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Der Sound aus dem Trichter Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons

Stefan Gauß

/ 14 Minuten zu lesen

Auf der Tagesordnung der Monatssitzung des Elektrotechnischen Vereins stand am 26. November 1889 der erste nachweisbare Vergleich zwischen dem Phonographen und dem Grammophon. Versammelt hatten sich im Großen Hörsaal des Kaiserlichen Postfuhramts der Staatssekretär des Reichspostamts Heinrich von Stephan, der Geheime Regierungsrat Werner von Siemens, der Ober-Telegraphen-Ingenieur Grahwinkel sowie weitere Berliner Unternehmer, Ingenieure, Offiziere und Wissenschaftler. Der Telegraphen-Ingenieur des Reichspostamts Müller stellte dem Auditorium den Phonographen vor. Er sprach einige Sätze hinein, die auf eine Wachswalze aufgezeichnet wurden, und spielte diese wieder ab. Über das Hörerlebnis berichtet Költzow, Werkmeister in einer elektrotechnischen Fabrik: "Die Sprache war rein und klar mit etwas Nebengeräusch, jedoch sehr leise, sodass nur die Umstehenden, die sich in nächster Nähe befanden, etwas hören konnten." Emile Berliner führte das von ihm konstruierte Grammophon vor. Költzow schrieb über den Höreindruck: "Als Berliner seinen Apparat in Tätigkeit setzte, entstand ein fürchterliches Geräusch, welches fast unerträglich war, bald aber ertönte eine vollständige Orchestermusik, aus welcher man trotz des Geräusches fast jedes einzelne Instrument heraushören konnte."

Der Ingenieur und Unternehmer Emile Berliner, der 1870 von Hannover in die USA ausgewandert war, hatte sein Grammophon zum ersten Mal am 16. Mai 1888 vorgestellt, und zwar vor Wissenschaftlern des Franklin-Instituts in Philadelphia. Ab Anfang September 1889 befand er sich in Deutschland. Es war seine Absicht, den Bekanntheitsgrad seiner "Erfindung" zu erhöhen und Investoren zu finden. Dazu hielt er Vorträge in Hannover, Berlin und Frankfurt a. M., in welchen er die Funktionstüchtigkeit und den Gebrauchswert des Grammophons demonstrierte und die Technik erläuterte.

Nahezu zur selben Zeit waren der US-amerikanische "Erfinder" und Unternehmer Thomas Alva Edison und sein Assistent Theo Wangemann auf Werbereise für den von Edison entwickelten Phonographen. Er wurde gerade in Paris auf der Weltausstellung gezeigt, wo Edison ihn auch seinem Freund und Geschäftspartner Werner von Siemens vorstellen wollte. Da dieser jedoch verhindert war, schickte Edison Wangemann nach Berlin. Die erste Vorführung des Phonographen vor deutschen Wissenschaftlern fand in den Räumen der Firma Siemens & Halske am 15. September 1889 in Anwesenheit von Edison statt. Wie die Berliner Presse tags darauf berichtete, verwies Edison bei dieser Vorführung auf die Rationalisierungseffekte, die mit dem Gebrauch des Phonographen zum Zweck der geschäftlichen Kommunikation verbunden seien. Wangemann ergänzte, dass die Tonwalze als Ersatz für den geschriebenen Brief dienen könne; er selbst habe in Paris eine Tonaufnahme angefertigt und diese als postillon d’amour an seine Ehefrau in New York geschickt. Wenige Tage nach der Vorführung verließ Edison Deutschland wieder Richtung USA.

Hörbeispiel im Internet:Thomas Edison, "Mary had a little lamb" vom 12. August 1927

Thomas A Edison (r.), Charles Bachelor (m.) and Uriah Painter (l.) stellen in Washington dem amerikanischen Präsidenten den Phonographen vor, 1878. (© picture-alliance, United Archives/TopFoto)

Edison hatte gehofft, Kaiser Wilhelm II., Kanzler Otto von Bismarck und Generaloberst Helmuth von Moltke persönlich den Phonographen vorstellen zu können; ein Treffen kam jedoch nicht zustande. Allerdings bekundeten die drei telegrafisch ihr Interesse und so beauftragte Edison Wangemann, seine Promotion-Tour abzubrechen und in Berlin Sprachaufnahmen von Wilhelm II., Bismarck und Moltke zu machen. Edison hatte bereits in den USA damit begonnen, berühmte Personen in den Aufnahmetrichter sprechen zu lassen. Es gehörte zu seinem strategischen Kalkül als Unternehmer, seine "Erfindung" mit diesem PR-Mittel populär zu machen und mit sozialem Prestige aufzuladen. Schließlich war mit dem Phonographen noch keine kulturell legitime und gesellschaftlich verankerte Praktik verbunden, die dem neuen Objekt eine dauerhafte Nutzung und eine wirtschaftlich tragfähige Kommerzialisierung gesichert hätte.

Am 23. September war es so weit. Wangemann traf Interner Link: Wilhelm II., der sich vom Phonographen begeistert zeigte, sich den Apparat erläutern ließ und Tonaufnahmen anhörte. Allerdings wollte er sich nicht aufnehmen lassen, auch nicht beim zweiten Treffen am übernächsten Tag. Stattdessen zeichnete Wangemann die Stimme des 7-jährigen Kronprinzen Wilhelm, der das Lied Interner Link: Heil dir im Siegerkranz zum Besten gab, und die seiner jüngeren Brüder Eitel Friedrich und Adalbert auf jeweils einer Walze auf. Die Reproduktion des vom Kronprinzen intonierten Liedes hörte zwei Wochen später Bismarck, als ihn das Ehepaar Wangemann auf seinem Schloss in Friedrichsruh bei Hamburg besuchte. Nachdem Bismarck verschiedene Tonaufnahmen angehört hatte, sprach er selbst in den Aufnahmetrichter.

"Diese neue Erfindung des Herrn Edison ist in der Tat staunenswert"

Moltke hörte die Aufnahme von Bismarck am 21. und 22. Oktober. Das Ehepaar Wangemann befand sich auf der Reise nach Wien und legte bei Moltke einen Zwischenstopp ein. Moltke besprach mehrere Walzen. Unter anderem sprach er das neue Handlungspotenzial an, das mit der technischen Reproduktion von Schall verbunden war: "Diese neue Erfindung des Herrn Edison ist in der Tat staunenswert. Der Phonograph ermöglicht, dass ein Mann, der schon lange im Grabe ruht, noch einmal seine Stimme erhebt und die Gegenwart begrüßt."

Das Neue an Phonograph und Grammophon war, dass sie den flüchtigen Schall in eine materielle, dauerhafte und reproduzierbare Spur verwandelten. Dies bedeutete zugleich, dass der Schall in der technischen Reproduktion die Bindung an seinen Ursprung verlor: Der Apparat spaltet das gesprochene Wort vom Körper des Sprechers ab, die Musik aus einer Posaune vom Instrument und das Geklapper der Pferdehufe von den Pferden, dem Straßenpflaster und dem Stadtraum, in dem sich dies alles abspielt. Zeit und Raum wurden neu geordnet. Einige der Zeitgenossen, die die Spezifik der technischen Reproduktion von Schall zu bestimmen versuchten, verglichen den Phonographen und das Grammophon mit dem Planspiegel, dem Telefon, der optischen Linse oder dem mechanischen Musikapparat.

Hörbeispiel im Internet:Moltke Tonaufnahme, 21.10.1889

Der technischen Reproduktion von Schall wurde zugeschrieben, sie überwinde Raum und Zeit, die Zeit jedoch nur in Richtung Zukunft, da Aufnahmen von bereits vergangenen akustischen Ereignissen nicht möglich waren. Obschon die modernen Verkehrsmittel Eisenbahn und Automobil das Verhältnis von Raum und Zeit gleichfalls revolutionierten, erschien den Zeitgenossen der Phonograph und das Grammophon mehr als eine Art "Zeitmaschine", die einen zeitlosen Raum der Ewigkeit erzeugt. Dieser "Raum der Ewigkeit" sichert der von Moltke angeführten "Stimme aus dem Grab" ihre die Zeit überdauernde Aktualität, so wie allen anderen Stimmaufzeichnungen, die als historische Spur bis heute erhalten geblieben und für uns wie für zukünftige Generationen von Hörern gegenwärtig sind – zeitgemäß technisch "up to date" als MP3-Files im Internet zugänglich gemacht.

Der Weg in die Kommerzialisierung

Während Wangemann seine Reise fortsetzte und weitere Stimmporträts berühmter Personen sammelte, verkündete Berliner dem Auditorium im Berliner Postfuhramt, dass Edisons Phonograph technisch bereits am Ende sei, sein Grammophon hingegen noch ganz am Anfang der Entwicklung stehe. Er führte in seiner Betrachtung die von Költzow geschilderten Höreindrücke auf die unterschiedlichen technischen Bedingungen der beiden Apparate zurück.

Die Unterschiede in den technischen Funktionsprinzipien wie in der Form des Tonträgers hatten für die Nutzungskonzepte und die Vermarktungschancen der zwei Apparate weitreichende Folgen. Edison sah im Phonographen in erster Linie einen neuen Büroapparat, der in der Lage sein würde, im Verbund mit Telefon und Schreibmaschine die Kommunikation zu rationalisieren. Als sein Apparat in den USA erfolgreich als Münzphonograph vermarktet wurde, protestierte Edison dagegen; der Münzphonograph spielte, nachdem man Geld eingeworfen hatte, vorbespielte Tonwalzen ab, die mit Hilfe von Hörschläuchen angehört werden konnten. Berliner wiederum war der Ansicht, dass die Zukunft der Tonaufzeichnung im Unterhaltungsbereich liege. Deshalb sah er in der umständlichen und teuren Vervielfältigung der Tonwalzen den entscheidenden Schwachpunkt des Phonographen und verzichtete beim Grammophon auf die Funktion der Selbstaufnahme.

Wenngleich sich Berliners Standpunkt im Nachhinein als hellsichtig erwies, blieb aus Sicht seiner Zeitgenossen, die sich an der Kommerzialisierung der Apparate beteiligten, offen, welches der beiden Nutzungskonzepte sich zukünftig als marktfähig erweisen würde. Das Beispiel des Werkmeisters Költzow kann das Problem verdeutlichen. Költzow, seit besagter Monatssitzung des Elektrotechnischen Vereins enthusiastischer Protagonist der Tonaufzeichnung, experimentierte zunächst mit dem Grammophon, entschied sich letztlich jedoch für den Phonographen, weil er einem Gerät, das Schall sowohl aufnehmen als auch wieder abspielen konnte, bessere Marktchancen zuschrieb als einem bloßen Wiedergabeapparat. Also konstruierte er einen eigenen Phonographen und eröffnete 1890, wie er 1913 rückblickend berichtete, die "erste deutsche Phonographenfabrik in Berlin".

Galerie: Grammophon

(© picture-alliance/akg, Otto Haeckel) (© picture-alliance/akg, Otto Haeckel (digital koloriert)) (© picture-alliance/akg) (© picture alliance/IMAGNO ) (© picture-alliance/dpa, Fotoreport Deutsche Grammophon) (© picture-alliance, IMAGNO) (© picture-alliance/dpa) (© picture-alliance/akg) (© picture-alliance, arkivi ) (© picture-alliance/akg) (© picture-alliance/akg) (© picture-alliance, Heritage Images / Fotograf: The Print Collector) (© picture-alliance/akg) (© Public Domain, Library of Congress / Reinhold Lessmann, nachbearbeitet Stern at German Wikipedia) (© picture-alliance, Tagesspiegel)

Die Zwei-Mann-Firma, zu der neben Költzow noch der Klavierspieler Bahre gehörte, kaufte von der Columbia Phonograph Company "Baby"-Apparate und versah diese mit einem Glasgehäuse und einer umlaufenden Halterung, an die ein Dutzend Hörschläuche angebracht wurden. Die so ausgestatteten Apparate wurden dann an Schausteller teuer weiterverkauft. Als Költzows und Bahres rechte Hand fungierte der Schlosser Paul Pfeiffer. Dieser gründete gemeinsam mit seinem Schwager, dem Mechaniker Carl Lindström, in den 1890er Jahren die Firma "Pfeiffer & Lindström, Mechanische Werkstatt für Neuheiten und Massenartikel jeder Art". Aus der Werkstatt ging 1908 die Lindström AG hervor, ein als Global Player auf dem Weltmarkt agierender Konzern.

Zeitschriftenwerbung für Grammophone, 1902 (© picture-alliance/akg)

Das enorme Wachstum der Phonoindustrie war eingelagert in den Kontext der zweiten Industriellen Revolution mit ihren Leitsektoren Elektrotechnik und Chemie. Seit den 1880er Jahre herrschte eine allgemeine Prosperitätsphase und die zunehmende Verbreitung der modernen Kommunikations- und Transportmittel sorgte für einen Globalisierungsschub. Der Aufstieg der Phonoindustrie vollzog sich in mehreren Ländern gleichzeitig, vor allem aber in den USA, in Frankreich, in England und in besonderem Maße in Deutschland. Denn die deutsche Phonoindustrie stieg als Teil der "New Economy" der Kaiserzeit vor 1914 zum Weltmarktführer und Exportweltmeister auf. Konzerne wie die Lindström AG und die Deutsche Grammophon-Gesellschaft unterhielten zahlreiche internationale Produktionsstätten und ein weltumspannendes Handelsnetz.

Berlin war die Hauptstadt der Phonoindustrie. Hier, im Exportviertel rund um die Ritterstraße hatte sich eine große Zahl an Betrieben angesiedelt oder eine Niederlassung eröffnet. Zudem bot die Musikkultur Berlins genügend Gelegenheiten für Tonaufnahmen – beispielsweise nahm die Deutsche Grammophon den Star-Tenor Interner Link: Enrico Caruso bei einem Gastaufenthalt auf – und die Berliner Bevölkerung eignete sich als Testmarkt für die neuen Produkte.

Der Phonograph spielte für das Wachstum der Phonobranche indes kaum eine Rolle. Zwar verbesserten technische Innovationen die Möglichkeit, Tonwalzen in industrieller Fertigungsweise zu vervielfältigen, und relativierten so den Vorteil der Schallplatte in diesem Punkt ein wenig. Jedoch glichen umgekehrt technische Verbesserungen, insbesondere die Verwendung von Schellack ab Oktober 1896, Schwächen der Schallplatte gegenüber der Tonwalze aus. Die Möglichkeit, Aufnahmen anzufertigen, blieb zwar weiterhin die Domäne des Phonographen. Jedoch machten die Konsumenten davon kaum Gebrauch, weshalb die technische Vorrichtung für die Selbstaufnahme schließlich nur noch auf Wunsch geliefert wurde.

Der Absatz des Phonographen ging nach 1900 kontinuierlich zurück. Die Lindström AG nahm ihn 1907 aus ihrem Angebot und Edison stellte die Herstellung 1913 ganz ein. Lediglich bei Diktierapparaten und anderen Spezialkonstruktionen wurde das System des Phonographen mit Selbstaufnahmemöglichkeit fortgeführt.

Neue Handlungsmöglichkeiten und der Zwang zur Perfektion

Die Ausbreitung und Etablierung der Phonoindustrie hatte massive Auswirkungen, und zwar vor allem auf die Musikkultur. Mit der Verbreitung der Schallplatte ließ sich die Popularität eines Komponisten, Sängers oder Musikers in bislang unbekannter Weise steigern und mit den Tantiemen aus dem Verkaufserlös eines "Schlagers" konnte man über Nacht reich werden. Zugleich hatten sich die Künstler den Bedingungen des Aufnahmeverfahrens im Tonstudio und dem Toningenieur als bestimmendem Akteur zu unterwerfen. Für die Künstler bedeutete die Tonaufnahme zunächst die Aneignung und Einübung von Disziplin und die Kontrolle ihrer Affekte. Die gewohnten wie spontanen Bewegungen des Körpers, die selbstverständlicher Teil des künstlerischen Ausdrucks waren, hatten meist Schwankungen in der Lautstärke zur Folge und in einigen Fällen beendeten ausufernde Armbewegungen vorzeitig die Aufnahme, weil dadurch die Aufnahmeapparatur in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Eine Aufnahme ließ sich weder wie der Film "schneiden" und neu montieren noch nachbearbeiten. Daher durften den Beteiligten über die gesamte Aufnahmedauer keine Fehler unterlaufen. Da man die unterschiedlichen Lautstärken und Dynamiken der Instrumente und des Gesangs nicht "aussteuern" konnte, mussten die Akteure je nach Klangintensität ihrer Instrumente in unterschiedlichen Abständen zum Aufnahmetrichter stehen; zugleich mussten sie alle möglichst nahe an diesen heranrücken, was zu äußerst gedrängten Anordnungen führte. Noch schwieriger wurde es für die Musiker, wenn die Anordnung, bedingt durch die vom Musikstück geforderte wechselnde Tondynamik, im Laufe der Aufnahme geändert werden musste.

Fotografie der deutschen Sängerin Frieda Hempel (1885-1955). Zu ihren bekannten Liedern gehören Die Stimme von Portici und Die Regimentstochter. Undatierte Aufnahme. (© picture-alliance/dpa)

Die Sängerin Frieda Hempel, von 1907 bis 1912 an der Berliner Hofoper engagiert, schilderte ihre Erlebnisse während ihrer allerersten, 1907 für die Odeon eingespielten Aufnahme. Als sie singen sollte, so Hempel, habe ihr jemand als Zeichen in den Rücken "geknufft" und wenn ihre Partitur kräftigere Töne verlangte, habe einer der Techniker sie am Rock gezogen, damit sie vom Aufnahmetrichter zurücktrat. Bei leiseren Tönen sei sie dann mit entsprechender Energie wieder an den Trichter herangeschoben worden: "Bei diesem handgreiflichen Verfahren die musikalische Kontinuität zu wahren, fiel nicht leicht. Die Aufnahmen mussten sehr oft wiederholt werden, weil die Stimme nicht gleichmäßig war. Und wenn eine Aufnahme wirklich glückte, dann zerbrach womöglich die Platte."

Ferner bedeutete die Tonaufzeichnung für die Künstler, dass sie nicht, wie im Konzert, für ein begrenztes und präsentes Publikum spielten. Der "ewig" auf dem Tonträger aufgezeichnete Schall richtete sich nunmehr an ein imaginäres Publikum, das für den Künstler örtlich und zeitlich entgrenzt, sozial indifferent und quantitativ unbestimmt erschien. Man sang, musizierte und rezitierte vor einem potenziell in die Zukunft kommender Generationen verlängerten Weltpublikum. Einer Mehrheit der Künstler schien dies nichts auszumachen, ein Teil reagierte jedoch mit einer "Trichterfurcht"; eine Furcht, die selbst bühnenerprobte und im Repertoire gefestigte Künstlerinnen und Künstler ereilte, sodass sie, als es darauf ankam, versagten. Toningenieure berichteten von Fällen, die an einen Blackout erinnern, einem durch Stresserfahrung blockierten Gedächtnis.

Das Spielen für die "Ewigkeit", gepaart mit der Unmöglichkeit, eine fehlerhafte Aufnahme wiederholen zu können, zwang zur künstlerischen Perfektion. Besonders eindrucksvoll schildert der Pianist Artur Schnabel 1932 sein Leiden während der Aufnahmen von Beethovens Sonaten in London. Für Schnabel war es das erste Mal, dass er Aufnahmen für Tonträger einspielte. Den "Verplattungsvorgang" hielt der Pianist für eine "Zerstörung durch Erhaltung". Was nicht sterben könne, habe nie gelebt, so Schnabel. Die Unvollkommenheit der vom Menschen erschaffenen Maschine tue dem Menschen Gewalt an, indem die "armselige Technik" ihn zwinge, fehlerfrei zu sein, was aber nicht gelingen könne. Schnabel schrieb, dass er sich nach den Aufnahmen nahe am Nervenzusammenbruch befunden habe. Ihn überfiel das Gefühl der Scham angesichts seiner menschlichen Leistung, die er gegenüber der unbedingten Perfektion, zu der ihn die Maschine zwang, Interner Link: nur noch als unzulänglich wahrnehmen konnte.

Der Hörer vor dem Trichter

"Entzückende Heroldnadeln überall zu haben". Reklamemarke der Firma Heroldwerk Nürnberg, um 1915 (© picture-alliance/akg)

Der Phonograph und das Grammophon veränderten nachhaltig die Möglichkeiten, Musik zu hören. Sie erlaubten das Hören in gänzlich neuen Bezugsverhältnissen und eröffneten damit Hörformen, die der konzertanten Aufführung verschlossen blieben. So ließ sich das Hören von Musik individualisieren und intensivieren; Musik wurde "näher" erlebt.

Phonograph und Grammophon nahmen den Schall nicht einfach auf und gaben ihn wieder, sondern formten die akustische Wirklichkeit um und ersetzten sie durch eine neue. In Frage gestellt wurden mit der reproduzierten akustischen Wirklichkeit die überkommenen Wahrnehmungsweisen. Was war eine angemessene Wahrnehmung? Nach welchen Maßstäben sollte der Sound aus dem Trichter beurteilt werden? Was ist ein schöner Ton? Zunächst wurde die Reproduktion nach dem Grad ihrer Übereinstimmung mit dem Original beurteilt. Aus diesem Blickwinkel versprachen Phonograph und Grammophon Wiedergabetreue im Sinne von Authentizität und Detailgenauigkeit. Doch ist dieses Ideal prinzipiell nicht erreichbar. Die Reproduktion repräsentiert das Original lediglich aufgrund der Ähnlichkeit, die sie mit ihm hat.

Zur "Treue zum Original" wurde um 1910 eine Gegenposition entworfen, deren Apologeten dafür eintraten, dass der "Phonographenton" als etwas Eigenständiges zu betrachten sei und nicht am Original gemessen werden dürfe. Vielmehr stünde er für sich und besitze das Potenzial zu einer eigenen Schönheit, die unter bestimmten Umständen sogar geeignet sei, diejenige des Originals zu übertreffen.

Was als "schön" empfunden werden konnte, hing nicht nur vom Klang der Apparate ab, sondern in hohem Maße auch vom Gebrauch, den der Hörer von seinen Sinnen machte. Besonders die Imagination beeinflusste das Hörerlebnis. So plädierte 1924 der österreichische Dramatiker und Journalist Rudolf Lothar in seiner Abhandlung Die Sprechmaschine dafür, dass der Hörer für die genussvolle Aneignung von Schallplattenmusik seine "Illusionskraft" ausbilden und nutzen solle. Mit dieser Kraft ließen sich die unerwünschten Nebengeräusche des Apparats unterdrücken und gleichzeitig das Gehörte mit den Genuss steigernden Vorstellungen, inneren Bildern und Phantasien anreichern. Lothar ebnete mit seinem Konzept der "Illusionskraft" – zumindest theoretisch – dem Bildungsbürgertum den Weg zur Schallplattenmusik, der es eher zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstand.

Der Gebrauch der Sinne bildete nicht nur die Voraussetzung für die Aneignung von Schallplattenmusik, sondern konnte im Kontext des Habitus des Musikhörers auch als Ausdruck der musikalischen Bildung und sozialen Distinktion gelesen werden. Vor allem der Blick des Hörers galt als ein Indikator für die Zugangsweise zur Musik: Der musikalisch ungebildete Hörer bevorzuge Apparate mit großem Schalltrichter, den er mit dem Besitzerstolz des "kleinen Mannes" anstarre, während man den kunstsinnig genießenden Musikkenner daran erkenne, dass er den Blick zum Apparat vermeide, womöglich sogar wie im Konzert zur Intensivierung des Erlebnisses die Augen schließe und Apparate bevorzuge, die sich als Möbel visuell in den Stil der Wohnungseinrichtung einfügten, ohne ihren eigentlichen Zweck preiszugeben. Insbesondere die sogenannten trichterlosen Apparate mit einer im Gehäuse integrierten Schallführung kamen dem Bedürfnis nach der Unsichtbarkeit der Schallquelle entgegen.

Rationalisieren, Analysieren, Archivieren, Lernen

Die mit dem Phonograph und dem Grammophon verbundenen Aneignungs- sowie Umgangsweisen erstreckten sich nicht allein auf den Zweck der Unterhaltung. Parallel hatten sich eine Vielzahl weiterer Nutzungen unterschiedlichster Art in verschiedenen Bereichen des Arbeitslebens, der Wissenschaft und der Bildung herausgebildet. Im Arbeitsleben wurde der Phonograph als Diktierapparat eingesetzt, in Parlamenten zur Aufzeichnung und Transkription von Reden, in Unternehmen und von Selbstständigen zur Flexibilisierung und Rationalisierung von Schreibarbeit. In den Fabriken diente Grammophonmusik zum Eintakten zumeist eintöniger Arbeiten sowie zur Zerstreuung der Arbeiter und Angestellten.

In den Wissenschaften verwendeten Forscher den Phonographen als ein neues Medium zur Fixierung akustischer Phänomene, die sich mithilfe der Apparatur mit neuen Methoden eingehend analysieren ließen. Die Forschungen in der vergleichenden Musikwissenschaft basierten auf dem Phonographen, der die Möglichkeit zu neuartigen ethnologischen Studien bot. Die Tonwalze als neue Quellengattung gestattete das Sammeln und Archivieren akustischen Materials; die Notwendigkeit dazu begründeten Vertreter der Volkskunde beispielsweise mit dem Hinweis auf das drohende Verschwinden ursprünglicher kultureller Ausdrucksformen. Sie argumentierten kulturpolitisch, dass gerettet werden müsse, "was zu retten ist", bevor der unaufhaltsame technische Fortschritt weltweit die egalitäre westliche Zivilisation verbreitet und alle regionalen Eigentümlichkeiten hinweggefegt habe.

Sprachwissenschaftler hofften indes, mit dem Phonographen auf das generative Prinzip der Sprache zu stoßen; Ärzte nahmen Körpergeräusche zu Schulungszwecken auf. Zahnärzte wiederum boten ihren Patienten an, sie mit Musikbegleitung vom Grammophon zu behandeln, da dies die Schmerzwahrnehmung reduziere.

Im Bildungsbereich dienten Sprachschallplatten zur Schulung der richtigen Aussprache beim Erwerb von Fremdsprachen; Musik- und Gesangslehrer nutzten Phonograph und Grammophon, um ihre Schüler besser auf Fehler aufmerksam machen zu können oder um ihnen Beispiele vorbildhafter Musik vorzuspielen.

In der Ausbildung von Stenotypistinnen diente Grammophonmusik als Taktgeber für das Tippen. In den frühen Kinos setzte man besonders laut spielende "Starktonapparate" zur Pausengestaltung, Vertonung oder akustischen Begleitung der Filmvorführungen ein. Und im Berliner Öffentlichen Nahverkehr dachte man darüber nach, ob nicht ein Phonograph die Ansagen des Schaffners übernehmen könne.

Vom ersten funktionstüchtigen Phonographen von 1877 und den darauf folgenden Objekten zur technischen Reproduktion von Schall, von ihrer industriellen Herstellung wie ihrer massenhaften Aneignung und ihrem Gebrauch sind tief greifende und alltagsbezogene Veränderungen ausgegangen. Die Fähigkeit, Schall aufzeichnen und wiedergeben zu können, ist seither auf immer neue Objektgenerationen übergegangen – bis zu den heutigen digitalen Abspielgeräten. Die Geschichte dieser Objekte der "industriellen Massenkultur" (Wolfgang Ruppert) verdeutlicht, wie sich an ihnen Prozesse der Produktion, der Nutzung und der Sinngebung festmachen, die in neue Lebensweisen und Lebenswelten münden.

Quellen / Literatur

Edison in Berlin, in: Berliner Presse, 16.9.1889 

Edison in Frankfurt a. M., in: Frankfurter Zeitung, 17.9.1889

Thomas A. Edison Papers Project, Externer Link: http://edison.rutgers.edu, Digital Edition, Document-ID:SC89157A

Elektrotechnische Zeitschrift, hrsg. vom Elektrotechnischen Verein, 10 (1889) 23, S. 552 – 554 u. 10 (1889) 21, S. 472 

Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Zur Kulturgeschichte von Phonograph und Grammophon in Deutschland (1900 – 1940), Köln u. a. 2009 

Werner Grünzweig (Hrsg.): Artur Schnabel: Musiker, Musician, 1882 – 1951 (Ausst.-Kat.), Hofheim 2001 

Frieda Hempel: Mein Leben dem Gesang. Erinnerungen, Berlin 1955 

Erich Moritz von Hornbostel: Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft, Vortrag, gehalten in der Ortsgruppe Wien der Internationalen Musikgesellschaft (IMG) am 24.3.1905, in: Zeitschrift der Internationalen ­Musikgesellschaft 3 (1905) 7, S. 85 – 97; 

A. Költzow: Aus der Entstehungsgeschichte der Sprechmaschine, in: Die Sprechmaschine 9 (1913) 21, S. 409 f. 

Wilhelm Kronfuss: Studien über den Stil von Phonographen und Phonogrammen, in: Phonographische Zeitschrift 10 (1909) 17, S. 448 f. 

Rudolf Lothar: Die Sprechmaschine, Leipzig 1924 

N. N.: Die Liebe zur Musik, in: Die Sprechmaschine 3 (1907) 3, S. 42 ff. 

Stephan Puille: Fürst Bismarck und Graf Moltke vor dem Aufnahmetrichter. Der Edison-Phonograph in Europa, 1889 – 1890 (Version vom 30.1.2012 mit Ergänzungen vom 1.2.2012), in: The Cylinder Archiv; Externer Link: www.cylinder.de

Georg Rothgiesser: Akustische Wissenschaft und phonographische Technik, in: Phonographische Zeitschrift 14 (1913) 12, S. 309 – 312

Fussnoten

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