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Kein Fortschritt ohne Bewegung Soviel Gender wie heute war noch nie

Claudia Neusüß Julia Chojecka Julia Chojecka und Claudia Neusüß

/ 7 Minuten zu lesen

Gender Mainstreaming ist eine politische Strategie, die auf die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Entscheidungsprozessen zielt. Dabei stehen neue Instrumente sowie klassische Frauenförderungsmaßnahmen zur Verfügung.

Gender Mainstreaming soll die Benachteiligungen von Frauen oder Männern in den Bereichen aufzuheben, in denen sie nicht chancengleich partizipieren können. (© Photocase/krockenmitte)

Gender - das Wort wird mittlerweile in den unterschiedlichsten Zusammenhängen benutzt. Gegendert werden Unternehmens-Strategien und Marketing-Konzepte, genauso wie Sprache und Gesetze (in Inhalt und Form). Es gilt: "Soviel Gender wie heute war noch nie." (Meuser /Neusüß 2004) Gender drängt in den Mainstream.

Die Bundesregierung Deutschland hat Gender-Mainstreaming bereits 1999 als Leitgedanken in das Regierungsprogramm aufgenommen. Eine treibende Kraft und ein wichtiges Referenzsystem für nationale Umsetzungsprozesse stellt die EU dar, welche 1997 im Amsterdamer Vertrag Gender Mainstreaming offiziell als verbindliche Richtlinie für alle Mitgliedsstaaten zum Ziel der EU-Politik gemacht hat.

Zwischen gleichstellungspolitischen Normen, ihrer öffentlichen Rhetorik und den jeweiligen gesellschaftlichen Praxen klafft jedoch nach wie vor eine große Lücke. Zahlreiche Frauen sind immer noch von Gewalt betroffen. Die Topetagen der Wirtschaft sind weitesgehend frauenfrei, Lohndiskriminierung und Vereinbarkeitsproblematik für Frauen Realität. Gleichzeitig steigt die Anzahl der Männer, die erzieherische und pflegerische Aufgaben übernehmen nur sehr langsam.

Gender Mainstreaming ist eine gleichstellungspolitische Strategie, an der sich Hoffnungen, Kritiken und Fragen aus verschiedenen Richtungen entzünden. Manche feministischen AkteurInnen und TheoretikerInnen fragen sich, ob das noch etwas mit Feminismus zu tun habe und vermissen dessen spezifischen Impetus einer grundlegenden und umfassenden Gesellschaftsveränderung. Andere wiederum vermuten, es handele sich bei Gender Mainstreaming um ein Konzept, das sich "Bürokraten in Brüssel" ausgedacht hätten und das allenfalls zu einer "Gleichstellung light" tauge. Viele hoffen aber auch, dass Gleichstellung endlich Breitenthema wird. Diese Hoffnung war bereits Triebkraft internationaler Frauenbewegungen, die das Thema auf die Politikagenda setzten, wo es Eingang in die Aktionsplattform der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking fand. Die Geschichte von Gender Mainstreaming ist also auch eine Geschichte sozialer Bewegungen.

Frauenbewegung

Die erste Frauenbewegung bildete sich im Kontext der europäischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts heraus. Während diese insbesondere den Kampf um den Zugang zu Bildung und politischer Teilhabe (Frauenwahlrecht) im Blick hatte, bezog die neue Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Kraft vor allem aus dem Kampf für sexuelle und reproduktive Freiheitsrechte und gleiche Teilhabechancen in allen Bereichen der Gesellschaft. Während diese zweite Phase organisierter Frauenbewegung in den USA u.a. im Zusammenhang mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung zu sehen ist, entstand sie in (West-)Deutschland aus der Studentenbewegung.

Feminismus

Der Begriff des Feminismus findet sich zunehmend seit Beginn des 20. Jahrhunderts, wo er synonym zu Frauenfrage und weiblichen Emanzipationsbestrebungen gebraucht wurde. Feminismus heute lässt sich sowohl als eine politische Bewegung wie auch als eine wissenschaftstheoretische und –kritische Strömung, die sich mit Macht, Dominanz und Herrschaftsverhältnissen auseinandersetzt, verstehen. Gegenwärtig finden wir sowohl auf begrifflicher Ebene als auch innerhalb des Selbstverständnisses unterschiedliche nationale und kulturelle Ausprägungen. Statt von dem einen Feminismus scheint es treffender von den Feminismen zu sprechen. Die verschiedenen Ausrichtungen (u.a. liberaler, marxistischer, autonomer, dekonstruktivistischer, Differenz- und Gleichheits-Feminismus) fußen auf heterogenen theoretischen Grundannahmen, haben aber als kleinsten gemeinsamen Nenner "Die vollständige Durchführung der Emanzipation der Frau" (Kluge). Vor allem im Zuge der zweiten Frauenbewegung und ihrem "Marsch durch die Institutionen" hat sich der Feminismus über die kritische Frauen- und später Geschlechterforschung universitär etabliert, zunehmend akademisiert und weiterentwickelt.

Gender

"Gender" bezieht sich dabei auf das soziokulturelle Geschlecht und wird – vor dem Hintergrund poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Theoriebildung – der Kategorie sex gegenübergestellt. In Opposition zu gender bezieht sich sex auf die (vermeintlich) natürliche, körperliche Geschlechtszugehörigkeit. Die begriffliche Differenzierung der beiden Kategorien zielt darauf ab, deutlich zu machen, dass Geschlecht und mit ihm einhergehende Vorstellungen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Fähigkeiten und Zuständigkeiten nicht qua Natur gegeben und damit unveränderbar sind, sondern auf gesellschaftlicher Gemachtheit gründen. Ein ähnlicher Gedanke wurde bereits von Simone de Beauvoir 1949 formuliert: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es."

Die mit dem Zweigeschlechtersystem einhergehende Hierarchisierung schlägt sich in Diskriminierung bzw. Privilegierung nieder, wenn beispielsweise bestimmte Kompetenzbereiche dem einen oder anderen Geschlecht zugeschrieben werden. Gender macht die Konstruiertheit dieser Strukturierung sichtbar. Es zeigt inwiefern Geschlecht als Platzanweiser sozialer Rollen fungiert und wie es in bipolarer und zugleich heteronormativer Ordnung Gesellschaften organisiert. Das Konzept des "doing gender" verweist zudem darauf, wie Geschlechtlichkeit bzw. Geschlechtszugehörigkeit alltäglich und von allen Gesellschaftsmitgliedern unter Rückgriff auf bestimmte Inszenierungspraktiken (re)produziert wird. Geschlecht wird dabei dramatisiert, indem nicht nur Verhalten, sondern auch Dinge und Tätigkeiten einer Vergeschlechtlichung unterzogen werden (Kleidung, Spielzeug, sogar Farben u.v.a.m). Was jedoch jeweils als männlich bzw. weiblich gilt, ist zeit- und kulturgebunden. Gender ist somit eine dynamische, der historischen Veränderung unterbundene, und eben nicht universell gültige, unveränderbare Kategorie. Seit den 90er Jahren erfährt die Differenzierung der beiden Begriffe eine Umdeutung. Es wird darauf verwiesen, dass auch die Kategorie sex ebensowenig als ahistorische, natürliche Größe betrachtet werden könne, da was als Natur gilt, stets auf Grundlage von Kultur definiert ist. Vor allem wissenschaftshistorische Forschungen belegen die erstaunliche Flexibilität vermeintlicher biologischer Fakten, zu denen auch die biologische Geschlechtsbestimmung gehört.

Geschlechterforschung

Der Geschlechterforschung dient Gender als Analyse-Kategorie. Die Grenzen zur Frauenforschung aus der sie in den 80er Jahren hervorgegangen ist, sind hierbei fließend. Im Unterschied zur Gender-Forschung wird in der Frauenforschung sex als Grundlagenkategorie betrachtet. In den Mittelpunkt gestellt werden vor allem die Lebenslagen von Frauen (bzw. in der Männerforschung, die von Männern). Im Vordergrund stand und steht vor allem die Kritik an einer vorgeblich geschlechtsneutralen, im Grunde aber androzentrischen, Wissenschaft, in welcher Forschung zwar über, aber nicht von Frauen betrieben wurde. Die Geschlechterforschung bzw. die Gender-Studies operieren im Gegensatz dazu weniger mit dem Begriff "Frau", als mit "Geschlechtlichkeit" und zum Beispiel der Frage wie Körper kodiert, interpretiert und naturalisiert werden und wie sich Gesellschaft längs dieser Zuschreibung normativ ausrichtet. Dazu gehört auch das Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, Leistungsbewertung und Entlohnung, die an spezifische Vorstellungen über Männlichkeit und Weiblichkeit geknüpft ist. Allen Forschungsansätzen (Frauen-, Männer-, Geschlechter-) ist aber die Frage gemein, wie sich ihre Ergebnisse auf politische und soziale Prozesse anwenden lassen. Hier setzt Gender-Mainstreaming an.

Gender Mainstreaming

Als politische Strategie zielt Gender Mainstreaming auf die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen politischen Entscheidungsprozessen. Dabei ist vorgesehen, dass bereits bei der Planung von Maßnahmen, bei der Entwicklung und Evaluierung von Entscheidungsprozessen und der (Re-)Organisation die Lebenslagen von Frauen und Männern berücksichtigt werden. Gender Mainstreaming zielt auf politische AkteurInnen, PolitikerInnen und (öffentliche) Institutionen, in denen gleichstellungspolitische Bestrebungen umgesetzt werden sollen. Über die genaueren Inhalte und Ziele muss jeweils spezifisch innerorganisationell verhandelt werden. Als Orientierung kann die Frage dienen, ob eine Maßnahme Geschlechterhierarchien verfestigt oder überwinden hilft.

Im Rahmen von Gender Mainstreaming kommen verschiedene Instrumente zum Einsatz. So hat Gender Budgeting die geschlechtergerechte Haushaltsplanung im Blick, das Gender Impact Assessment prüft u.a. die geschlechtsspezifischen Auswirkungen gesetzlicher Maßnahmen und Gender-Trainings sensibilisieren hinsichtlich geschlechtsspezifischer Zuschreibungspraktiken und bauen Gender-Kompetenz auf. Dabei verzichtet Gender Mainstreaming nicht auf erfolgreiche Instrumente klassischer Frauenförderung wie beispielsweise die Praxis der positiven Diskriminierung (Quote), das Mentoring und Networking. Konventionelle Frauenförderung und Gender Mainstreaming wirken damit im Sinne einer Doppelstrategie gemeinsam für Gleichstellung und mehr Geschlechterdemokratie. Der Ansatz der Geschlechterdemokratie macht die Vision geschlechterdemokratischer Verhältnisse zwischen allen Geschlechtern stark (wie etwa gleicher Zugang zu Ressourcen und eine ausgeglichene Repräsentation in Medien, Politik und Entscheidungspositionen). Befördert werden soll der Abbau "hegemonialer Männlichkeit" (Conell) als dominantes Strukturmuster (z.B. Normierung männlicher Karrieremuster).

Gender Mainstreaming fungiert als Querschnitts- bzw. Gemeinschaftsaufgabe, die alle Themen und Bereiche einer Organisation durchdringt, und nicht nur von speziellen Frauen- bzw. Gleichstellungsabteilungen vorangebracht wird.

Managing Diversity

In den letzten Jahren erhält darüber hinaus Managing Diversity nicht zuletzt durch die Anti-Diskriminierungspolitik der EU und das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetzt zunehmende Aufmerksamkeit. Bislang arbeiten vor allem international agierende Firmen der Privatwirtschaft (Dt. Bank, Telekom etc.) mit diesem Ansatz als Management- und Personalstrategie. Ihr Ziel ist die Wertschätzung und ökonomische Nutzung der "vielfachen Vielfalt." Verschiedene Differenzkategorien (wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Religion, körperliche Befähigungen, Klasse/Schicht etc.) und ihr Zusammenspiel werden in den Blick genommen, Diskriminierungen sollen abgebaut und Potenziale ausgelotet werden. An Diversität orientierte Unternehmen haben eine größere KundInnennnähe, erschließen neue Zielgruppen ("Gender bzw. Ethnomarketing") und sind dadurch erfolgreicher. Motivation und Leistungsfähigkeit sind höher, Kreativität und Innovationsfähigkeit größer, mehr talentierte MitarbeiterInnen können gefunden und gehalten werden und es kann aus einem größeren Pool möglicher LeistungsträgerInnen geschöpft werden. Diversity Management wird zunehmend auch von Verbänden und Nichtregierungsorganisation genutzt, die beispielsweise im Bereich (inter)kultureller Arbeit aktiv sind.

Die Feministische Frauen- und Geschlechterforschung greift den Aspekt unter dem Stichwort Intersektionalität in der jüngsten Zeit zunehmend auf. Die Kategorie Gender wird dabei auf ihre Wechselwirkung mit anderen Differenzkategorien untersucht.

Um Gender also sinnvoll und erfolgreich im Mainstream einzugliedern, Geschlechterhierachien zu überwinden und gleichzeitig der Komplexität individueller und sozialstrukturierter Lebenslagen gerecht zu werden, braucht es Bewegung auf allen Ebenen. Die EU als wichtige Akteurin für eine progressive Frauen- und Geschlechterpolitik ist hier genauso gefordert wie die einzelnen Mitgliedsstaaten und ihre nationalen Umsetzungsprozesse. Bewegung ist nicht zuletzt auch im Denken und Handeln aller Gesellschaftsmitglieder notwendig.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Claudia Neusüß, Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Selbstständige Projekt- und Politikberaterin für nationale und internationale Organisationen im Profit- und Non-Profit-Bereich, Dozentin und freie Autorin.

Julia Chojecka ist freie Mitarbeiterin im Büro von Claudia Neusüß und studiert Gender-Studies und Lingustik an der Humboldt Universität.