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Die Schlacht am Tegeler Weg. Ein 68er-Reenactment | Kulturelle Bildung | bpb.de

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Die Schlacht am Tegeler Weg. Ein 68er-Reenactment

Melanie Hinz

/ 8 Minuten zu lesen

Mit Theater als Zeitmaschine ins Jahr 1968 reisen: Über 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer ließen im Sommer 2010 die Ereignisse der Berliner Studentenrevolution in Hildesheim wieder aufleben. Die Geschichte von einst wurde in der Gegenwart und an den eigenen Körpern erfahrbar.

Geschichte machen – oder die künstlerische Praxis des Reenactments

"Wir alle sind heute hier hergekommen, weil wir die Studentenbewegung noch einmal erleben wollen. Wir wollen auch dabei gewesen sein als 1968 in Berlin die Welt verändert wurde, auch wenn uns irgendein Schicksalsschlag ins Hildesheim des Jahres 2010 verschlagen hat. Auch wir haben ein Recht, von der Geschichte nicht ausgeschlossen zu werden, Anteil zu nehmen an den Ereignissen von damals und dabei gewesen zu sein. Von 1968 lernen, heißt Glauben lernen. Wir aber machen nicht glauben, wir glauben ans Machen. Sie kriegen hier nichts vorgeführt, aber Sie können dabei gewesen sein. Hier können Sie Rudi Dutschke reden hören und Tomaten auf den SDS-Vorstand werfen. Aber keine Angst, Sie werden nichts tun müssen, was Sie

"Schlacht am Tegeler Weg. Ein 68er-Reenactment" (© Andreas Hartmann)

nicht ohnehin tun würden. Sie müssen sich nur einmal darauf einlassen, einmal aufhören immer nur alles zu kritisieren und kommentieren und stattdessen mal ernsthaft für eine Sache eintreten."

Mit diesen Worten schworen Ulf Otto und ich als Projektleitung der "Schlacht am Tegeler Weg. Ein 68er-Reenactment" in Agit-Prop-Manier 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf eine Zeitreise in die Jahre 1967/68 ein. Sie hatten sich an einem heißen Sommertag des Jahres 2010 auf einem Hubschrauberlandeplatz eines ehemaligen Hildesheimer Kasernengeländes versammelt, um die Studentenbewegung noch einmal zu erleben, die den meisten nur als medialer Mythos bekannt war.

Marx, Engels und Lenin auf dem Werbeplakat zum 68er Reenactment

Wir machten ihnen aber deutlich, dass sie selbst Verantwortung tragen müssten für das Gelingen der Studentenbewegung. "Der Glaube ans Machen" war keine Metapher, sondern bedeutete die gemeinsame erlebende und erinnernde Rekonstruktion der geschichtlichen Ereignisse. Doch wie sollte der von uns propagierte Time Warp mit den Mitteln von Theater, Partizipation und Performance umgesetzt werden, wenn doch an diesem, noch dazu militärischen, Ort aber auch gar nichts an 1968 erinnerte? Wenn wir selbst 1968 gar nicht dabei gewesen sein konnten? Wenn unser Habitus, unsere Art zu sprechen immer unsere Jetzt-Zeit verrät und wir auch keine Schauspieltechniken beherrschen, um Studenten und Studentinnen von 1968 zu verkörpern. War dieses Projekt nicht eine größenwahnsinnige Idee? Warum schaut man nicht lieber eine filmische Dokumentation mit historischen Originalaufnahmen?

Rückblickend stellt sich das Projekt hinsichtlich seines organisatorischen Aufwands als durchaus größenwahnsinnig dar: 50 Polizei-Uniformen aus der Polizeihistorischen Sammlung Niedersachsen und diversen Stadttheatern wurden herbeigeschafft, Straßen-Schilder, Demo-Plakate, Unmengen Pappmaché-Steine und 200 Schaumstoffschlagstöcke gebastelt, Feuerwehrmänner, Sanitäter und Sprengmeister rekrutiert, inklusive Feuerwehrauto und Krankenwagen. Ein Dutschke-Pullover wurde nach Originalstrickanleitung gestrickt. Piratensender wurden installiert, Sprengsätze gekauft und Schreckschusspistolen beschafft. Organisationsgeschick und eine detailgetreue Ausstattung bildeten aber die Voraussetzung für das Projekt. Doch die Mühe war es wert, denn die "Schlacht am Tegeler Weg. Ein 68er-Reenactment" leistete etwas, was keine Filmdokumentation, sondern nur Theater als Live-Situation hervorbringt: die Erfahrung und Reflexion von Geschichte am eigenen Leib.

Reenactement: Frankfurter Kaufhausbrand (© Andreas Hartmann)

Das Projekt

Ein Semester lang hatten wir zusammen mit 24 Studierenden im Rahmen des Projektsemesters 2010 der kulturwissenschaftlichen Studiengänge zum Thema "Glauben machen" der Universität Hildesheim das Projekt entwickelt. Wir wollten dem Glauben der 1968er an die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse nachspüren, deren revolutionärer Gestus vielen in unserer Projektgruppe fremd war. Der heutige Kampf um die Abschaffung von Studiengebühren und die vielen Spielfilme über Rudi Dutschke oder die RAF zeugen aber zugleich davon, dass die gesellschaftspolitische Tragweite des Umbruchjahres 1968 für uns als Töchter, Söhne und Enkelkinder der 1968er immer noch virulent ist. "Glauben machen", das Überthema des Projektsemesters, legten wir aber auch als künstlerische Strategie des Reenactments aus, bei der Theater zur Zeitmaschine wird.

"Die Schlacht am Tegeler Weg" war ein Open-Air-Spektakel, das ausgewählte, medial bekannte Ereignisse der Studentenbewegung im Zeitraffer chronologisch nachvollzog und nur ein einziges Mal zur Aufführung kam. Die Besucherinnen und Besucher des Reenactments wurden aktiv in die geschichtliche Rekonstruktion eingebunden und deshalb von uns als "Teilnehmerinnen und Teilnehmer" bezeichnet. Ausgerüstet mit Radios versorgte sie eine Moderatorin permanent mit Hintergrundinformationen über die geschichtlichen Ereignisse und lotste sie so über das ehemalige Kasernengelände. In der Konzeption, alle Teilnehmenden als Reenactors zu beteiligen und am Ende eine Schlacht nachzustellen, orientierten wir uns an Jeremy Dellers "Battle of Orgeave" (2001) und der Civil War Bewegung von Hobbyisten. Doch auch wenn uns diese Vorbilder eine erste Orientierung gaben, verstanden wir unsere Theaterarbeit als ein künstlerisch-theoretisches Forschungsprojekt. Wir wollten herausfinden: Welche Praktiken und Verfahren zeichnet das Reenactment als künstlerische Praxis aus?

Historische Rekonstruktion

Zunächst lässt sich festhalten: Ohne genaue historische Recherche ist kein Reenactment zu machen. Das unterscheidet es von anderen historischen Theaterformaten wie Historiendrama oder Dokumentartheater, weil es hier eben nicht darum geht, eine fiktive Erzählung innerhalb einer historischen Zeit szenisch neu zu erfinden oder eine subjektive Sichtweise auf ein historisches Ereignis zu vermitteln. So betrieben die Projektteilnehmenden am Anfang den Job von Historikerinnen und Historikern: Sie studierten Quellen, sammelten mediale Dokumente, fuhren ins APO-Archiv nach Berlin oder führten Zeitzeugeninterviews. Gegenstand ihrer Recherche waren verschiedene Ereignisse der Studentenbewegung - beginnend beim Attentat auf Benno Ohnesorg am 2.6.1967 bis zur Schlacht am Tegeler Weg am 4.11.1968, die für uns die historischen Eckpunkte des Reenactments von der Politisierung der Studentenbewegung bis zu ihrem Zersplittern markierten. Die zentrale Frage für die weitere Konzeption war: Welche Handlungen, Reden, Orte, Personen, Requisiten und Kostüme können wir aus den Dokumenten rekonstruieren?

Hildesheimer Studierende spielen den Tomatenwurf von Sigrid Rüger nach, der 1968 die Initialzündung zur Frauenbewegung wurde. (© Andreas Hartmann)

Nachstellen statt Darstellen

Doch anders als im Geschichtsunterricht ging es nun nicht darum, das gesammelte Wissen mittels eines Vortrags zu präsentieren, sondern es zur erlebbaren Anschauung zu bringen. Die Geschichte von einst sollte in der Gegenwart und an unseren eigenen Körpern erfahrbar werden. Die von uns ausgegebene künstlerische Devise lautete: Ein Reenactment stellt das historische Ereignis nicht dar, sondern nach. Damit warfen wir das gängige Theaterverständnis der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer über den Haufen: Geschickte dramaturgische Montage von Szenen, Schauspiel, kreative Interpretation und Verfremdungs-Effekte waren nun keine erforderlichen Kenntnisse. Stattdessen lauteten die Anforderungen für das Nachstellen der Ereignisse: historisch so korrekt wie möglich, partizipativ, materiell-konkret und taktil. Für unser Reenactment entschieden wir uns dabei nicht für ein Verfahren des Nachstellens wie beispielsweise das Choreographieren von Abläufen und Bewegungen der Schlacht am Tegeler Weg, sondern erprobten die Vielzahl der Möglichkeiten. Den Ausgangspunkt konnte beispielsweise ein historisches Foto bilden, zum Beispiel des SDS-Vorstands, der als "lebendes Tableau" nachgebaut wurde.

Rainer Langhans mit dem Darsteller Fritz Teufels (© Andreas Hartmann)

Es konnte aber auch eine markante Handlung durchgeführt werden, die das historische Geschehen prägte wie der Tomatenwurf von Sigrid Rüger gegen den überwiegend männlichen Vorstand des SDS, der zur Initialzündung der Frauenbewegung wurde. Doch auch die wiederholte Rede konnte zum Einsatz kommen. So wurden beispielsweise Protokolle des Gerichtsprozess gegen die Kommune 1-Mitglieder Fritz Teufel und Rainer Langhans, die wegen Flugblättern zur Brandstiftung angeklagt waren, von Teilnehmerinnen und Teilnehmern nachgesprochen, deren Textparts ihnen über Radio eingegeben wurden. Besonders war hierbei, dass der echte, beim Reenactment anwesende, Rainer Langhans mit weißer Haarpracht den jungen Rainer Langhans sprach und neben einem jungen Studenten saß, der Fritz Teufel mit Verve gab. In diesem Moment vermählten sich Gegenwart und Vergangenheit und die Generationen. Es stand die Frage nach der Authentizität der nachgestellten Geschichte Kopf: War der echte Rainer authentisch, weil er eine Reliquie der 1968er repräsentiert, oder war es die Jugendlichkeit des Studenten?

Rudi Dutschke Reenactment (© Andreas Hartmann)

Ein weiteres eindrückliches Erlebnis des Reenactments war die Rede von Rudi Dutschke – und dies bestätigten selbst Zeitzeugen, die den "echten" Rudi Dutschke noch aus ihren Studientagen kannten. Ein Projektteilnehmer organisierte sich einen Mitschnitt der Diskussion "Was ist Revolution" mit Ralf Dahrendorf und Rudolf Augstein und hörte auf seinem Mp3-Player selbst im Schlaf Dutschkes Rede und lernte über Wochen hinweg, dessen Sprechduktus genau zu imitieren. Am Tag des Reenactments saß der Student schließlich im selbstgestrickten Pullover, das lockige Haar geglättet, auf einem Podium zwischen zwei Teilnehmern. Sie hatten die Aufgabe, Dahrendorf und Augstein von einem Zettel abzulesen. Unser Dutschke-Double imitierte Mimik, Gestik und vor allem den Sprechgestus von Dutschke so virtuos, dass man nicht mehr wusste, ob gerade eine originale Toneinspielung lief. In diesem Augenblick des Reenactments stellte sich ein historischer Moment ein: hier und jetzt spricht also Rudi Dutschke. Die Figur Dutschke wurde nicht psychologisch erarbeitet, sondern ein medialer Ausschnitt von drei Minuten lieferte den Zugriff auf die historische Figur.

Nachstellen ist ein Akt der verkörpernden Bezugnahme zu einem mediatisierten historischen Dokument, das wir erinnernd wieder erkennen und damit beglaubigen. Nachstellen bildet die szenische Schleuse, um selbst Teil von historischen Bildern zu werden, um darüber deren Bedeutung kritisch reflektieren zu können, gerade bei einer Zeit wie 1968, die medial so ausgeschlachtet wurde.

Körperliche und kollektive Erfahrung von Geschichte

Auseinandersetzung Studierender mit Polizisten nach Attentat auf Rudi Dutschke, Reenactment (© Andreas Hartmann)

Die körperliche Aneignung historischer Bilder, Abläufe und Reden durch Verfahren des Nachstellens erfordert kein schauspielerisches Können und ermöglicht somit allen eine körperliche und reflektierte Erfahrung von Geschichte: Was bedeutet es für mich, eine Polizeiuniform von 1968 zu tragen? Wie verändert sich dadurch meine (Körper-) Haltung dem Geschehen gegenüber? Wie spreche ich heute eine feministische Rede von damals? Erkenne ich, wenn ich das spreche und höre, vielleicht Probleme wieder, die auch für mich heute noch Relevanz haben? Indem sich jede und jeder selbst als Handelnde/r während des Reenactments erfährt, entsteht ein politisches Bewusstsein für eine historische Zeit, aber auch für das Leben und die Tat der Gegenwart. Zugleich wird auch die Subjektivität von Geschichtsschreibung deutlich: Während des Reenactments hat jemand, der einen Polizisten mimte und mit Schlagknüppeln den Parolen der Demonstrierenden Einhalt gebot, eine andere Perspektive auf das Geschehen erhalten, als eine Teilnehmerin, die mit anderen Studierenden zusammen gegen die Front der Polizisten im Chor anschrie.

Manchmal mag die Spielfreude der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wie beim Live-Rollenspiel so groß gewesen sein, dass darüber in Vergessenheit geriet, dass wir uns gerade im Berlin der 1960er-Jahre "befinden". Dabei hat unser Reenactment aber zugleich eines geschafft: ein Gefühl von Gemeinschaft und "die Sehnsucht nach einem verbindenden Geist des Aktionismus" (Hildesheimer Allgemeine Zeitung in der Rezension des Reenactments) zu entfachen. Dass dies auch die 68er-Bewegung ausgemacht habe, diskutierte und bestätigte Rainer Langhans nach dem Reenactment in der Runde einer überwiegend jungen Generation von 20- bis 40-Jährigen. Sie war zusammengekommen, um den Utopien und Handlungen der 1968er nachzuspüren, aber nach vier Stunden Hitze und körperlicher Verausgabung zu merken: 1968 war kein Spaziergang. Und geredet wurde damals wahnsinnig viel. Aber man war dabei gewesen, an jenem Sommertag in Hildesheim, als Geschichte gemacht wurde.

Melanie Hinz, Diplom-Kulturwissenschaftlerin, seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Universität Hildesheim mit dem Schwerpunkt Genderforschung. Mit Ulf Otto leitete sie 2010 das Reenactment-Projekt "Die Schlacht am Tegeler Weg". Gründungsmitglied des Performance-Kollektivs "Fräulein Wunder AG", arbeitet als Performerin, Theaterpädagogin und Regisseurin.