesprochen interessant.' Erst redet man über Hotels, Reisen, Weine, dann mit den Vätern über Geschäfte, Länder, Präsidenten, über die ökonomische Lage. Die Damen absentieren sich, zwitschern lustig über Kleider. Ein Erlebnis. Noch aufregender sind die Partys im größeren Kreis. Mit allem Drum und Dran wie früher: gedruckte Einladung, Vorstellung, Tanz, Trinksprüche. Am meisten gefallen ihm die 'Damenreden', fein gesponnene Liebenswürdigkeiten zu Ehren der anwesenden Damen. Klar, dass die jeweils per Tischkärtchen ihm zugeteilte Tischdame in ihm einen treuen Tänzer hat. 'Manchmal bekommt man ein langweiliges Mädchen. Aber ich lass mir nichts anmerken.'"

Joachim Lottmanns Fazit: "Bei der Jugend ist wieder Stil gefragt. Und das ist nicht nur eine Äußerlichkeit. Überall treten selbst- und zielbewusste Mädchen und junge Männer an, um den verheerenden Schaden zu beseitigen, den die Null-Bock-Generation angerichtet hat." (a.a.O., S. 19f.)

Auch das war die Jugend der Achtzigerjahre. Nicht jede/r empfand die Ära Kohl als bleischwere Last und die rechtskonservative Wende als negativ. Wirtschaftsliberale und neokonservative Bünde und Initiativen wie die "Jungen Liberalen", "Jugendarbeit '80", "Konservative Jugend Deutschlands", mehrere rechte Jugendpresseverbände und studentische Vereinigungen gründeten sich, um die "Wende" auch im Jugendbereich voranzutragen. Auch das rechtsextreme Potenzial der Achtzigerjahre war nicht zu unterschätzen. So hatte die von Mai 1979 bis April 1980 im Auftrag des Bundeskanzleramtes durchgeführte Sinus-Studie (1981) ermittelt, dass noch immer 13 Prozent der Wahlberechtigten über ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild" verfügten, sprich: Neonazis waren. Sechs Prozent der Befragten billigten sogar rechtsextremistische Gewalttaten bis hin zu terroristischen Akten gegen Linke und "Ausländer". Außerdem korrigierte die Sinus-Studie ein Vorurteil über "die Jugend", die angeblich besonders anfällig für Rechtsextremismus sei. Im Gegenteil: Gerade die Jugendlichen zeigten sich "in weit überdurchschnittlichem Maße resistent gegenüber rechtsextremen Ideologien. Während der Anteil der 18-21-Jährigen acht Prozent in der Wahlbevölkerung ausmacht, sind sie beim rechtsextremen Einstellungspotenzial nur mit vier Prozent vertreten. Generell lässt sich sagen, dass die rechtsextreme Ideologie bei den Altersgruppen unter 40 Jahren deutlich weniger Widerhall findet als bei den Älteren." (Sinus-Studie 1981, S. 79-81, 86, 97)

Nicht erst nach der Maueröffnung gab es Opfer rechtsextremer Übergriffe, schon zwischen 1983 und 1987 starben in der alten Bundesrepublik 25 Menschen infolge rechtsradikalen Terrors. Die Hauptopfer der rechtsextremen Gewalt der Achtzigerjahre waren gleichaltrige männliche Migrantenjugendliche. Doch die haben längst begonnen, sich zu wehren.

Quellen / Literatur

Farin, Klaus/Müller, Leo A.: Die Wende-Jugend. Reinbek 1984.

Sinus-Studie: 5 Millionen Deutsche: "Wir sollten wieder einen Führer haben ..." Die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen. Reinbek 1981.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.