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Regionenbeispiel Lateinamerika: Kreativ gegen soziale Ungleicheit | Kulturelle Bildung | bpb.de

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Regionenbeispiel Lateinamerika: Kreativ gegen soziale Ungleicheit

Timo Berger

/ 9 Minuten zu lesen

Wirtschaftskrisen führten in Lateinamerika seit den 1990er-Jahren zu rapiden Verschlechterungen der staatlichen Bildungssysteme. Verlierer sind die Armen und andere marginalisierte Gruppen. Zivilgesellschaftliche Organisationen setzen diesen Entwicklungen kreative Projekte kultureller Bildung entgegen und wirken auf soziale Integration hin.

Einleitung


In einzelnen Ländern Lateinamerikas wie in Uruguay und Argentinien gab es bereits im 19. Jahrhundert Bestrebungen, moderne Bildungs- und Erziehungssysteme zu schaffen. Argentinien etwa schrieb 1884 per Gesetz die laizistische, kostenlose und obligatorische Bildung fest. In Uruguay gründete die Lehrerin Enriqueta Compte y Piqué 1892 den ersten Kindergarten der Region.

Seit den 1990er-Jahren kam es aber in vielen Ländern Lateinamerikas im Zuge mehrerer Wirtschafts- und Schuldenkrisen zu einer Aushöhlung staatlicher Bildungssysteme. Privatschulen erlebten einen zuvor ungekannten Aufschwung. Traditionell an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Gruppen (Arme, Angehörige indigener Gruppen, Kranke und Behinderte) waren Verlierer dieser neuen Realität. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die den Ansatz haben, Kunst und soziale Integration zu verknüpfen, schaffen seitdem Angebote außerschulischer kultureller Bildung. Im größten Land Lateinamerikas, Brasilien, ist diese kulturelle Arbeit an der Basis seit 2004 offiziell anerkannt. Das Projekt "Cultura Viva" unterstützt etwa 4000 solcher Initiativen, so genannte Kulturpunkte, mit staatlichen Mitteln auch finanziell.

Aktuelle Entwicklungen


Laut der UNESCO sind die Länder Lateinamerikas und der Karibik in den vergangenen zehn Jahren dem Ziel, Bildung für alle anzubieten, näher gekommen: 95 Prozent der Kinder besuchten 2008 eine Primaria (die meist sechs Jahre dauernde Grundschule), fast neun von zehn Heranwachsenden gehen mittlerweile auf eine Secundaria (eine vier bis sechs Jahre dauernde weiterführende Schule) und die Analphabetenrate unter der erwachsenen Bevölkerung sank auf 36 Millionen (das entspricht einem Anteil von 9 Prozent). Vier der 26 Länder der Region ermöglichen ihrer Bevölkerung laut UNESCO schon heute einen umfassenden Zugang zu Bildung: Argentinien, Aruba, Kuba und Uruguay. Dies schließt den Ausbau frühkindlicher Bildung, eine Grundschule für alle Kinder, Zugang zu weiterführenden Schulen und die Abschaffung des Analphabetismus ein.

Doch ein Problem Lateinamerikas und der Karibik bleibt auch in Ländern wie Argentinien und Uruguay bestehen: die großen sozialen und regionalen Ungleichheiten. Und diese wirken sich auf die Bildungserfolge aus: Ob ein Kind eine weiterführende Schule auch wirklich abschließt und damit die Möglichkeit bekommt, eine Universität zu besuchen, unterliegt laut der UNESCO Einflussfaktoren wie sozialer Herkunft, Wohnort, Geschlecht, aber auch der Frage, ob ein Kind aus einer indigenen Familie stammt. In Kolumbien zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, dass Heranwachsende aus armen Familien in städtischen Gebieten die weiterführende Schule abschließen drei Mal höher als bei armen Jugendlichen auf dem Land. In Peru sind 21 Prozent der Erwachsenen, die eine indigene Sprache sprechen, Analphabeten. Und in Bolivien besuchen Kinder aus wohlhabenden Familien in der Stadt durchschnittlich elf Jahre, Kinder aus ärmeren Familien weniger als sechseinhalb Jahre die Schule. Insgesamt kann man sagen, dass indigene Bevölkerung und ethnische Minderheiten, vor allem wenn sie zuhause nicht die Unterrichtssprache sprechen, immer noch sehr große Nachteile haben.

Die unterschiedlichen Bildungschancen sind längst nicht mehr auf ländliche Regionen beschränkt. Bis heute hält in Lateinamerika die Landflucht an, und tagtäglich kommen Menschen auf der Suche nach Arbeit in die großen Metropolen wie São Paulo, Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Lima oder Caracas. Da Wohnraum knapp ist, sehen sich viele Migrantinnen und Migranten gezwungen, in informelle Siedlungen in oder am Rand der Stadt zu ziehen. Oft verfügen diese in Brasilien "Favela", in Argentinien "Villa miseria", in Venezuela "Barrios" oder "Ranchos" genannten Siedlungen nicht einmal über die nötigste öffentliche Versorgung.

Die Zustände zum Tanzen bringen


Eine dieser Elendssiedlungen heißt "La Cava" und befindet sich im Großraum von Buenos Aires, ganz in der Nähe der wohlhabenden Vorstadt San Isidro. 50.000 Menschen leben in La Cava, ohne regulären Stromanschluss, ohne fließendes Wasser oder Kanalisation, erzählt Inés Sanguinetti, Choreographin und Tänzerin. Sie ist Präsidentin der "Fundación Crear vale la pena", einer Nichtregierungsorganisation, die sie 1997 zusammen mit Juan Peña gegründet hat. Die offensichtliche Armut der Bewohnerinnen und Bewohner von La Cava verringert auch die Bildungschancen der Kinder: "60 Prozent der Kinder aus armen Familien schließen die weiterführende Schule nicht ab", sagt Inés Sanguinetti. Die Stiftung "Crear vale la pena" will Jugendliche aus armen Vierteln an künstlerische Tätigkeiten heranführen. Die Kunst, so sind Inés und die derzeit zehn Mitarbeiter der Fundación überzeugt, ist ein Werkzeug, um die Gesellschaft zu verändern.

Vor zehn Jahren eröffnete die Nichtregierungsorganisation zwei Kulturzentren, eines davon in La Cava, das andere in einem nicht weit davon entfernten, ebenfalls marginalisierten Viertel, Bajo Boulogne. In den beiden Kulturzentren wurden seitdem Jugendliche zu Musikern, Tänzern und Wandmalern ausgebildet; es wurden Choreographien und Theaterstücke entwickelt, Hiphop-Workshops und Gitarrenunterricht gegeben. "Unser Ziel ist es nicht, eine Kunstakademie für arme Jugendliche zu schaffen, sondern einen Raum für die soziale Transformation", betont Sanguinetti. Daher machen das feste Team von "Crear vale la pena" und die bis zu 50 jungen Freiwilligen den Heranwachsenden nicht nur kulturelle Angebote, damit sie sich persönlich weiterentwickeln, sondern sie vermitteln ihnen auch Fähigkeiten, damit sie selbst Verantwortung für ihre "Community" übernehmen können. Das hat in La Cava mittlerweile dazu geführt, dass die Jugendlichen aus der Nachbarschaft das Kulturzentrum nun selbst betreiben, das Kulturprogramm planen und Workshops und Kurse organisieren. Aus den ehemaligen Teilnehmern sind selbst Akteurinnen und Akteure geworden.

Crear vale la pena spricht Jugendliche auch direkt an Schulen an. Mit dem Programm "Somos Voz. Iguales pero diferentes" haben sie bislang an 22 Schulen mit künstlerischen Aktionen den Alltag durchbrochen. Wenn das Team von Sanguinetti kommt, entwickeln die Schülerinnen und Schüler unter Anleitung von Koordinatoren fünf Tage lang gemeinsam Musik-, Tanz- und Theateraufführungen und werden auch eingeladen, über Themen politischer Bildung wie Menschen- und Bürgerrechte nachzudenken. Inés Sanguinetti erklärt, ihr Ziel sei es, "schöpferische und expressive Aktivitäten stärker in die Schulen mit einzubeziehen", um so die Qualität der Bildung und des Zusammenlebens in den oft von vielen Konflikten beherrschten Schulen zu verbessern. Seit ein paar Jahren widmet sich die Organisation nun verstärkt der Ausbildung von so genannten "Multiplikatoren": Junge Freiwillige, die ihre Erfahrungen in eigenen Projekten, die Kunst und soziale Transformation verbinden, weitertragen.

Kunsterziehung als Teil ganzheitlicher Entwicklung


In Chile wurde Anfang der 1990er-Jahre das Bildungswesen von Grund auf reformiert. Vor allem die "Escuelas municipales", die von den Gemeinden betriebenen Schulen, sind die Verlierer dieser Reform: Es fehlt ihnen oft an Haushaltsmitteln, aber auch an geeigneten Lehrkräften. Die Qualität der Bildung ist laut dem chilenischen Schulleistungstest SIMCE geringer als die anderer Schulformen (den zum Teil staatlich subventionierten oder vollständig selbstfinanzierten Privatschulen). "Die Kinder, die öffentliche Schulen besuchen, schneiden in Tests am schlechtesten ab. Gleichzeitig stammen sie aus den ärmsten Elternhäusern", erklärt Constanza Baeza Fuentes, Geschäftsführerin von "CreArte", einem gemeinnützigen Verein, der Schülerinnen und Schüler zu künstlerischen Aktivitäten befähigen will. "Wir wollen durch die Kunst den Kindern eine ganzheitliche Erfahrung ermöglichen". Das Selbstvertrauen stärken, die Kreativität und soziale Fähigkeiten fördern, sind die drei Bildungsziele von CreArte. Viele Schulen in Chile, vor allem die öffentlichen, präzisiert Baeza Fuentes, sähen durchaus, dass in ihrem Bildungsangebot etwas fehle, doch verfügten sie nicht über genügend Mittel, um diese Lücke zu füllen.

CreArte sieht sich deshalb als Ergänzung zum offiziellen Bildungssystem. Kunst ist nach dem Verständnis des Vereins das Mittel, um Veränderungen in der Gesellschaft auszulösen. Kindern aus armen Haushalten und mit psychosozialen Schwierigkeiten soll geholfen werden, ihre Entwicklung selbst voranzutreiben – vorrangig in Kommunen, in denen es Probleme mit Drogen und Gewalt gibt und wo viele Jugendliche die Schule vorzeitig abbrechen. Bei CreArte engagieren sich Freiwillige im Alter von 18 bis 29 Jahren, um während eines Schuljahrs (von Mai bis November) jeden Samstag Kurse in verschiedenen künstlerischen Disziplinen anzubieten. Zwischen 800 und 1.300 Kinder in bis zu zehn Schulen konnten so in den vergangenen Jahren Theater spielen, Marionetten basteln, malen, tanzen, Skulpturen modellieren, Erzählungen oder Gedichte schreiben oder Lieder lernen.

Das Projekt hatte seinen Ursprung im Jahr 1992, als eine Gruppe von Studierenden begann, Kindern, die in einer Siedlung auf illegal besetztem Land lebten, Kurse in Tanz, Theater und Malen anzubieten. 2001 wurde schließlich der gemeinnützige Verein CreArte gegründet. Dass Kunsterziehung bislang nicht in allen chilenischen Schulen ein Platz hat, habe historische Gründe: In Chile, meint Baeza Fuentes, wurde die Kunst nicht immer angemessen bewertet. Gerade Eltern aus armen Verhältnissen hätten Vorurteile und sehen heute noch nicht ein, dass Kunsterziehung Teil der ganzheitlichen Einwicklung einer Person ist. "Sie halten es für absurd, dass ihre Kinder in ihrer Freizeit einen Kunstworkshop besuchen, statt sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen", erklärt die Direktorin von CreArte. Dennoch schätzen die Kinder die Kurse am Samstag durchaus als einen Bruch mit den Routinen: Am meisten nachgefragt, erzählt Baeza Fuentes, werden Aktivitäten, die körperliche Bewegungen einbeziehen, wie Theater oder Tanz – also alles, was sich mehr von normalen Schulfächern entfernt.

Regionale Netzwerke und Kulturförderung


Die beiden vorgestellten zivilgesellschaftlichen Organisationen sind nur zwei von vielen Initiativen, die durch kulturelle Bildung soziale Integrationsarbeit leisten. Seit 2005 existiert das Netzwerk "Red Latinoamericana de Arte para la Tranformación Social" (RLATS), dem heute 80 Organisationen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Guatemala, Honduras, Peru, El Salvador und Uruguay angehören. Gemeinsam ist allen Mitgliedsorganisationen, dass sie ihre künstlerische Praxis – Musik, Theater, Tanz, Zirkuskunst und Bildende Künste – in Kontexten von sozialer Exklusion entwickeln. Kunst ist für RLATS-Mitglieder ein "Motor, um die am stärksten verwundbaren und ausgeschlossenen Menschen in die Gesellschaft aufzunehmen". Auf dem Weg dorthin werden mit künstlerischen Methoden – Straßentheater, Karnevalsparaden, Zirkus, Wandmalereien – unmittelbar persönliche aber auch politische Anliegen thematisiert: Wie können wir uns Menschenrechte einfordern? Wie werden wir zu gleichberechtigten Bürgern? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit? Wie schaffen wir einen Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen eines Landes – zum Beispiel zwischen indigenen Gruppen und spanischen Muttersprachlern?

RLATS wurde allerdings nicht allein für den Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Organisationen an der Schnittstelle zwischen Kunst und sozialer Transformation geschaffen, sondern auch um gemeinsam einen stärkeren Einfluss auf die Agenda der Politik auszuüben. Dabei geht der Blick besonderes nach Brasilien: Die von der Regierung unterstützten "Pontos de Cultura", Basisinitiativen, die kulturelle Bildung und Community-Arbeit verbinden, erscheinen Inés Sanguinetti als erstrebenswertes Modell für die anderen Länder Lateinamerikas. Das Netzwerk möchte, dass vergleichbare Einrichtungen in ihren Ländern geschaffen werden: Ein bestimmter Anteil der Staatsausgaben (RLATS´ Ziel sind 0,1 Prozent) soll künftig bereitgestellt werden, um vor Ort künstlerische Aktivitäten der "Communities" zu finanzieren. Dies soll Synergien zwischen dem Staat und Kulturzentren der Zivilgesellschaft in den Bereichen Kunst, Bildung, Gesundheit und Gleichheit ermöglichen. Schon 2009 wurde ein entsprechender Antrag im Parlament des Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) angenommen – jetzt obliegt es den Regierungen der lateinamerikanischen Länder, den Mechanismus, von dem sich die RLATS-Aktivisten mehr Unterstützung für ihre Arbeit versprechen, zu nationalen Gesetzen zu machen.

BrasilienKulturpunkte – Ein Modell für Lateinamerika?

Offizielle Kulturförderung konzentrierte sich in Brasilien traditionell – wie in den meisten zentralistisch regierten lateinamerikanischen Ländern – auf die großen Städte Sao Paulo, Rio de Janeiro, Brasilia, Recife und Porto Alegre. 2004 legte die damalige Regierung unter Luis Inácio Lula da Silva das bis heute bestehende Programm "Cultura Viva" auf. Dessen zentraler Bestandteil ist die Förderung so genannter "Kulturpunkte". Kultur ist im Sinne des Programms weiter gefasst und geht über die klassisch westlichen Kulturgüter (das materielle Kulturerbe und Kunstwerke) hinaus. So werden durch "Cultura Viva" gezielt auch immaterielle Kulturgüter, wie populäre Tänze und Musik gefördert. Das Programm richtet sich an bereits bestehende kulturelle Initiativen auf der Ebene von Gemeinschaften, "Communities", im ganzen Land. Die Projekte, die ausgewählt werden, erhalten drei Jahre lang ein Gesamtbudget von 180.000 Reais (umgerechnet ca. 78.000 Euro ), mit dem sie autonom Ausrüstung (Musikinstrumente, Computer, Aufnahmegeräte) anschaffen können, aber auch die Dienste von Fachleuten für Workshops und Kurse in Anspruch nehmen können. Mittlerweile gibt es schon mehr als 4.000 Kulturpunkte in 1122 Städten Brasiliens (Stand April 2010) und 8,4 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer nahmen laut dem Ministério da Cultura an den Veranstaltungen teil.

Fußnoten

  1. "Lebendige Kultur"

  2. "Pontos de Cultura"

Quellen


Education for all global monitoring report, UNESCO, 2011

Somos Voz. Iguales pero diferentes. Una Herramienta de Intervención Artistico Pedagocica, Fundación Crear Vale la Pena, Buenos Aires, 2007.

Olachea, Carmen, u. Engeli, Georg: Arte y Transformación Social: Saberes y Prácticas de Crear vale la pena, Crear vale la pena, Buenos Aires, 2007.

Mehnert, Antonia: "Building Bridges between Art and Society in Latin America. Latin American Network of Art for Social Transformation" in: Mapping Cultural Diversity. Good Practices from Around the Globe, German Commission for UNESCO (DUK)/ Asias-Europe Foundation, Bonn, 2010; S. 64-66.

Rodríguez, Marcos: La transformación del Estado chileno: El caso de la Reforma Educacional de los 90. Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. (FDCL), Berlin, 2005.

UNESCO: Externer Link: http://www.unesco.org/new/en/education/themes/leading-the-international-agenda/efareport/

Brasilianische Regierung: www.governo.brasileiro.gov.br

Ministério da Cultura: Externer Link: http://www.cultura.gov.br/site/

CreArte: www.crearte.cl

Crear vale la pena: www.crearvalelapena.org.ar

Red Latinoamericano de Arte para la Transformación Social (RLATS): www.artetransformador.net

Expedition Metropolis e.V.: www.expedition.metropolis.de

Fussnoten

Fußnoten

  1. 2000 wurde auf dem Weltbildungsforum im senegalesischen Dakar das Programm "Bildung für alle" (Education for all –EFA) vereinbart. Weltweit soll bis 2015 ein umfassender Zugang zu Bildungssystemen geschaffen werden.

  2. "Kinder sind Opfer von Armut, geographischer Isolierung, Konflikten und Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, der Sprache, der Behinderung oder einem schlechten Gesundheitszustand. Die verschiedenen nachteiligen Faktoren kommen oft zusammen und bilden einen Teufelskreis der Exklusion", Panoráma Regional: Amércia Latina y el Caribe. Education for all global monitoring report, UNESCO, 2010.

  3. "Wir sind Stimme. Gleich aber unterschiedlich"

  4. "Lateinamerikanisches Netzwerk der Kunst für die soziale Transformation"

  5. Mehnert, Antonia: "Building Briges between Art and Society in Latin America. Latin American Network of Art for Social Transformation" in: Mapping Cultural Diversity. Good Practices from Around the Globe, German Commission for UNESCO (DUK)/ Asias-Europe Foundation, Bonn, 2010; S. 64-66.

  6. "The members of RLATS uphold art as an generator for the active inclusion of the most vulnerable and excluded people in society." Ibid. S. 65

Lizenz

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Timo Berger ist Journalist und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen für renommierte deutsche Buchverlage. Er arbeitet für Medien in Lateinamerika (La Nación) und Deutschland (tageszeitung, KULTURAUSTAUSCH).