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Respekt und Zumutung bei der Begegnung von Schwulen/Lesben und Muslimen | Homosexualität | bpb.de

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Respekt und Zumutung bei der Begegnung von Schwulen/Lesben und Muslimen

Bernd Simon

/ 8 Minuten zu lesen

Nollendorfplatz in Berlin oder St. Georg in Hamburg: In Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Schwulen und Lesben leben oft auch viele Muslime. Das Zusammenleben gestaltet sich zunehmend schwierig. Die Konflikte reichen von Beschuldigungen bis zu gewalttätigen Angriffen.

Homosexualität ist in der islamischen Welt immer noch ein Tabuthema. (© AP)

Einleitung

Die Beziehung von Homosexualität und Religiosität ist eine problematische, zumindest aus der Perspektive der einflussreichsten abrahamitischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum). In jüngster Zeit richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf die problematische Beziehung von Homosexualität und muslimischer Religiosität, und zwar insbesondere immer dann, wenn sie sich in konfrontativen Auseinandersetzungen zwischen Schwulen und Lesben einerseits und meist jugendlichen männlichen Angehörigen der muslimischen Migranten-Community andererseits manifestiert.

Diese Auseinandersetzungen sind vor dem Hintergrund einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft zu deuten, in der Respektansprüche der einen von der anderen Seite häufig als Zumutung erlebt werden. Zentraler Bestandteil der jeweiligen Respektansprüche ist die Forderung nach Anerkennung als Gleiche(r) beziehungsweise nach Anerkennung der Gleichwertigkeit der eigenen Lebensweise, während Personen, die diese Lebensweise nicht teilen, die Ansprüche oft als Zumutung im Sinne einer irritierenden Konfrontation mit dem Anderen (Alterität) empfinden. [...]

Der vordergründige Konflikt

Im Vordergrund steht der insbesondere in deutschen Großstädten schwelende Konflikt zwischen Schwulen und Lesben auf der einen und Personen mit Migrationshintergrund - meist jungen Männern mit muslimischem (türkischem oder arabischem) Hintergrund - auf der anderen Seite. Sozialpsychologisch betrachtet lassen sich typische Kennzeichen eines Intergruppenkonflikts (Ingroup-Outgroup-Konflikts) beobachten. Diese reichen von wechselseitigen Stereotypisierungen und Abwertungen über gegenseitige Vorwürfe, Beschuldigungen und Drohungen bis zu gewalttätigen Angriffen. Allerdings sind meines Wissens bisher nur solche Gewalttätigkeiten dokumentiert, die von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gegen Schwule oder Lesben verübt wurden. Körperliche Gewalt von Schwulen oder Lesben gegen Personen mit Migrationshintergrund ist meiner Kenntnis nach bislang nicht belegt. Zu direkten Konfrontationen scheint es auch in solchen Quartieren zu kommen, die traditionell einen hohen Anteil schwul-lesbischer Wohnbevölkerung oder Besucher aufzuweisen haben und bisher als ausgesprochen schwulen- bzw. lesbenfreundlich galten (gay neighbourhoods), wie beispielsweise in Berlin im Quartier um den Nollendorfplatz. Solche Quartiere weisen häufig auch einen hohen und weiter wachsenden Anteil von Bewohnern mit muslimischem beziehungsweise Migrationshintergrund auf. Begegnungen zwischen Angehörigen der schwul-lesbischen Community und insbesondere heranwachsenden Angehörigen der muslimischen Migranten-Community sind daher unvermeidlich und werden aufgrund der demografischen Entwicklung in ihrer Häufigkeit künftig wohl eher zu- als abnehmen. Damit steigt auch das Konfliktpotenzial, insbesondere, wenn wechselseitige Stereotypisierungen und Abwertungen nicht gezähmt, sondern von Gruppenvertretern aus Gründen kurzsichtiger Klientelpolitik beziehungsweise zur Stabilisierung des eigenen Einflusses noch akzentuiert werden. Sofern beide Seiten danach streben, das jeweilige Quartier als "unser" Viertel zu reklamieren, wird sich dieser Intergruppenkonflikt lokal immer auch als Kampf um Plätze darstellen. Der Konflikt ist dann realistisch in dem Sinne, dass ihm eine reale Konkurrenz zwischen schwul-lesbischer Community und (muslimischer) Migranten-Community um Plätze als knappe Ressource und um die entsprechende Platzhoheit zugrunde liegt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung werden etablierte lokale Arrangements sowie entsprechende Dominanzstrukturen zunehmend in Frage gestellt. Neue Arrangements müssen zivilisiert, das heißt im Rahmen der demokratischen Zivilgesellschaft ausgehandelt, werden. In traditionell schwul-lesbischen Stadtvierteln wird die Einlösung von Teilhabeansprüchen, die von der Migranten-Community erhoben werden, die Einschränkung der bisherigen kulturellen Hegemonie der schwul-lesbischen Community erfordern. Umgekehrt stellen Teilhabeansprüche der schwul-lesbischen Community in bisher vorwiegend migrantisch geprägten Stadtvierteln die kulturelle Hegemonie der Migranten-Community in Frage. Auf Berlin bezogen könnte das beispielsweise bedeuten: mehr Respekt für Muslime rund um den Nollendorfplatz, aber auch mehr Respekt für Schwule und Lesben in Neukölln. [...]

Anerkennungskampf der schwul-lesbischen Community

Beim Kampf einer sozialen Gruppe um gesellschaftliche Anerkennung und Inklusion besteht die Verlockung, die eigene Anerkennung in Abgrenzung von anderen ausgegrenzten Gruppen - und damit auf deren Rücken und Kosten - erreichen zu wollen. Im Falle der Schwulen- und Lesbenbewegung entspräche dies beispielsweise dem Versuch, "Homophobie" durch "Islamophobie" ersetzen, den Teufel also mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Aus sozialpsychologischer Sicht ist es nicht auszuschließen, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Zuge einer kulturellen Abgrenzung gegen den Islam tatsächlich noch weiter in Richtung einer toleranten Einstellung zur Homosexualität bewegen ließe. Allerdings ist es ebenso wahrscheinlich, dass extreme Vertreter oder Gruppen der Mehrheitsgesellschaft dann versucht sein werden, sich ihrer vermeintlichen Toleranz gegenüber Homosexuellen als Keule gegen den Islam zu bedienen. Solchen Versuchen muss sich auch die Lesben- und Schwulenbewegung schon aus Eigeninteresse entgegenstemmen, trotz kurzfristiger realpolitischer Verlockungen, die möglicherweise lauern. Lesben und Schwule würden sich in der Gesellschaft des islamophoben Beelzebub nicht lange wohl fühlen. Sie würden dort nicht lange unbehelligt bleiben, da der Abgrenzung nach außen meist sehr bald die "Säuberung" im Inneren folgt.

Anerkennungskampf der muslimischen Migranten-Community

Minderheiten haben ein gutes Gespür für die gesellschaftlich vorherrschende Macht- und Statushierarchie, einschließlich der Hierarchie sozialer Gruppen. Der muslimischen Migranten-Community werden daher die in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiterhin herrschenden Ressentiments gegenüber Lesben und Schwulen sowie deren immer noch unvollständige Gleichberechtigung und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung nicht verborgen geblieben sein. Diese Defizite und Widersprüchlichkeiten in der Mehrheitsgesellschaft suggerieren der Migranten-Community möglicherweise die verführerische Option, die eigene Anerkennung in Abgrenzung und damit auf dem Rücken von Lesben und Schwulen erreichen zu können. Dieser Verlockung nachzugeben und danach zu streben, "Islamophobie" durch "Homophobie" zu ersetzen, wäre eine weitere Variante des Versuchs, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen.

Aus zivilgesellschaftlicher Perspektive sind der Anerkennungskampf der schwul-lesbischen Community und der Anerkennungskampf der muslimischen Migranten-Community gleichermaßen legitim, und auch aus sozialpsychologischer Perspektive sind beide Anerkennungskämpfe spiegelbildlich angelegt. Beide Gruppen kämpfen als Minderheit teilweise parallel, teilweise gegeneinander um die Anerkennung (in) der Mehrheitsgesellschaft. Die öffentliche Existenz dieser Gruppen ist jeweils ein Politikum, auch wenn die Angehörigen der beiden Gruppen in ihrer Mehrzahl sicherlich nicht durchgängig politisiert sind. Gleichzeitig muss sowohl die schwul-lesbische Community als auch die muslimische Migranten-Community wachsam sein gegenüber einer möglichen Funktionalisierung bzw. Instrumentalisierung ihrer jeweiligen Anerkennungskämpfe durch Dritte, etwa durch alte oder aufsteigende Macht- und Statuseliten.

Auseinandersetzung zwischen Etablierten und Außenseitern beziehungsweise Gewinnern und Verlierern

Ebenso wie die schwul-lesbische Community und die muslimische Migranten-Community Verlockungen erliegen können, Ressentiments entlang gesellschaftlicher Bruchlinien zugunsten ihrer eigenen Anerkennungskämpfe zu mobilisieren und zu instrumentalisieren, sind andere gesellschaftliche Gruppen versucht, den vordergründigen Konflikt zwischen diesen beiden Communities in ihrem Sinne zu funktionalisieren. So könnten etablierte sozial-kulturelle oder ökonomische Status- und Machteliten - analog zum gelegentlich beobachtbaren, allerdings nicht immer glaubwürdigen Eintreten konservativer christlicher Kreise für die Rechte der Frau - versucht sein, ihr Herz für Schwule und Lesben zu entdecken, (nur) um dann unter Hinweis auf die vermeintliche Homophobie der muslimischen Migranten deren Ausschluss zu legitimieren und zementieren. Schwule und Lesben würden dann mehr oder weniger freiwillig zum Instrument und Symbol dieses sozial-kulturellen und/oder ökonomischen Ausschlussprozesses und damit auch zum Angriffspunkt für die Gegenwehr der muslimischen Migranten. Der vordergründige Konflikt zwischen der schwul-lesbischen Community und der muslimischen Migranten-Community wäre dann auch als Stellvertreterkonflikt zu begreifen, der Züge eines Klassenkampfes trägt. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass man innerhalb der muslimischen Migranten-Community stärker als in der Mehrheitsgesellschaft davon ausgeht, "Schwule/Lesben glaub[t]en oft, sie wären etwas Besseres".[1] Schwule und Lesben werden also auf der Seite der Gewinner verortet, während man sich selbst als Angehöriger der muslimischen Migranten-Community eher auf der Seite der Benachteiligten und Verlierer sieht. In die gleiche Richtung weist der Slogan "Hauptschule ist cool, Abitur ist schwul", der bei jugendlichen Hauptschülern aus der muslimischen Migranten-Community (und nicht nur dort) offensichtlich große Resonanz findet.[2] Was den traurigen Charme dieses Slogans ausmacht, ist die Verbindung aus Realitätssinn und Verzweiflung, Klassenbewusstsein und Aufbegehren, aber auch Ressentiment und Blickverengung.

In dem Maße also, in dem sich Schwule und Lesben auf die Seite der Erfolgreichen und Etablierten schlagen oder sich auch nur entsprechend darstellen ("Wir sind Außenminister!"), laufen sie Gefahr, in den Sog des stellvertretenden Klassenkampfes zu geraten. Andererseits ist Konsum- und Statusorientierung sowie der Wunsch, zu den Reichen und Schönen zu gehören, sicherlich nicht das Privileg von Schwulen und Lesben, sondern Ziel, oder auch Mittel, vieler Minderheiten, die nach gesellschaftlicher Anerkennung streben. Hier gleichen und vergleichen sich Schwule/Lesben und Muslime mit Migrationshintergrund vielleicht mehr, als es beide Seiten wahrhaben wollen. Was dem einen sein Mercedes SLK, ist dem anderen sein 3er-BMW: The race is on!

Aufeinandertreffen von Modernität und Traditionalismus

Der vordergründige Konflikt zwischen der schwul-lesbischen Community und der muslimischen Migranten-Community exemplifiziert das konfliktträchtige Aufeinandertreffen von Modernität und Traditionalismus. Wenngleich die (Binnen)Homogenität der beiden Communities nicht überschätzt werden darf, so verkörpern sie doch unleugbar unterschiedliche, zumindest partiell gegensätzliche Lebensentwürfe, die sich den gegensätzlichen Polen des Modernität-Traditionalismus-Spektrums annähern. Die schwul-lesbische Community steht dabei eher für eine (post)moderne, libertäre und individualistische Orientierung, die muslimische Migranten-Community eher für eine traditionalistische, autoritäre und kollektivistische. Der Konflikt trägt damit Züge, die exemplarisch auf die Forderungen nach Anerkennung, Respekt, Wertschätzung und Partizipation sowie die entsprechenden Integrationsherausforderungen verweisen, denen sich jede (post)moderne, liberale und offene Gesellschaft stellen muss.[3] Das Aufeinandertreffen der Anerkennungskämpfe der beiden Communities exemplifiziert allerdings nicht nur einen "einfachen" Differenz-Konflikt im Sinne einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen, sondern auch einen Konflikt des Ungleichzeitigen im Sinne einer Konfrontation von Modernität und Tradition(alismus). Dieses Aufeinandertreffen ist damit in besonderem Maße eine exemplarische Herausforderung für die (post)moderne Gesellschaft, die ihren Mitgliedern generell weder die Zumutung von Differenz noch die Zumutung von Ungleichzeitigkeit ersparen kann.

Gerade eine solche Gesellschaft findet aber ihre Berechtigung und Identität in der konstruktiven Bewältigung dieser Herausforderung. Zu welchen gesellschaftlichen Arrangements dies letztendlich führt, darf und muss zunächst offen bleiben. Diese Arrangements, genauso wie die Wege, die auf der Suche nach ihnen beschritten werden, müssen sich aber stets in einem Rahmen bewegen, der von freiheitlich demokratischen und rechtsstaatlichen Grundprinzipien abgesteckt wird. [...]

Was tun? Ein optimistischer Ausblick

Es ist davon auszugehen, dass sich Schwule und Lesben auf der einen Seite und muslimische Migranten und ihre Nachkommen auf der anderen noch lange eine gegenseitige Zumutung sein werden. Beide Gruppen können eine exemplarische Leistung erbringen, indem sie zunächst diese Zumutungen zumindest mit wechselseitigem Respekt aushalten.

Die Begegnung oder auch Konfrontation mit respektwürdiger Alterität, sei es in Gestalt von Schwulen und Lesben oder in Gestalt von Muslimen, ist nicht nur eine unvermeidliche, sondern auch eine zumutbare Zumutung in unserer offenen, pluralen Gesellschaft. Diese gilt es auszuhalten, wenngleich dies nicht bedeutet, dass man dem anderen immer und überall alles zumuten muss. Freiwilliges und gelassenes Sich-Zurücknehmen als Bestandteil einer respektvollen Haltung gegenüber dem Anderen mindert nicht den Selbst-Respekt. Auch nicht unterschätzt werden sollte der simple Gewöhnungseffekt. "Große Freiheit" bedeutet eben auch: Beim ersten Mal, da tut's noch weh, da glaubt man noch, dass man es nie verwinden kann, dann geht die Zeit, und peu à peu gewöhnt man sich daran. [4] In ähnlicher Weise bringt es ein Slogan der nordamerikanischen Schwulen- und Lesbenbewegung auf den Punkt: We are here, we are queer, get used to it! [...]

Der hier veröffentlichte Artikel ist eine gekürzte Fassung der Original-Version in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 15-16/2010)

  1. Vgl. Bernd Simon, Einstellungen zur Homosexualität: Ausprägungen und psychologische Korrelate bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund (ehemalige UdSSR und Türkei), in: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 40 (2008) 2, S. 87-99.

  2. Vgl. Jürgen Becker, Spielt doch mit den Schmuddelkindern, in: Wir haben sie gefragt... Diskriminierungserfahrungen von Kölner Schüler/innen im Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung, online: www.noemat.de/Oegg_Caritas/Studie_ADB_ Caritas_final_druck.pdf (15.2.2010).

  3. Vgl. Nancy Fraser/Axel Honneth, Redistribution or recognition?, London-New York 2003.

  4. Davon wusste schon Hans Albers in Helmut Käutners Spielfilm "Große Freiheit Nr. 7" (1944) ein Lied zu singen.Davon wusste schon Hans Albers in Helmut Käutners Spielfilm "Große Freiheit Nr. 7" (1944) ein Lied zu singen.

Fussnoten

Bernd Simon, geboren 1960, ist Professor für Sozialpsychologie und Politische Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.