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Diffamierung und Emanzipation | "Call Me Kuchu" | bpb.de

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Diffamierung und Emanzipation Eine kurze Geschichte der Homosexualität im Film

Axel Schock

/ 8 Minuten zu lesen

Ein schwuler Außenminister oder eine lesbische Bürgermeisterin wären vor 50 Jahren kaum denkbar gewesen. Ein homosexueller Held einer Blockbuster-Produktion ebenso wenig. Viele Jahrzehnte waren Schwule und Lesben im Kino kaum sichtbar. Und wenn, konnten sie sich über die Art und Weise der Darstellung kaum freuen, reduzierte sich ihr Bild auf der Leinwand doch auf tragische Gestalten, mordende Psychopathen und unmoralische Triebwesen. Für eine vorurteilsfreiere Darstellung der Lebenswirklichkeit mussten lange Zeit lesbische und schwule Filmschaffende überwiegend selbst sorgen.

Ein Sinnbild für Toleranz und gegenseitigen Respekt, auch gegenüber sexuellen Minderheiten: David Katos Regenbogenfahne aus "Call Me Kuchu" (© Katherine Fairfax Wright)

Nach heutigem Ermessen ist es eine völlig harmlose Szene. Doch die auf einem schwulen Faschingsball Walzer tanzenden Männer lösten bei der Uraufführung im Mai 1919 einen wahren Tumult aus. Einige der anwesenden Damen in dem Berliner Kinosaal schrien vor Entsetzen laut auf.

Dass Richards Oswalts "Anders als die Anderen" (Deutschland 1919) bald darauf nicht mehr öffentlich gezeigt werden durfte, lag allerdings vor allem an der im Film unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte Haltung gegen den Anti-Schwulen-Paragrafen 175. Das Drama um einen Violinisten, der wegen seiner Homosexualität erpresst und in den Freitod getriebenen wird, durfte danach lediglich Fachpublikum – also Polizeikommissaren, Psychiatern und Ärzten in Irrenanstalten – gezeigt werden. Im Sommer 1920 wurde der Stummfilm schließlich komplett verboten, sämtliche Kopien ließ man vernichten.

"Anders als die Anderen", entstanden in Zusammenarbeit mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, war eine einmalige Ausnahmeerscheinung. So fortschrittlich sollte man Schwule für lange Zeit nicht mehr auf der Leinwand gezeigt bekommen. Auch Leontine Sagans "Mädchen in Uniform" (Deutschland 1931) über die Liebe einer Internatschülerin zu ihrer Lehrerin war nur in der liberalen Phase der Weimarer Republik denkbar.

Selbstzensur der Filmindustrie

Erst 1961 markierte die britische Produktion "Im Teufelskreis" (Regie: Basil Dearden) einen weiteren Meilenstein innerhalb der schwulen Filmgeschichte. Entstanden zu einer Zeit, als in Großbritannien männliche Homosexualität noch unter harter Strafe stand, plädierte über 40 Jahre nach "Anders als die Anderen" wieder ein kommerzieller Spielfilm für die Akzeptanz von Homosexuellen. In den USA konnte der Film deshalb zunächst gar nicht gezeigt werden.

Denn während in Europa bis in die späten 1960er-Jahre hinein Schwule und Lesben fast ausnahmslos negativ gezeichnet wurden, existierten sie im Hollywood-Kino nicht einmal. Allenfalls sehr vage Anspielungen waren möglich.

Grund dafür war der sogenannte "Hays-Code". Um staatlichen Repressionen gegen den sündigen Hollywood-Film zuvorzukommen, hatte sich 1922 die US-amerikanische Filmindustrie zur Selbstzensur entschlossen und unter anderem auch Darstellungen "gleichgeschlechtlicher Perversionen" untersagt. Ab 1961 durften solche sexuellen "Abartigkeiten" dann zwar gezeigt werden – allerdings nur, wenn "Vorsicht, Diskretion und Zurückhaltung" geübt und Homosexualität als nicht erstrebenswert gezeigt wurde. Schwule und lesbische Figuren waren daher ausnahmslos bedauernswerte Geschöpfe, die im kriminellen Milieu, Freitod oder als Opfer von Verbrechen endeten.

Avantgarde und Underground

Erst die Underground-Subkultur der 1960er-Jahre und schwule Experimentalfilmer wie Kenneth Anger ("Scorpio Rising", USA 1963), Andy Warhol ("Flesh", USA 1968) und James Bidgood ("Pink Narcissus", USA 1971) kümmerten diese Vorgaben nicht mehr.

Die gesellschaftspolitischen Veränderungen im Zuge der 1968er-Revolution und des New Yorker Stonewall-Aufstandes (1969), der Initialzündung zur politischen Homosexuellenbewegung, brachten schließlich auch die ersten Regisseure mit homoaktivistischem Hintergrund hervor. In Deutschland drehte Rosa von Praunheim seinen agitatorischen Streifen "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt" (BRD 1971). In den USA adaptierte William Friedkin das 1968 uraufgeführte Broadwaystück "Boys in the Band" fürs Kino und schuf so mit "Die Harten und die Zarten" (1970) den ersten Film mit ausschließlich schwulen Charakteren. In den späten 1970er- und in den 1980er-Jahren prägten eine ganze Riege schwuler Regisseure das zeitgenössische Autorenkino und widmeten sich dabei auch homosexuellen Themen: Rainer Werner Fassbinder drehte "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" (BRD 1971), "Faustrecht der Freiheit" (BRD 1975) und "Querelle" (BRD 1982) und Derek Jarman provozierte mit seinem experimentellen Heiligenfilm "Sebastiane" (Großbritannien 1976). Der Spanier Pedro Almodóvar gewann 1988 mit "Das Gesetz der Begierde" den ersten Teddy Award, den lesbisch-schwulen Filmpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin, und das junge britische Kino überraschte mit Filmen wie "Another Country" (1984, Regie: Marek Kanievska), "Mein wunderbarer Waschsalon" (1985, Regie: Stephen Frears) und "Maurice" (1987, Regie: James Ivory).

Ausgerechnet am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, feiert in Ost-Berlin mit Heiner Carows "Coming out" die einzige DEFA-Kinoproduktion Premiere, die sich mit den Problemen schwuler Männer in der DDR auseinandersetzte. Gleichzeitig machte sich eine junge Generation von Filmemacherinnen daran, gegen das bislang im Kino vorherrschende Bild der lesbischen Frau zu rebellieren, wie es vor allem im Bereich des sogenannten Sexploitation-Genrekinos Popularität erlangt hatte. Beispielhaft verwiesen sei hier etwa auf die exemplarischen Darstellungen einer sexlüsternen Blutsaugerin oder einer sadistischen Gefängnisaufseherin in Filmen des spanischen Regisseurs Jess Franco ("Vampiros Lesbos", 1970, bzw. "Barbed Wire Dolls – Frauengefängnis", 1975).

Alexandra von Grote unternahm einen entsprechenden Versuch der Neuverortung mit ihrem realistischen Beziehungsdrama "Weggehen um anzukommen" (BRD 1981), ferner mit "Novembermond" (BRD 1984), einem Film über die Liebe einer Pariser Jüdin zu einer vermeintlichen Nazikollaborateurin. Im Gegensatz dazu inszenierte Ulrike Ottinger die grellen Szenerien ihres experimentellen Frauenfilms "Madame X – Eine absolute Herrscherin" (BRD 1977). Monika Treut wiederum lotete in Filmen wie "Verführung: Die Grausame Frau" (BRD 1985) und "Die Jungfrauenmaschine" (BRD 1988) bislang tabuisierte Bereiche lesbischer Sexualität wie S/M-Beziehungen und Prostitution aus.

Die Erfolgswelle des "New Queer Cinema"

So vielfältig und ambitioniert man sich dem Thema inzwischen widmete, glaubte man doch, die Homosexualität immer noch erklären oder gar entschuldigten zu müssten. Das sollte sich mit dem "New Queer Cinema" ändern. Unter diesem Begriff hatte die US-Filmkritikerin Ruby B. Rich 1992 eine Reihe anglo-amerikanischer Independent-Produktionen zusammengefasst, die innerhalb eines kurzen Zeitraums entstanden waren. "Paris is Burning" (1990) von Jennie Livingston gehörte ebenso dazu wie Isaac Juliens "Young Soul Rebels" (1991), Derek Jarmans "Edward II" (1991), Gus Van Sants "My Private Idaho – Das Ende der Unschuld" (1991) und "Poison" (1991) von Todd Haynes.

Innerhalb weniger Jahre erlebte das lesbisch-schwule Kino eine bis dahin einmalige kreative Blüte. Diese Filme, durchgehend unabhängig finanziert, sollten die Zuschauer nicht eigens für die besondere Lebensweise sensibilisieren, vielmehr konfrontierten sie selbstbewusst hetero- wie homosexuelle Zuschauer mit bisweilen radikalen Bildern. Sie verbanden die schwule Ästhetik, wie sie beispielsweise von europäischen Filmemachern wie Pier Paolo Pasolini, Fassbinder oder Werner Schroeter in den 1970er-Jahren entwickelt worden war, mit dem Furor der durch die Aids-Krise und Aktionsgruppen wie ACT UP politisierten Generation.

Das "New Queer Cinema" sorgte für eine Aufbruchsstimmung in der queeren Filmszene und legte den Grundstein für eine starke Ausdifferenzierung. Die meisten dieser Indie-Produktionen blieben jedoch Nischen-Produkte und erreichten ihr Publikum lediglich auf Festivals; bis heute werden viele gefällige Liebes- und Coming-out-Geschichten ohnehin nur für den DVD-Markt produziert.

Queeres Kino weltweit

Wirkliche Überraschungen, formal-ästhetisch wie erzählerisch, waren in den vergangenen Jahren vor allem bei Filmen aus Ländern zu erleben, in denen der Kampf um die Akzeptanz queerer Lebensweisen gerade erst begonnen hat beziehungsweise der öffentlichen Auseinandersetzung mit sexueller Identität noch eine existentielle Bedeutung zukommt. Dies betrifft vor allem Filme aus Südamerika, wie etwa "Raging Sun, Raging Sky" ("Rabioso sol, rabioso cielo", 2009), inszeniert vom zweifachen mexikanischen Teddy-Award-Gewinner Julián Hernández. Weitere erwähnenswerte Produktionen stammen aus Argentinien: Diego Lermans "Tan de repente" ("Suddenly", 2002), "La León" (2007, Regie: Santiago Otheguy) und Lucia Puenzos "Das Fischkind" ("El niño pez", 2009).

Mal ist es die Bildgewalt der jeweiligen Filme, die das Publikum einnimmt (wie die des Aufstiegs eines transsexuellen Kickboxmeisters in "Beautiful Boxer", Thailand 2004), mal überdrehte wahre Geschichten wie jene über eine siegreiche schwule Volleyballmannschaft in "Satre leek" ("Iron Ladies", Thailand 2000).

Filme mit queerem Bezug verweigern häufig herkömmliche Erzählstrukturen wie Chen Hung-Is "Candy Rain" (Taiwan 2008) oder Apichatpong Weerasethakuls "Tropical Malady" (Thailand 2004). Gelegentlich verzichten sie komplett auf Dialoge wie "Solos" (2007, Regie: Zihan Loo, Kan Lume), der erste schwule Film aus Singapur. Oder sie verstören die Zuschauer durch lange Kameraeinstellungen und die Sprachlosigkeit ihrer Figuren – als Beispiel kann hier Tsai Ming-liangs Meisterwerk "The River" (Taiwan 1997) gelten.

Chinesische Produktionen wie "Fish & Elephant" (2001) von Li Yu oder "Spring Fever" (2009) von Lou Ye wiederum entwickeln eine politische Brisanz allein dadurch, das sie, die staatlichen Zensurmaßnahmen missachtend, überhaupt entstehen und so lesbisch-schwules Leben im eigenen Land darstellen konnten.

In vielen afrikanischen beziehungsweise muslimisch geprägten Ländern sind solche Filmprojekte derzeit kaum vorstellbar. Auch in den ehemaligen Ostblock-Staaten schlugen sich die politischen Um- und Aufbrüche der späten 1980er- und 1990er-Jahre bislang kaum in einer Liberalisierung des lesbisch-schwulen Kinos nieder. In Ländern wie Polen, Ukraine und Russland macht die wachsende, häufig auch politisch gewollte Homophobie queere Produktionen sogar nahezu unmöglich. Der polnische Low-Budget-Film "Homo Father" (2005) über ein schwules Paar mit Kind oder die lesbische Coming-out-Romanze "Legaturi Bolnavicioase" ("Love Sick", 2006) aus Rumänien sind seltene Ausnahmen.

Herauszuheben ist die grelle satirische Komödie "Parada" (Serbien 2011), die in den Ländern Ex-Jugoslawiens zum Publikumserfolg avancierte. Die gewalttätigen Ausschreitungen anlässlich der Gay-Pride-Parade 2010 in Belgrad nimmt sie zum Anlass, um sich über Vorurteile gegen Homosexuelle sowie über die ethischen Konflikte innerhalb der Balkanregion lustig zu machen.

Zur Hauptfigur in einem Mainstream-Film taugten Schwule und Lesben weiterhin vor allem dann, wenn sie vorherrschende Klischees erfüllten, etwa für Travestiespaß sorgten ("The Birdcage – Ein Paradies für schrille Vögel", USA 1996, Regie: Mike Nichols) oder am Ende einen dramatischen Tod starben ("Boys Don’t Cry", USA 1999, Regie: Kimberly Pierce). Noch heute scheinen viele Produzenten zu befürchten, dass Schwule und Lesben, die auf der Leinwand allzu menschlich als liebende und sexuelle Wesen gezeigt werden, ein konservatives Publikum befremden oder gar verstören könnten. Deshalb wurden beispielsweise aus dem Aidsdrama "Philadelphia" (USA 1993, Regie: Jonathan Demme) sämtliche ansatzweise innig-intimen Momente zwischen dem von Antonio Banderas und Tom Hanks gespielten Schwulenpaar herausgeschnitten. Regisseur Marco Kreuzpaintner hingegen konnte die Liebesszenen in "Sommersturm" (2004), dem ersten, auf ein breites Publikum zielenden deutschen Coming-out-Film, durch lange Diskussionen mit seinen Produzenten vor diesem Schicksal bewahren.

Bei der Uraufführung seines Beziehungsdramas "Drei" (Deutschland 2010) auf dem Filmfestival von Venedig musste Tom Tykwer erleben, wie männliche Zuschauer während der schwulen Sexszenen den Saal verließen. "Ich glaube, dass schwuler Sex oder schwule Liebe im Kino zwar recht etabliert, in den meisten Fällen aber eher in einem exotischen Kontext untergebracht sind. Der heterosexuelle Kinozuschauer kann sich vor diesen Figuren ohne Anstrengung auf eine gesunde Distanz bringen", erklärte sich der Regisseur diese für ihn überraschende Zuschauerreaktion.

Diffizile Besetzungspolitik

"Brokeback Mountain" (USA / Kanada 2005, Regie: Ang Lee), die tragische Liebesgeschichte zweier Cowboys, wurde nach Ansicht des US-Medienwissenschaftlers Larry Gross nur deshalb auch zum Kassenerfolg, weil in der Presseberichterstattung darauf hingewiesen wurde, dass es bei dem Film eigentlich nicht speziell um die Liebe zwischen Männern, sondern um das universelle Thema Liebe an sich ginge. Zudem sei auch immer wieder herausgehoben worden, dass die Küsse letztlich nur gespielt seien, von bekanntermaßen heterosexuellen Schauspielern.

Diese Besetzungspolitik liegt auch all jenen neueren Big-Budget-Projekten mit entsprechend breitem Zielpublikum zugrunde, etwa Gus Van Sants "Milk" (USA 2008) mit Sean Pean als schwulem Bürgerrechtler, "A Single Man" (USA 2009, Regie: Tom Ford) mit Colin Firth oder der lesbischen Familienkomödie "The Kids Are All Right" (USA 2010, Regie: Lisa Cholodenko) mit Annette Bening und Julianne Moore.

Entgegen der allenthalben wiederholten Prophezeiung können heterosexuelle Darsteller somit sehr wohl homosexuelle Charakter spielen, ohne sich damit ihre Karriere zu ruinieren. Im besten Falle wird diese "schauspielerischen Herausforderung" sogar mit Filmpreisen bedacht. Schwulen Schauspielern allerdings, wie beispielsweise Rupert Everett, wird im Gegenzug selten zugetraut, dass sie auch überzeugend heterosexuelle Figuren spielen können. Was ihre Vorurteile und Vorbehalte angeht, hinkt die Filmindustrie der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung auch weiterhin hinterher.

Fussnoten

Axel Schock, Journalist und Publizist in Berlin, schreibt schwerpunktmäßig über Film und Kultur, Aids und Gesundheitspolitik sowie zu schwul-lesbischen Themen. Gemeinsam mit Manuela Kay veröffentlichte er das Nachschlagewerk "Out im Kino. Das lesbisch-schwule Filmlexikon".