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Vaterlose Jugend

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Amerika wird zum Synonym für Jugend und der "American way of life" zur Waffe der Jugendlichen gegen die restriktiven Forderungen und preußischen Ideale, wie Ordnung, Disziplin, bedingungslose Unterordnung unter Autoritäten, der "Alten".

Hollywoods Rebell und Vorbild vieler deutscher Jugendlicher - Marlon Brando in den Columbia Studios 1953. (© AP)

Laut einer Untersuchung des Senators für Schulen und Erziehung war in Bremen im Sommer 1947 bei 5.067 Schülerinnen und Schülern der Vater tot, bei 1.967 vermisst, bei 3.099 noch in Kriegsgefangenschaft, bei 2.310 aus anderen Gründen nicht bei der Familie. Nach einer im gleichen Jahr an Münchener Volksschulen durchgeführten Erhebung waren dort 27,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler "Schlüsselkinder", das heißt, sie wuchsen weitgehend ohne elterliche Betreuung auf (vgl. Zahn 1992, S. 73). Mehr als die Hälfte der deutschen Männer war im Krieg gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Auch die Mutter war häufig abwesend, weil sie die Familie ernähren musste. Doch die Abwesenheit von erwachsenen Erziehungsberechtigten war durchaus nicht nur problematisch, sondern ermöglichte den Kindern und Jugendlichen unter anderem eine große Autonomie in ihrem Lebensalltag.

Als dann in den Fünfzigerjahren vermehrt wieder Väter am Küchentisch saßen - 1,4 Millionen Kriegsgefangene wurden allein 1950 aus der UdSSR nach Deutschland entlassen - und Entscheidungsgewalt über das Leben der Jugendlichen beanspruchten, waren diese nicht mehr bereit, sich zu fügen. Dies musste in zahlreichen Familien zwangsläufig zu Konfrontationen führen, die von den Jugendlichen allerdings - anders als von ihren Nachfolgern ab den späten Sechzigern - noch nicht bewusst gesucht wurden.

Was die Älteren am meisten empörte, war die scheinbare Sinnlosigkeit der jugendlichen Renitenz. Als Marlon Brando in "Der Wilde" gefragt wird, wogegen er eigentlich rebelliere, lautet seine lapidare Antwort: "Mach 'nen Vorschlag." Aber wer genauer hinsah, entdeckte doch immer wiederkehrende, gar nicht zufällige Angriffsziele. "Die 'Störung der Ordnung' durch herausforderndes Verhalten sowie die Auflehnung gegen ausgewiesene Autoritäten und deren gewöhnlich sichtbar uniformierte Vertreter gehörten mit zu den bevorzugten Aktionen. Aus diesem Grund waren Polizisten, Soldaten, aber auch Straßenbahnschaffner, Bademeister, Schützenbrüder und Briefträger bevorzugte Provokationsobjekte. Es ging den aufsässigen Jugendlichen vornehmlich um die Blamage der Autorität durch Des-avouierung der Hoheitszeichen (Dienstmütze wegnehmen, Festgenommene befreien, Uniform beschädigen, Polizeiwagen schaukeln, behindern oder wegtragen)." (Lindner 1996, S. 34)

Die Halbstarken verachteten Uniformen und alles Militärische; der Frontsoldat, bisher trotz zweier (verlorener) Weltkriege ungebrochenes Leitbild der männlichen Jugend und geradezu Inbegriff der Männlichkeit schlechthin für ihre Vätergeneration, war für die Halbstarken bestenfalls eine lächerliche Figur:

"Die Alten sind einem auf den Keks gegangen mit ihrem Gesabbel über Krieg und Kriegserfahrung, immer verherrlichend, auch in diesen sozialdemokratischen Cliquen - also wenn die vom 'Russland-Feldzug' oder sonst was geredet haben, dann kriegten die alle leuchtende Augen. Was uns ungeheuer anstank, also nicht weil wir per se Antimilitaristen waren oder sonst was, sondern dieses Gesabbel dieser älteren Generation ging uns halt auf den Keks - und die Alternative dazu waren die Amerikaner, wo das alles anders war aus unserer Sicht: Riesenland, reiche Leute, große Autos, dominante Jugendliche." (Klaus Woldeck, Jahrgang 1943, in: Maase 1992, S. 131)

Die Halbstarken bekannten sich mit ihrer Mode, ihrer Musikleidenschaft, ihrem ganzen Stil demonstrativ zur US-amerikanischen Kultur, und das mangels eigener Räume auch noch öffentlich sichtbar auf der Straße. Sie bildeten keine politische Opposition zu ihren Eltern und waren durchaus wie diese stolze Arbeiter, die häufig sogar in denselben Fabriken und Zechen ihrer Väter und Großväter beschäftigt waren. Doch durch ihr bloßes "Herumlungern" in ihrer Freizeit demonstrierten die "Eckensteher", dass sie mehr vom Leben erwarteten als eintönige, oft sinnlose Arbeit und nicht begründete Unterordnung unter "Autoritäten", die in den Augen der Jugendlichen angesichts des Nationalsozialismus und des Krieges längst jede Autorität verloren hatten. Sie waren nicht "anti-autoritär", wie ihre rebellischen jüngeren Geschwister zehn Jahre später, doch Autorität war für sie kein Geschenk, das einer Person automatisch qua Amt oder Alter zustand. Wer Autorität für sich beanspruchen wollte, musste sie sich erst einmal verdienen.

Amerika wird zum Synonym für Jugend und der "American way of life" zur Waffe der Jugendlichen gegen die restriktiven Forderungen und preußischen Ideale, wie Ordnung, Disziplin, bedingungslose Unterordnung unter Autoritäten, der "Alten". Während die post-nationalsozialistische deutsche Filmindustrie Produktionen wie "Hunde, wollt ihr ewig leben", "Division Brandenburg" oder "So war der deutsche Landser" auf den Markt bringt, stürmen die Jugendlichen in Filme mit amerikanischen Rebellen wie Marlon Brando ("Der Wilde", 1953, "Die Faust im Nacken", 1954) und James Dean ("... denn sie wissen nicht, was sie tun", 1955, "Jenseits von Eden", 1955, "Giganten", 1956), die nicht nur offen gegen die Anforderungen der "Alten" opponieren, sondern auch noch - viel schlimmer! - die Frage nach dem Sinn von Ordnung und Unterordnung stellen - und damit die Männer der Kriegsgeneration im Kern ihrer Identität treffen und infrage stellen.

Die Halbstarken bildeten eine ausgeprägte Männerkultur, doch ihr Ideal von "Männlichkeit" unterschied sich in einem zentralen Punkt von dem ihrer Väter: Ihre Vorbilder waren Zivilisten, und deren wichtigste Tugend war: "Lässigkeit". Eine Hand stets in der Hosentasche, eine Kippe im Mundwinkel, selbst beim Reden. Meist beobachtete man ohnehin lieber als zu reden, mit jenem Blick, den Marlon Brando in "The Wild One" so perfekt vorgeführt und den man sich mühevoll vor dem heimischen Spiegel antrainiert hatte, die Augenlider stets auf Halbmast; auch bei sensationellen Neuigkeiten und härtesten Anmachen bloß nicht die Ruhe verlieren, niemals schnelle, eckige Bewegungen machen.

Der Stil der Halbstarken und Rock´n´Roller enthielt aber durchaus auch "weibliche" Elemente: die längeren Haare, vor allem aber deren extrem aufwendige und künstliche Gestaltung, bei der selbst kosmetische Hilfsmittel (Wellaform) zum Einsatz kamen, die grellbunte, kontrastreiche Kleidung, überhaupt das erotisch aufgeladene Auftreten ("der so singt, wie Marilyn Monroe geht", stellte Bravo dem deutschen Publikum Elvis Presley vor). "Frauen machen sich für Männer attraktiv und nicht umgekehrt!", zeterten die Älteren. Als dann auch noch Idole wie James Dean anfingen, sich als verletzliche Wesen zu präsentieren, sogar öffentlich zu weinen, und gerade deshalb von ihren Fans noch mehr verehrt wurden, verstanden die "hart wie Kruppstahl" erzogenen Väter die Welt nicht mehr. Doch obwohl sie gegen die "Veramerikanisierung" ihrer Söhne kämpften, "als ginge es noch einmal um den Endsieg" (Maase 1992, S. 20), ließ sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen, denn die Jugend bekam starke Verbündete.

Quellen / Literatur

Lindner, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn. Opladen 1996.

Maase, Kaspar: Bravo Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Hamburg 1992.

Zahn, Susanne: Schlüsselkinder, in: Foitzik (Hrsg.) 1992, S. 73-76.

Fussnoten

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Klaus Farin wurde 1958 in Gelsenkirchen geboren. Er war 1997 Mitbegründer des Externer Link: Archivs der Jugendkulturen in Berlin. Heute ist er Leiter dieses Archivs und arbeitet zudem als Schriftsteller, Journalist und Lektor.