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Einführung | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Einführung

Klaus Farin

/ 6 Minuten zu lesen

Ohne den Rock´n´Roll hätte es vermutlich kaum eine der bekannten Jugendkulturen der 60er-, 70er- und 80er-Jahre gegeben. Selbst Punk, der den zum Superstarzirkus aufgeblasenen Rockbetrieb wieder in die Klubs und auf die Straßen zurückholte, bediente sich des traditionellen Weges: Gründe eine Band, besorge dir ein paar Instrumente, schreibe ein paar Songs und leg´ los.

Impression aus der Bronx aus dem Jahr 1975 - hier wird der Hip Hop geboren. (© AP)

Dann kam Techno, und die Bands wurden arbeitslos. Die Fans und Macher der neuen elektronischen Musik benötigten sie nicht mehr. Der Computer übernahm die Regie. 40 Jahre Popkultur - Elvis und die Beatles, Bob Dylan und Johnny Cash, James Brown und Michael Jackson, Madonna und Ton Steine Scherben - waren plötzlich Geschichte, old fashion. Die rock-sozialisierte Generation war schockiert. Nicht die Politik, sondern elektronische Musik hatte einen Generationenbruch, einschneidender als ´68, produziert.

Doch eine der wesentlichen Neuerungen, die Techno brachte - die Ablösung der Bands und der "echten" Musik durch DJs und collagierte Soundfragmente -, ist keine Erfindung von Techno. Es war die HipHop-Kultur, die zum ersten Mal den DJ als "Musiker" in den Mittelpunkt stellte, der anders als der traditionelle Plattenaufleger in den Diskotheken die Musik anderer Leute nur als Ausgangsmaterial nahm, um mit Hilfe zweier Plattenspieler ein neues, sehr eigenständiges Kunststück zu kreieren.

Die Wurzeln des HipHop sind viele Generationen alt und eng mit der Geschichte der Sklaverei verbunden. Als eigenständige Jugendkultur jedoch trug HipHop erst in den frühen 70er-Jahren Blüten. Tricia Rose, Dozentin für Afrikanische Studien an der Universität New York, beschreibt in dem von ihr und Andrew Ross 1994 herausgegebenen Band "Microphone Fiends - Youth Music and Youth Culture" die sozial-politischen Ursachen der neuen jugendkulturellen "Spaß- und Widerstandsgemeinschaften": "Zwischen den 30er- und späten 60er-Jahren ließ der legendäre Städteplaner Robert Moses eine Reihe öffentlicher Bauprojekte durchführen. Highways, Parks und Wohnanlagen entstanden, die das Profil von New York City nachhaltig veränderten. 1959 begannen Stadt-, Staats- und Bundesbehörden mit der Ausführung des Cross-Bronx-Expressway, der mitten durchs Herz der ärmsten und am dichtesten bevölkerten Wohngebiete der Bronx führen sollte. Obwohl der Expressway problemlos um die proletarischen Wohngemeinden hätte herumgeführt werden können, wählte Moses einen Verlauf, der den Abriss hunderter Wohn- und Geschäftsgebäude notwendig machte. Das von Moses entworfene Programm zur Beseitigung der "Slums" erzwang die Umsiedlung von ca. 170000 Menschen. Was Moses "Slums" nannte, waren alte Arbeiterwohnviertel, dicht besiedelte, stabile nachbarschaftliche Gemeinschaften" (Rose 1997, S. 146). Wer nicht zwangsumgesiedelt wurde, floh. "Von den späten 60er- bis zur Mitte der 70er-Jahre stieg die Zahl leerstehender Wohnungen im südlichen Teil der Bronx sprunghaft an. Einige besonders unruhige Hausbesitzer verkauften ihr Eigentum schnellstmöglich, oftmals an professionelle Slumverwalter. Andere zündeten ihre Gebäude an, um Versicherungsgelder zu kassieren. Beides beschleunigte den Abzug der weißen Mieter. Die Stadtverwaltung, die den Expressway als Zeichen des Fortschritts und der Modernisierung pries, war nicht bereit, den angerichteten Schaden zur Kenntnis zu nehmen" (a.a.O.).

Das änderte sich schlagartig, als im Juli 1977 während eines 27-stündigen Stromausfalls in New York Hunderte von Geschäften in der Bronx und anderen verarmten Stadtvierteln geplündert und verwüstet wurden. Das Interesse der Medien erwachte. Die Bilder verlassener, halb zerfallener Häuser wurden zum Sinnbild für das Scheitern des modernen urbanen Lebens, der großstädtischen amerikanischen Kultur überhaupt. Medien illustrierten ihre Berichte über Kriminalität, Armut, den Verfall der Städte und den Ruin sozialer Verhältnisse mit Bildern aus der Bronx, Spielfilme wie "Wolfen" und "Koyaanisqatsu" präsentierten die Bronx als eine von jeder Menschenseele verlassene Gespensterstadt, andere wie "The Warriors" oder "The Bronx" bedienten sich ihrer als Kulisse für jugendliche Bandenkriege, und Tom Wolfe beschreibt schließlich in seinem Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten" die neue Urangst der weißen New Yorker: nachts aus Versehen in der Bronx zu stranden.

Doch diese hatte sich im Verlauf der 70er-Jahre allmählich wieder bevölkert. Zum einen schlicht dadurch, dass die Stadtregierung sozial schwache farbige Familien aus anderen Stadtvierteln dorthin zwangsumsiedelte, zum anderen durch den Zuzug puertoricanischer, jamaikanischer und anderer Familien aus den ehemaligen Kolonien, denen der billige Wohnraum gerade recht war.

Als die Vereinigten Staaten 1976 prunkvoll ihren 200. Geburtstag feierten, hatte sich auch für die Farbigen manches zum Positiven verändert. Sie durften nun auch in den letzten US-Staaten wählen, in Kinos, Theatern und öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen, wo sie wollten, hatten Zugang zu höherer Bildung. Eine neue schwarze Mittelschicht entstand, deren Lebensstandard sich nicht mehr von dem der weißen Mittelschicht unterschied.

Doch diesen Gewinnern der Globalisierung standen jene gegenüber, die nur die Schattenseiten der neuen postindustriellen Weltordnung zu spüren bekamen. Vor allem für die ethnischen Minderheiten in den großstädtischen Ballungsräumen der USA bedeuteten die Verlagerung von Arbeitsplätzen an die Peripherien der sogenannten "Dritten" und "Vierten Welt" und die massiven Kürzungen in den staatlichen (Aus-)Bildungs-, Gesundheits- und Sozialetats Massenarbeitslosigkeit und zunehmende Verelendung. Doch seit der Zerschlagung der Black Panthers durch die CIA fehlte die Kraft, die den Frust und den Widerstandsgeist vor allem der Jüngeren kanalisieren konnte. Bar jeglicher Aussicht auf eine Veränderung der Lage, strikt separiert vom Mainstream der Gesellschaft, führten die Kids Stellvertreterkriege gegen sich selbst: Drogen, Kriminalität, Bandenkriege.

"The Message" von Grandmaster Flash & The Furious Five eröffnete dem Rap ein neues Potenzial: War die HipHop-Kultur in den 70er-Jahren eigentlich nur eine alternative Partyform jugendlicher Ghettokids, preiswert selbstorganisiert und fernab vom langweiligen Rock- und Disco-Mainstream der weißen Jugendlichen, so begannen DJs und MCs nun damit, Rap als Darstellungsform für die brutale Ghetto-Realität zu nutzen. Ihr Ziel: die sinnlose, selbstzerstörerische Gewalt und Drogenflut einzudämmen und kreativ umzulenken. Statt sich gegenseitig umzubringen, motivierten sie die Gangs, ihre Rivalitäten in Verbal Contests und DJ-Battles auszutragen, sprühten ihre erfahrungsgesättigten Warnungen vor exzessivem Drogenkonsum an die Wände, verkehrten das verächtliche "Nigger"-Dasein im Rap zum selbstbewussten "black & proud". Wie einst aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Black Panthers entsprangen der HipHop-Szene politisch-religiöse Vereinigungen wie die Zulu Nation von Afrika Bambaataa, der selbst Mitglied der Bronx-Gang The Black Spades war. Nachdem er aber erleben musste, wie sein bester Freund bei einer sinnlosen Gang-Schießerei von neun Kugeln niedergestreckt wurde, ging er auf Distanz zu den Gangs und entdeckte in der HipHop-Kultur eine neue Heimat und die Chance zur Deeskalation. "Die Zulu-Nation war auch eine Streetgang, nur mit einem leicht transformierten Code. Während es bei den regulären, kleinkriminellen Streetgangs darum ging, Territorien zu kontrollieren und sich mit den Nachbargangs zu bekriegen, bezog sich die Zulu-Nation vor allem auf ein imaginäres Territorium, nämlich Afrika. Normale Streetgangs hatten einen Code, der auf bestimmten Heldentaten beruhte, die man begehen musste, um aufgenommen zu werden. Der Ruf einer Gang war um so großartiger, je unbarmherziger sie auftrat. Bei der Zulu-Nation hingegen ging es um kreative Fähigkeiten - allerdings immer noch innerhalb des Bezugsrahmens "Straße". Wer Mitglied in der Zulu-Nation werden wollte, musste besonders gut tanzen, sprühen oder Platten auflegen können" (Blümner 2002, S. 293).

Es ging also weiterhin um Wettbewerb, um Konkurrenz. Doch die sollte anders ausgetragen werden als bisher. Kreativität als Waffe. Wer zukünftig den Respekt - ein Schlüsselwort nicht nur in der HipHop-Kultur - seiner Community erhalten wollte, musste ihn mit Worten, Farben, Tanzen und Musik erarbeiten, nicht mit der Pumpgun.

Rap war von Beginn an message music; die Texte standen im Mittelpunkt, und "so viel Text pro Zeiteinheit hatte es nie zuvor gegeben" (Jacob 1993, S. 183). Rap bedeutete vor allem "Lust an Kommunikation, endloses Reden und Argumentieren" (a.a.O.). Und egal, ob die Texte von Sex, Drogen, Geschlechtskrankheiten, Armut oder Kriminalität handelten, sie spiegelten immer den Alltag und die (Alp-)Träume der schwarzen Unterschicht Nordamerikas wider, der die Rapper selbst angehörten. Rap verknüpfte so in modernem Gewand zum Teil jahrhundertealte Traditionen schwarzer Geschichtsschreibung, die zumeist eine illegal und damit mündlich überlieferte war: von den Griots, den spöttischen Geschichte(n)-Erzählern und -Sängern Westafrikas, über den Scat-Gesang des Bebob bis zum Gospel schwarzer Prediger. Dabei war die Sprache des Rap subversiv. Begriffe aus der (weißen) Herrschaftssprache bekamen im Kontext eines Rap-Songs eine völlig andere Bedeutung, enthüllten ihren wahren Sinn; Doppeldeutigkeiten oder die extremen Übertreibungen beim "Signifying" waren nur für die Angehörigen derselben Stadtviertel zu decodieren. Rap war Musik und Aufklärung aus dem Ghetto für das Ghetto.

Quellen / Literatur

Blümner, Heike: Street Credibility. HipHop und Rap. In: Kemper/Langhoff/ Sonnenschein (Hrsg.) 2002, S. 292 - 306.

Jacob, Günther: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin 1993.

Rose, Tricia: Ein Stil, mit dem keiner klar kommt. HipHop in der postindustriellen Stadt. In: SPoKK (Hrsg.) 1997, S. 142 - 156.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.